Ausgabe: 4/2019
Zwischen Systemkonkurrenz und Geopolitik
Überall auf der Welt ist die wachsende Bipolarität zwischen den USA und China zu spüren: Die USA unter Präsident Trump ziehen sich aus regionalen und globalen Ordnungsstrukturen zurück und suchen die direkte, bilaterale Auseinandersetzung mit China und anderen Mächten. China hingegen baut seinen wirtschaftspolitischen, militärischen und auch politischen Einfluss im Sinne einer Soft Power in allen Weltregionen so aus, dass es zumindest als strategisch und durchdacht wahrgenommen wird. Der Eindruck einer globalen Systemkonkurrenz zwischen mit Demokratie verbundener Marktwirtschaft und einem staatskapitalistischen System im Dienste der KP ist weithin unumstritten, obgleich er nicht alles beherrscht und Raum für multipolare Konstellationen lässt. Gerade die Länder, die sich mit Demokratie, Freiheit und Menschenrechten identifizieren, schauen erwartungsvoll auf Deutschland und die EU als Mitspieler in der globalen Auseinandersetzung. Zunehmend werden die EU und auch Deutschland jedoch als Akteure wahrgenommen, die sich nicht der Herausforderungen der Zukunft bewusst sind.
Diese Herausforderungen liegen in der zunehmenden Dysfunktionalität der multilateralen Systeme, da sich führende Mächte oft gegenseitig blockieren und andere zu Blockaden animiert werden. Die multilateralen, regelbasierten Ordnungsstrukturen haben aber bisher gerade mittleren und kleineren Staaten Schutz gegenüber dem Recht des Stärkeren geboten.
Die für den globalen Handel entscheidenden freien Seewege kommen nicht zuletzt in der Region des Indischen Ozeans und des Pazifiks durch Unterminierung geltenden Rechts und militärische Drohkulissen unter Druck. Um diesem Druck zu begegnen, reichen Appelle Europas nicht aus.
Konkurrierende Mächte wie China und Russland nutzen in wachsendem Maße digitale Instrumente, um politischen, wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Einfluss in Deutschland und Europa zu gewinnen. Das zeigt sich in Beeinflussungskampagnen in Social Media, aber auch in Spionageaktivitäten und Angriffen auf die Institutionen der freiheitlichen Demokratie inklusive ihrer personellen Eliten. Es gibt keine Anzeichen für einen Rückgang dieser dauerhaften Attacken.
Die globalen Auseinandersetzungen zur Sicherung von Ressourcen führen zum Aufbau von Verbindungen mit Verträgen, Finanzierungen, Technik und Infrastrukturen, die vielerorts in Afrika, Asien und Lateinamerika als Neokolonialismus wahrgenommen werden. Es geht dabei um Ressourcen wie fossile Energieträger, für modernste Technologie erforderliche Rohstoffe (unter anderem „Seltene Erden“), Lithium, Lebensmittel, Trinkwasser (70 Prozent liegen in der Antarktis), aber auch Daten als das „Öl der Zukunft“. Dafür werden traditionelle Gebiete wie Zentralasien oder Nordafrika, aber auch neue, wie der globale Datenraum ebenso wie Arktis und Antarktis oder der Weltraum, in die geopolitische Rivalität einbezogen. Bei all diesen Gebieten ist eine erhöhte Reibung der großen Mächte, teilweise ein Wettrennen und eine Umgehung oder gar Missachtung bestehenden internationalen Rechts zu beobachten. Mit der Datenschutzgrundverordnung hat die EU einen ersten Schritt zur Annahme der „Datengeopolitik“ gemacht, der jedoch vorwiegend defensiv ausgerichtet ist. Offensive Schritte zum Überleben Europas als globale Wirtschaftsmacht mit Demokratie und Freiheiten sind erforderlich. Ebenso müssen sich deutsche Unternehmen dem Wettbewerb in den Ländern auch dadurch stellen, dass sie bessere Standards als beispielsweise ihre chinesischen oder russischen Konkurrenten in sozialen und menschenrechtlichen Aspekten bieten.
Es ist damit zu rechnen, dass neben denen im Weltraum und in den beiden Polregionen der Erde weitere Schritte erwogen werden, die Ressourcen des Planeten durch Eingriffe in geochemische Kreisläufe der Erde (Geo-Engineering) verfüg- und steuerbar zu machen. Durch das Wachstum der Weltbevölkerung auf knapp zehn Milliarden Menschen bis 2050 und die Folgen des Klimawandels werden Ressourcen knapper und befeuern die Rückkehr der Geopolitik zu Grenzen, Macht und Zugriff auf Territorien.
Vor diesem Hintergrund ist die Befassung mit dem Konfliktfeld Persischer Golf, das reich an fossilen Energieträgern, aber z. B. von Ländern mit großem Defizit an Trinkwasser umgeben ist, dringend geboten. Die Polarisierung zwischen Saudi-Arabien und Iran, die auf die gesamte Region ausstrahlt und durch religiös-ideologische Kräfte verstärkt wird, nimmt wahrscheinlich weiter zu. In der globalen Auseinandersetzung wird Saudi-Arabien von den USA und Iran eher von den konkurrierenden Mächten unterstützt. Die Folgen betreffen Deutschland und Europa direkt durch Gewalt in der europäischen Nachbarschaft, Flucht, Migration, Terrorismus und Verknappung wichtiger Ressourcen für den Wirtschaftskreislauf sowie die Beeinträchtigung der Handelswege nach Asien.
Veränderungen der Gesellschaften durch Digitalisierung und Innovationen
Unverkennbar haben Social Media und die elektronischen Medien mit ihrer preisgünstigen, schnellen und direkten Information und Kommunikation einen erheblichen Einfluss auf die politische Kommunikation in Demokratien. Dieser zeigt sich in mehr Partizipationsmöglichkeiten für die Bürger, mehr Informationsoptionen, aber auch weniger verlässlicher Qualität der angebotenen Informationen. Der Trend von rationalen, sachbezogenen Debatten zu emotionalen Auseinandersetzungen, bei denen Emotionen Fakten und politische Verfahren mindestens relativieren, ist in den demokratischen Ländern Europas, Nord- und Südamerikas ebenso unverkennbar wie in den freieren Ländern Afrikas und Asiens. Die zunehmende Polarisierung, der Vertrauensverlust der überkommenen politischen Institutionen wie Parteien, Parlamente, Regierungen, Gerichte, aber auch traditioneller Medien fordern unsere freiheitliche und demokratische Grundordnung heraus. Starke Pfeiler der pluralistischen Gesellschaft wie Vereine, Verbände und Kirchen befinden sich in vielen westlichen Ländern auf dem Rückzug. Transparenz von Entscheidungen in argumentativer wie prozessualer Hinsicht scheint das Gebot der Stunde zu sein. Es stellen sich für selbstverständlich gehaltene Grundfragen wie das Verhältnis von Mehrheitsentscheidungen zu den Verfahren des demokratischen Rechtsstaates: Ist eine Mehrheit in einer Abstimmung oder gar einer Meinungsumfrage wichtiger als gerichtliche Wege und Entscheidungen? Bekannte Spannungsverhältnisse wie das von Freiheitsrechten vs. Sicherheit werden neu aufgeladen und verlangen nach demokratischen und breit akzeptierten Entscheidungen.
Die Gesellschaften in aller Welt werden durch die ungeahnten technischen Möglichkeiten verunsichert: Gentechnik macht Schlagzeilen, die an Horrorfilme oder Science-Fiction erinnern, und die angesichts unterschiedlicher Wertordnungen in der Welt bei gleichzeitig empfundener Grenzenlosigkeit Sorgen oder gar Ängste auslösen. Fortschrittshoffnungen und -potenziale verlangen nach einem rechtlichen Rahmen, der sich aus gesellschaftlich akzeptierten Werten speist. In der globalen Ordnung werden diese schließlich nur Wirkung in globalen Regeln entfalten können. Die Debatte um das „Wunschkind“ in Geschlecht, Hautfarbe, Größe und anderen Merkmalen per Design hat die ethischen Herausforderungen und das Emotionalisierungspotenzial bereits aufgezeigt. Wenn mit „Hirndoping“ oder „KI-Implantaten“ das sehr menschliche Gehirn in eine App zur Steuerung des menschlichen Körpers und seiner Umwelt verwandelt werden kann, stellen sich weitere Fragen zu Potenzialen und Grenzen. Es ist kein Zufall, dass in dieser Zeit eine wachsende Spiritualität und Zuflucht in radikalen Religionsformen oder Naturreligionen in vielen Ländern, vor allem in Lateinamerika und Afrika, festzustellen ist. Diese kann und wird politisch instrumentalisiert werden.
In vielen offenen Gesellschaften zeigt sich der Trend, dass die Jugend durch die politischen Eliten immer schwerer zu erreichen ist, was einerseits am veränderten Kommunikationsverhalten und andererseits an den nicht mehr so ausgeprägten Milieubindungen liegt, die auch festgelegtere Parteibindungen verschwinden lassen. Für jede Wahlentscheidung müssen die jungen Leute neu gewonnen werden, was schon bei den relativ alten Gesellschaften wie in Westeuropa oder Japan eine große Herausforderung ist. Erst recht gilt dies in den jungen Gesellschaften Afrikas oder Lateinamerikas, in denen junge Leute einen Großteil oder gar die Mehrheit der Bevölkerung ausmachen.
Für Deutschland stellt sich konkret die Frage nach der Bedeutung des Einsatzes modernster Techniken zur Überwachung und Kontrolle bei Sicherheitsbrennpunkten, Schulen oder Arbeitsplätzen. In China wird vieles entwickelt und so eingesetzt, dass es dem freiheitlichen Verständnis widerspricht. Gleichwohl ist für Deutschland und die EU zu entscheiden, welche Grenzen für den Einsatz solcher Technologien bei uns gelten sollen.
Demografische Entwicklungen und Migration
Die wahrscheinlichen zukünftigen demografischen Entwicklungen in der Welt fordern Deutschland an zwei Fronten mit bedeutsamen Schnittstellen: Die Alterung der eigenen Gesellschaft ebenso wie in vielen europäischen Ländern, Japan und auch China sowie der gleichzeitig stattfindende Bevölkerungszuwachs in Lateinamerika, Asien und in Afrika in einem Maße, das nur als rasant zu bezeichnen ist. Insbesondere die erwartete Verdopplung der afrikanischen Bevölkerung bis 2050, also in einer einzigen Generation, hat bereits und wird in zunehmendem Maße direkten Einfluss auf Deutschland und Europa haben. Die nachwachsende junge Generation erwartet bessere Chancen für sich, nicht zuletzt auf der Basis der in den elektronischen Medien vorhandenen Bilder und Geschichten von besseren, manchmal nahezu schlaraffenlandähnlichen Zuständen in Europa oder Nordamerika. Daran will die Jugend teilhaben und wandert zuerst in die immer volleren Megastädte, dann in Nachbarländer und oft anschließend nach Europa. Perspektiven in der Heimat können nur durch wirtschaftliche Entwicklung, Freiheit, soziale Sicherheit mit Bildung sowie Gesundheit und politische Teilhabe erwachsen. Gerade daran mangelt es jedoch in den teilweise autoritär geführten, von Korruption befallenen und unter ausländischem Einfluss stehenden Staaten. Diese sind zum Spielfeld des globalen Ressourcenwettstreits geworden, was gewaltsame Konflikte ebenso wie die durch Klimawandel und Flächenverbrauch schwindenden Lebensräume oder religiösen Fundamentalismus befördert. Weitere Staaten können kollabieren, mit allen denkbaren Folgen für die Sicherheitslage in den Nachbarländern und darüber hinaus.
Dies alles vermittelt den jungen Menschen erst recht den Eindruck, dass eine gute Zukunftsperspektive nur woanders zu haben ist. Die Migration betrifft oft jüngere, besser ausgebildete Menschen, die in Europa und nicht zuletzt in Deutschland durchaus beruflichen Bedarf antreffen. Das verstärkt die negativen Effekte in den Herkunftsländern, wo z. B. im Gesundheitswesen die Qualität durch fehlendes Fachpersonal weiter sinkt.
Klimawandel und Ressourcen
Die zunehmend spürbaren Folgen des Klimawandels stellen eine enorme Herausforderung für die Versorgung der weiter stark wachsenden Bevölkerung auf der Erde dar. Durch die überwiegend negativen Effekte auf die Lebensräume und somit auch die Landwirtschaft zur Lebensmittelproduktion sowie zunehmende extreme Wetterereignisse (Naturkatastrophen) multipliziert er die schon vorhandenen Risiken zu innerstaatlichen und zwischenstaatlichen Konflikten und in der Folge wiederum Migrationsbewegungen. Dies gilt nicht nur, aber in besonderem Maße für Afrika. Dort und auch in Asien sowie Lateinamerika führt die Flucht in die Städte, die sich zu Megacities von zehn, 20 und mehr Millionen Einwohnern auswachsen, zu weiteren Fehlentwicklungen. Das Leben in der Stadt ist nicht gleichbedeutend mit einer Verbesserung des Lebensstandards in Einkommen, Bildung, Wohnraum oder Versorgung, sondern bedeutet oft in extrem umweltverseuchten Quartieren, bei mangelhafter Versorgung an öffentlichen Gütern wie Wasser, Energie, Sicherheit, Bildung oder Gesundheit um das tägliche Überleben zu kämpfen. Da haben es Politiken zur Vermeidung oder wenigstens Anpassung an den Klimawandel sehr schwer.
Für Deutschland und Europa wird es immer wichtiger werden, sich den Forderungen der Entwicklungs- und Schwellenländer zur Finanzierung der Maßnahmen zur Vermeidung oder Anpassung an den Klimawandel zu stellen. Der moralische Druck auf die reichen Länder, mehr Kosten zu übernehmen, wächst und gleichzeitig wird durch die Nichterreichung der eigenen Klimaziele die Herausforderung größer, wenigstens global zur Reduktion der Treibhausgase beizutragen.
Auch im Wettbewerb um die knappen Ressourcen des Planeten Erde, die in vielen der weniger entwickelten Länder lagern, zeichnet sich eine solche Konfliktstellung im Sinne einer anzustrebenden „Ressourcengerechtigkeit“ ab: Wenn die Ausbeutung der Ressourcen in den ärmeren Ländern durch die Industriestaaten sowie China zu keinen nennenswerten Entwicklungsschüben in diesen beiträgt, wird sich das sowohl bei der Suche nach Partnern für die globale Zusammenarbeit als auch in den Entwicklungsperspektiven für die Menschen in diesen Ländern auswirken.
Einzelne Themen der Zukunft
Vor dem Hintergrund dieser Trends sind für Deutschland und Europa folgende Themen der Zukunft zu beachten:
Das Spannungsverhältnis des politischen Prozesses und seiner Ergebnisse (polity and politics – policy outcomes oder auch Input-Legitimität vs. Output-Legitimität) ist von enormer Bedeutung für die globale Systemkonkurrenz zwischen demokratisch verfassten und funktionierenden Staaten und solchen, die autoritäre Strukturen aufweisen, aber dennoch positive sozioökonomische Ergebnisse (outcome) aufweisen können. Es ist aber auch von enormer Bedeutung für die innere Legitimation demokratischer Politik, die im Westen trotz objektiv vorhandener Entwicklungsergebnisse (in Wohlstand und Freiheit) in den letzten Jahren gelitten hat. Die Demokratie als Staats- und Lebensform nach innen und nach außen zu sichern, erfordert mehr Anstrengungen, Legitimation zu schaffen.
Es ist erforderlich, eine eigene Position Europas zur wachsenden Bipolarität USA-China zu erarbeiten, die die Grundlage für denkbare Szenarien wie beispielsweise eine „Entkoppelung“ der beiden Wirtschaftssysteme ähnlich der früheren Bipolarität USA-Sowjetunion sein muss. Die Auseinandersetzungen um Huawei haben einen Vorgeschmack auf die wirtschaftspolitischen Folgen ebenso wie die praktischen für die Bürger gegeben; aber auch darauf, dass die USA von Europa eine Bündnisentscheidung verlangen könnten.
Ebenso stellt sich die Frage, ob die Bündnisstrukturen weiterentwickelt werden sollten, um Länder mit einem ähnlichen Wertesystem und hoher Übereinstimmung an geopolitischen Interessen stärker mit Deutschland und der EU zu verbinden: Wollen die G7 oder die NATO Länder in Asien (z. B. Indien, Südkorea) oder in Lateinamerika („West-NATO“) einbeziehen, müssten Begrifflichkeiten („Der Westen“) und Konzeptionen im Sinne einer Öffnung für neue Konstellationen weiterentwickelt werden.
Sowohl für weitere Innovationen im digitalen Bereich und der künstlichen Intelligenz als auch für dringend erforderliche substanzielle Innovationen zur Reduktion der Treibhausgase sind riesige Investitionen in Deutschland und der EU erforderlich. Neben staatlicher Industriepolitik, wie sie in China, aber teilweise auch in westlichen Ländern vorgelebt wird, ist die Mobilisierung von Risikokapital eine entscheidende Option. Gerade in Deutschland mit seinem wenig genutzten Kapital und seiner Sicherheitskultur erscheint dies nicht nur eine gesetzgeberische, sondern auch eine psychologische Aufgabe zu sein. Die globalen Trends lenken die Aufmerksamkeit auf diese enormen politischen Herausforderungen.
In diesem Zusammenhang sollte der diagnostizierten „Tribalisierung“ der politischen Auseinandersetzung mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden. Konfliktlinien in den Gesellschaften verlaufen nicht mehr entlang von Sachthemen oder Ideologien, sondern entlang vorhandener oder empfundener Zugehörigkeiten, also z. B. Globalisten vs. Nationalisten, Tech-Elite vs. Digitale Analphabeten oder Nationalidentitäre vs. Multikulturalisten und ganz allgemein im Kontext von Identitätspolitik. Parteien und politische Eliten müssen diese wirkmächtigen Kräfte besser verstehen, um sie überwinden zu können und ausreichende politische Unterstützung in öffentlicher Debatte und Wahlen für notwendige politische Entscheidungen zu finden.
Dr. Peter Fischer-Bollin ist stellvertretender Leiter der Hauptabteilung für Europäische und Internationale Zusammenarbeit der Konrad-Adenauer-Stiftung.