Ausgabe: Sonderausgabe 2020/2020
Einige Bedenken (eine Schwächung der NATO und ihrer Rolle in Mittelosteuropa) stellten sich als übertrieben oder unbegründet heraus. Andere wurden bestätigt, etwa die Relativierung internationaler Organisationen und Abkommen. Die als konfrontativ und unberechenbar wahrgenommene Haltung der USA führt auch bei überzeugten Transatlantikern zu großer Ernüchterung. Sinnbildlich dafür waren die Worte des damaligen Präsidenten des Europäischen Rats, Donald Tusk, im Mai 2018: „Mit Freunden wie diesen, wer braucht da Feinde?“
Diese Ernüchterung ist nicht überall gleich stark, gerade in Polen und auf dem Baltikum gelten die USA weiterhin als zuverlässiger Sicherheitsgarant. Nach Umfragen ist in der Öffentlichkeit das Misstrauen gegenüber den USA vor allem in Westeuropa, den skandinavischen Ländern und auf der iberischen Halbinsel ausgeprägt, weniger in den 2004 und 2007 beigetretenen Ländern Mittelosteuropas.
Auf wenig Verständnis trifft in der EU die Schwächung internationaler Organisationen wie der Welthandelsorganisation (WTO) oder der Weltgesundheitsorganisation (WHO) durch die USA. Die EU vertritt einen tendenziell anderen Ansatz gegenüber dem Multilateralismus: Zwar sehen USA wie EU problematische Entwicklungen, u. a. den wachsenden internationalen Einfluss Chinas auch in internationalen Organisationen, mit Sorge. Aber während die USA unter Trump letztere als Konsequenz lahmlegen oder ihnen den Rücken kehren, neigen die Europäer dazu, Probleme lieber informell anzusprechen, nach Kompromissen zu suchen und globale Foren letztlich zu stützen. Des Weiteren versucht die EU alternative Allianzen zu bilden, u. a. in der WTO, im Bereich der Globalen Gesundheit oder in der Klimapolitik, teils mit Einbezug Chinas. Multilateralismus gilt vielen in der EU als Wert per se, die von Deutschland und Frankreich initiierte Allianz für den Multilateralismus deutet auch in diese Richtung.
Die Bilanz dieser europäischen Reaktion ist gemischt: In einigen Streitfragen (Handelspolitik) gelang es, die Reihen zu schließen oder alternative Allianzen zu schmieden, in anderen Bereichen (Strategie gegenüber China, Aufwertung des sicherheitspolitischen Engagements, Lösung schwelender Konflikte in der EU-Nachbarschaft) zeigen sich (noch) die Grenzen der Träume von „europäischer strategischer Autonomie“. Während die EU bei vielen sogenannten soft power-Themen, wie etwa Globaler Gesundheit, Führungsqualitäten zeigt, bleibt die Asymmetrie zwischen beiden Partnern bei hard power-Themen bestehen. Auch wenn die seit 2016 unternommenen sicherheitspolitischen Bemühungen der EU besser sind als ihr Ruf, so scheint es insbesondere angesichts der COVID-19-bedingten wirtschaftlichen Krise wenig wahrscheinlich, dass sich an dieser ungleichen sicherheitspolitischen Lastenverteilung und damit einem zentralen Streitpunkt in den Beziehungen beider Seiten etwas ändern wird – noch mehr nach dem EU-Austritt des Vereinigten Königreichs.
Gleichwohl bemüht sich die EU, den Gesprächsfaden mit den USA in mehreren Dossiers wieder aufzunehmen. Denn: Alternativen zur transatlantischen Partnerschaft sind dünn gesät. Wenn auch die Ouvertüren des französischen Präsidenten gegenüber Moskau und seine Äußerungen zur NATO („hirntot“) für Unruhe sorgten, so gilt ein Schwenk zu einer Politik der Äquidistanz weder als eine realistische Alternative noch als mehrheitsfähig. Eine größere Herausforderung ist die Erarbeitung einer kohärenten, eigene Interessen berücksichtigenden und gleichzeitig zum transatlantischen Partner anschlussfähigen Strategie gegenüber China. Während die USA sich bereits auf einen Systemwettbewerb mit Peking vorbereiten, beginnen die verschiedenen Akteure in der EU erst damit, eine Strategie zu entwickeln. Offenbar gab es bis zum Frühjahr 2020 selbst innerhalb der Europäischen Kommission unterschiedliche Ansichten darüber, ob China als strategischer Rivale einzuschätzen ist, von den sehr unterschiedlichen Positionierungen (und Abhängigkeiten) der Mitgliedstaaten gegenüber Peking ganz zu schweigen. Solange sich hier nicht eine klare Strategie herauskristallisiert, wird es – unabhängig von der politischen Couleur im Weißen Haus – immer wieder zu transatlantischen Misstönen bei dieser für Washington prioritären Frage kommen.
Der Zustand der transatlantischen Beziehungen zwingt die EU dazu, eine strategische Debatte zu führen, auf die sie bislang kaum vorbereitet schien. Insofern war das Aufwachen aus der transatlantischen Traumwelt unvermeidlich, geschah aber ruppiger, als es der EU lieb sein kann. Wichtig wäre es, auch einem schwierigeren transatlantischen Partner deutlich zu machen, dass funktionsfähige internationale Institutionen und enge transatlantische Zusammenarbeit – auch in den multilateralen Organisationen in Genf und New York – entscheidende Faktoren im globalen Systemwettbewerb sind.
Dr. Olaf Wientzek ist Leiter des Multilateralen Dialogs der Konrad-Adenauer-Stiftung mit Sitz in Genf.