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Die regionalen Interessen im afghanischen Friedensprozess

Mit den 2019 erstmals offiziell geführten Friedensgesprächen zwischen ­USA und Taliban und dem von Präsident Trump angekündigten möglichen US-Truppenrückzug aus Afghanistan könnte die fast zwanzigjährige ­NATO-Ära in dem Land zu Ende gehen. Für die Regionalstaaten Pakistan, Indien, Iran, Russland und China bieten die Entwicklungen Anreiz, die regionale Friedens- und Sicherheitsordnung neu zu gestalten.

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Als im Februar 2019 die ­USA erstmals offizielle Friedensgespräche mit den afghanischen Taliban in Doha, Katar, aufnahmen, war die Euphorie groß, dass ein neues Kapitel im achtzehnjährigen Konflikt zwischen Taliban, afghanischer Regierung und ­NATO-Kräften aufgeschlagen werden kann. Seit 2001 ist man einer politischen Lösung noch nie so nah gekommen. Ein Friedensabkommen mit den Taliban würde nicht nur Afghanistans politische Ordnung, sondern auch das internationale Engagement, die regionale Sicherheitsarchitektur und Afghanistans Verortung als westlicher Bündnispartner neu zur Verhandlung stellen.

Anfang September brachen die ­USA überraschend die Friedensgespräche nach neun Gesprächsrunden ab und verweigerten die Unterzeichnung eines Rahmenabkommens, zeigen nun jedoch erneut Interesse an der Wiederaufnahme des Prozesses. Für Friedensverhandlungen müssten die Taliban noch die afghanische Regierung als Verhandlungspartner akzeptieren. Diese ist in ihren Augen eine 2001 unrechtmäßig eingesetzte „Marionettenregierung“.

Im Februar 2018 hatte Präsident Ghani den Taliban bereits im Rahmen seiner Friedensinitiative („Kabul-Prozess“) ihre Streichung von internationalen Sanktionslisten und eine Anerkennung als politische Partei in Aussicht gestellt, sollten sie der Gewalt abschwören. Im Doha-­Prozess sprachen sich die Taliban weiterhin für ein Islamisches Emirat aus. Für die afghanische Regierung und Zivilgesellschaft stellt sich die Frage, ob sich die Taliban auf freiheitlich-pluralistische Mindeststandards einlassen und demokratische Machtwechsel akzeptieren würden.

Der Verlauf des Friedensprozesses wird jedoch nicht nur durch die Entwicklungen im Land, sondern auch durch externe Dynamiken beeinflusst. Afghanistan als geostrategische Schnittstelle zwischen Zentralasien, Südasien und Mittlerem Osten ist Spielfeld von Regional- und Großmachtkonflikten wie

  • 1. dem indisch-pakistanischen Konflikt,
  • 2. Irans Nuklearkonflikt mit den ­USA,
  • 3. Russlands Rivalität zur US-amerikanischen Ordnung sowie
  • 4.dem Konflikt um Chinas Wirtschaftshegemonie.

 

Im Vergleich zu 2001 haben die Stimmen der Regionalstaaten und Nicht-­NATO-Mitglieder an Einfluss und Selbstbewusstsein gewonnen. Insbesondere Russland und China versuchen mit regionalen sowie intra-afghanischen Dialogen mit den Taliban Einfluss auf die Entwicklungen im Land zu nehmen. Um den Verlauf des Friedensprozesses und die künftigen regionalen Beziehungen einzuschätzen, hilft ein Blick auf die Interessen, Sicherheitsdilemmata, Bedrohungswahrnehmungen und Strategien der Regionalstaaten. Wie definieren sie ihre Interessen in Afghanistan und der Region? Was ist ihr Handlungsspielraum? Welche Rollen nehmen sie im Friedensprozess ein? Welche Kräfte könnten als „Gewinner“ hervorgehen und wie können mögliche „Verlierer“ miteingebunden werden?

Pakistan: Spielverderber oder Schlüsselland für Frieden

Pakistan wird von internationalen Beobachtern als „Schlüsselland“ für nachhaltigen Frieden und Stabilität gesehen. Die afghanisch-pakistanischen Beziehungen nach 2001 waren geprägt von Misstrauen, gegenseitigen Anschuldigungen der Terrorunterstützung und ungeklärten Territorialfragen. In den 1980er Jahren spielte Pakistan zusammen mit den ­USA und Saudi-­Arabien eine Schlüsselrolle beim Aufstieg der afghanischen Mudschaheddin im Kampf gegen die sowjetische Besatzung. Später half der pakistanische Geheimdienst Directorate for Inter-­Services Intelligence (­ISI) bei der Ausbildung und Radikalisierung von Taliban-Mitgliedern in pakistanischen Religionsschulen. Die afgha­nische Taliban-Bewegung wird als eine vom pakistanischen Staat protegierte und genutzte Gruppe betrachtet. Wichtige Teile ihrer Führung sind in Pakistan angesiedelt. Die in den 1980er Jahren entstandenen Verflechtungen in der afghanisch-­pakistanischen Grenz­region zwischen Taliban, kriminellen Netzwerken und dem pakistanischen Staat wirken bis heute nach. Taliban-Führer verfügen über weitreichende Verbindungen zu Pakistans staatlichen Institutionen, politischen Parteien und wirtschaftlichen Lobbygruppen.

Die afghanisch-pakistanischen Beziehungen sind angespannt, auch aufgrund von Pakistans Verbindungen zu den Taliban.

Seit Präsident Trumps Nationaler Sicherheitsstrategie (­NSS) von 2017 geriet Pakistan unter Druck, konstruktiv auf die Taliban einzuwirken. Von Pakistan wurde die Unterbindung indirekter Terrorfinanzierung und terroristischer Operationen von pakistanischem Territorium aus eingefordert. Zugleich kündigten die ­USA die Stärkung ihrer strategischen Partnerschaft mit Indien an. Seitdem hat ein Umdenken in Pakistan eingesetzt. Pakistan braucht einerseits Sicherheitsgarantien von den ­USA und ist andererseits von der finanziellen Unterstützung Saudi-­Arabiens oder Chinas abhängig – Staaten, die nun den Friedensprozess vorantreiben wollen.

Trotz der Verflechtungen lässt sich die Taliban-Bewegung nur schwer vom pakistanischen Staat kontrollieren und integriert auch pakistankritische Teile. Die junge Taliban-­Generation soll unabhängiger sein. Beobachter sehen Pakistan seit langem nicht nur als Profiteur, sondern auch als Opfer der Bewegung, die sich teils auch gegen den pakistanischen Staat radikalisiert hat. Statt „Strategischer Tiefe“ des pakistanischen Staats wurde eine „religiöse Tiefe“ afghanischer Kämpfer in Pakistan geschaffen.

Pakistans Einflussnahme auf militante Gruppen wie die Taliban ist Teil des vom pakistanischen Militär postulierten Prinzips der „Strategischen Tiefe“. Es dient als Rückversicherung im Falle einer militärischen Eskalation mit Indien. Mittlerweile wird jedoch auf pakistanischer Seite Kritik laut, dass das Fördern militanter Gruppen keine nachhaltigen Vorteile geschaffen hat.

Zwar übt Pakistan nun Druck auf die Taliban aus, um sie zu Verhandlungen zu motivieren, auf afghanischer Seite ist man jedoch skeptisch, wie ehrlich und nachhaltig dies ist. Pakistan wird von einem Großteil der afghanischen Bevölkerung und der politischen Elite ein Interesse an einem „instabilen“ bzw. „beeinflussbaren Frieden“ unterstellt. Der Vorwurf lautet, dass Pakistan seine Taktik, nicht jedoch seine Ziele angepasst habe. Pakistan ermutige die alte, nun kompromissbereite Taliban-Führung zu Friedensgesprächen, während es junge, kampfbereite Taliban als „Kriegsmaschine“ behalte. Pakistan hingegen sieht sich mit überzogenen Erwartungen an sein Einflusspotenzial auf die Taliban sowie mit Schuldzuweisungen bei Rückschlägen im Friedensprozess konfrontiert und fordert mehr afgha­nische Eigenverantwortung.

Nun geht es darum, Pakistan mit seinen gewachsenen Beziehungen zu den Taliban konstruktiv einzubinden und diese Kontakte für ein Abkommen zu nutzen. Pakistan kann weiterhin als Spielverderber auftreten, wenn es eine Beeinträchtigung seiner Interessen wahrnimmt. Daher muss nach Möglichkeiten gesucht werden, wie sich der ­afghanische Friedensprozess vom indisch-­pakistanischen Konflikt entkoppeln lässt. Zum anderen muss der innerafghanische Prozess durch einen trilateralen Dialog zwischen ­Afghanistan, Pakistan und Indien ergänzt werden.

Indien: Soft Power mit ­strategischen Interessen

Indien verfolgt im afghanischen Friedensprozess einen Low-Profile-Ansatz und übt sicherheitspolitisch große Zurückhaltung. Stattdessen hat sich Indien als fester Partner in der Entwicklungs­zusammenarbeit etabliert. Indien ist fünftgrößter bilateraler Geber in Afghanistan; in der Region steht Indien an erster Stelle noch vor China und Iran. Indien hat nach 2001 keine Truppen nach Afghanistan entsendet, bildet jedoch seit 2011 afghanische Armeeangehörige in Indien aus. Indiens Afghanistanpolitik bleibt ein vorsichtiger Balanceakt gegenüber Pakistan als politischem und China als wirtschaftlichem Kontrahenten.

Das Land hat seit 2011 ein strategisches Partnerschaftsabkommen mit Afghanistan und zeigt von allen Regionalstaaten die stärkste Loyalität gegenüber der afghanischen Regierung als wichtigstem Verbündeten gegen den gemeinsamen Gegner Pakistan. Tatsächlich genießt Indien einen sehr guten Ruf in der afghanischen Gesellschaft. Es ist eines der beliebtesten Reiseländer für Studium oder medizinische Aufenthalte und eines der wenigen Länder, für die Afghanen noch problemlos Visa erhalten.

Im Friedensprozess ist Indien einer der stärksten Fürsprecher der afghanischen Regierung. Indien pocht auf eine „afghanisch geführte, verantwortete und überwachte“ (Afghan-led, -owned, -controlled) Friedenslösung und drückt damit seinen Unmut darüber aus, dass die afgha­nische Regierung im Doha-Prozess außen vor geblieben ist. Indien ist ein starker Verfechter der afghanischen Verfassung; ein Abkommen mit den Taliban müsse die demokratische Ordnung bewahren. Dahinter verbirgt sich die Sorge vor der Wiederherstellung eines pro-pakistanischen Taliban-Emirats.

Das Land ist einer der wenigen Staaten, der sich offiziellen Gesprächen mit den Taliban verschließt. Für Indien bleiben die Taliban eine pro-­pakistanische Kraft und Instrument Pakistans zur Durchsetzung seiner Interessen. Im indischen Militär und in regierungsnahen Think-Tanks ist die Auffassung verbreitet, dass die Taliban stärker militärisch bekämpft werden sollten. Das internationale Werben um die besten Gesprächskanäle zu den Taliban hat die indische Führung jedoch bewogen, die Aufnahme offizieller Gespräche mit der Talibanführung erneut anzudenken.

Für Indien als schärfsten Taliban-Skeptiker dürfte es schwierig werden, strategische Vorteile jenseits von Informationsgewinnung aus einem Dialog mit den Taliban zu ziehen. Die Einbindung der Taliban könnte für Indien einen empfindlichen Einflussverlust bedeuten. Die mit der London-Konferenz 2010 vom Westen eingebrachte Unterscheidung zwischen „guten“ und „schlechten“ Taliban wurde von dem Land nicht geteilt. Andererseits hat sich in der indischen Führung über die Jahre ein differenzierteres Verständnis von den Taliban entwickelt; so werden sie heute nicht mehr als monolithischer pro-­pakistanischer Block wahrgenommen.

Die indische Regierung ist besorgt, Pakistan könne die Taliban unterstützen, um indische Ziele in Kaschmir, Indien und Afghanistan anzugreifen. Hinter zahlreichen Anschlägen im In- und Ausland vermutete Indien eine pakistanische Einmischung. Darüber hinaus ist Afghanistan auch für Indiens Energiesicherheit potenziell interessant. Indien hat Interesse am Zugang zu zentralasiatischen Energieressourcen, insbesondere seit Iran für das Land aufgrund der verstärkten US-Sanktionen als wichtigster Ölexporteur wegfällt.

Nach außen proklamiert Indien eine rein entwicklungspolitische Strategie. Indien unterhält landesweit Infrastruktur- und Bildungsprojekte sowie diplomatische Vertretungen in Kabul, Masar-e Scharif, Herat, Jalalabad sowie Kandahar, was in Pakistan den Vorwurf der Spionage geweckt hat. Eine Truppenstationierung wurde in der indischen Politik wiederholt diskutiert, aber bislang ausgeschlossen. Ein militärisches Engagement wäre zu kostspielig, würde Pakistan unnötig reizen und könnte Indien den Vorwurf als Besatzungsmacht einbringen sowie hindu-muslimische Spannungen im eigenen Land schüren. In Indiens außenpolitischem Diskurs wird jedoch Kritik laut, dass der Soft-Power-Ansatz dem Land keinerlei strategische Gewinne gebracht habe und seine Interessen nicht ausreichend Beachtung finden. Auch die afghanisch-indische Freundschaft wird zunehmend strapaziert. Die afghanische Gesellschaft will nicht länger Spielball eines indo-­pakistanischen Stellvertreterkriegs sein.

Iran: Fremder Nachbar im Sicherheitsdilemma

Iran als direktes Nachbarland und größter Handelspartner Afghanistans zeigt eine zunehmend proaktive Strategie. Mit der Eskalation des amerikanisch-iranischen Konflikts und verschärften US-Sanktionen ist Iran zu einem Kritiker der westlichen Stabilisierung in Afghanistan und des Doha-Friedensprozesses geworden. Das Land unterstützt daher alternative Friedensansätze und hofft auf eine „post-amerikanische Stabilität“, die ausreichende Sicherheitsgarantien für Iran in der Region bietet. In der afghanischen Gesellschaft bleibt Iran ein teils misstrauisch beäugter Nachbar, der die politischen Meinungen spaltet.

Iran steht dem US-Engagement in Afghanistan kritisch gegenüber und fordert mehr afghanische Selbstständigkeit.

Iran hat ein Interesse an einem stabilen Afghanistan als Wirtschaftspartner, das sich keiner anti-iranischen Interessenallianz anschließt und keine extremistische Gefahr darstellt. Mit einer 900 Kilometer langen Grenze zu Afghanistan ist Iran verwundbar gegenüber transnationalen Terrorgruppen und Drogenhandel. Seit 2015 ist die anti-schiitische Terrororganisation Islamischer Staat (IS) mit ihren regionalen Ablegern eine potenzielle Bedrohung und hat vereinzelt Anschläge in Teheran und iranischen Provinzen verübt. Die ­NATO-Ausbildungs- und Beratungsmission in Afghanistan, in der die ­USA über 8.000 von insgesamt 16.000 Soldaten stellen, sowie die amerikanische Antiterror-Operation Freedoms Sentinel (­OFS) sind für Iran eine zweischneidige Angelegenheit. Iran hat kein Interesse an einem überstürzten US-Truppenabzug mit dem Risiko einer weiteren Destabilisierung des Landes. Andererseits hat das Land Sorge vor einer dauerhaften Antiterror-Militärbasis, die die ­USA mit den Taliban aushandeln wollten.

 

Tabelle 1: Truppenkontingente nach Staaten der NATO-Mission Resolute Support (Stand Juli 2018)

https://www.kas.de/documents/259121/7681178/zeino_tabelle_01_DE.svg/9379c907-5364-dfe5-c546-9c20d6611647?t=1574850912969

Quelle: Eigene Darstellung nach NATO 2018: Resolute Support Mission, 06.07.2018, in: https://bit.ly/2NjLCTl [05.11.2019].

 

Im Friedensprozess fordert Iran einen afghanisch geführten Prozess, der nicht von einzelnen Staaten monopolisiert werden dürfe. Zudem fordert Iran den Schutz der demokratischen und repu­blikanischen Verfassung. Auf den ersten Blick mag es überraschen, dass Iran sich für den Erhalt der demokratischen Institutionen einsetzt und Sorge äußert, dass die errungenen Werte und Rechte von Frauen und Minderheiten in den Friedensverhandlungen geopfert werden könnten. Iran hat jedoch keinerlei Interesse an einem Islamischen Emirat als Nachbar, das ein pro-sunnitisches Kräfteverhältnis stützen könnte. In den letzten Jahren hat Iran Kontakte und direkte Gesprächskanäle zu den Taliban aufgebaut, negiert jedoch nachhaltige Beziehungen oder gar eine Zusammenarbeit mit ihnen. Gemeinsamkeiten finden beide Seiten eher in anti-westlichen statt in politisch-religiösen Vorstellungen.

In der afghanischen Innenpolitik spaltet Iran die Meinungen. Einerseits ist das Land ein wichtiger regionaler Investor. Iran hat Pakistan als größten Handelspartner Afghanistans abgelöst. Es prägt den Wiederaufbau mit Infrastrukturmaßnahmen, wie dem Bau von Kliniken oder eines Ablegers der iranischen Payame-Noor-­Universität. Mit Afghanistan und Indien hat Iran seinen Chabahar-Hafen am Indischen Ozean zur alternativen Transportroute ausgebaut. Nur 170 Kilometer vom pakistanischen Hafen Gwadar entfernt, eröffnet der Hafen Afghanistan und Indien eine von Pakistan unabhängige Handelsroute. Die Nachfrage afghanischer Staatsbürger nach iranischen Visa für Geschäftsreisen, medizinische oder Studienaufenthalte ist hoch. Andererseits besteht in Afghanistans Bevölkerung Skepsis bis Misstrauen gegenüber dem Nachbarn. Iran pflegt politische und religiös-­kulturelle Beziehungen zur schiitischen Minderheit in Afgha­nistan, insbesondere den Hazara. Die für Iran in Syrien kämpfende Fatimiyoun-­Miliz besteht fast ausschließlich aus afghanischen Hazara-Angehörigen.

Irans Verhalten ist an den ­USA ausgerichtet. Die größte Bedrohung für das iranische Regime geht von den Vereinigten Staaten und den US-Verbündeten am arabischen Golf aus. Solange die ­USA und ihre Verbündeten die Sanktionen und den militärischen Druck auf Iran aufrechterhalten bzw. eskalieren, wird das Land jegliche Einflussmöglichkeiten in der Region, sei es über afghanisch-schiitische Söldner in Syrien oder durch taktische Unterstützung der Taliban, nutzen, um sich Garantien gegen die Bedrohung aufzubauen. Damit ist Iran ein in regionale Konflikte verwickeltes Nachbarland, dessen Einbindung jedoch für den Erfolg des Friedensprozesses bedeutsam ist.

Russland: Alternativer Friedenspartner trotz historischer Vorbelastung?

Russlands Afghanistanpolitik unterlag in den letzten zwanzig Jahren einem starken Wandel. Nach den verlustreichen 1980er Jahren im Kampf gegen die Mudschaheddin verfolgte Russland lange eine zurückhaltende Politik. Russlands Intervention in Afghanistan 1979 hatte den internationalen Dschihad-Kampf in Afghanistan und der muslimischen Welt befördert und das Ende der Sowjetunion markiert. Im Oktober 2001 war Russland neben Pakistan, Saudi-­Arabien und Iran eines der Nicht-­NATO-Länder, das die US-geführte Antiterror-Koalition gegen die Taliban unterstützte. Anschließend half Russland den USA bei ihren Stabilisierungsbemühungen und im Kampf gegen die wiederaufkommenden Taliban. In den letzten Jahren zeigt Russland eine deutlich proaktivere Rolle, verbunden mit dem Wunsch nach einer aus der Region gestalteten Sicherheitsordnung.

Russland hat ein vitales Interesse an Afghanistans Stabilität und territorialer Integrität. Afghanistan soll keine neue Anlaufstelle für transnationale Terrorgruppen und Drogenkartelle werden, von denen eine Bedrohung gegen die zentralasiatischen Nachbarländer und Russland ausgeht. Terrorismus- und Drogenbekämpfung spielen daher eine vornehmliche Rolle.

Mit der Ausrufung des IS-Ablegers Islamischer Staat Khorasan (­ISKP) in Afghanistan im Januar 2015 hat sich Russlands Strategie gegenüber der Taliban-Bewegung geändert. Moskau hat in den vergangenen Jahren Kontakte zu den Taliban aufgebaut und strebt nun eine politische Lösung mit ihnen an. Taktische Kontakte bestanden bereits ab 2006, als sich ein militärischer Sieg über die Taliban als zunehmend schwierig erwies. Die russische Führung bestätigt Gesprächskanäle zum Informationsaustausch, negiert jedoch eine Zusammenarbeit oder gar Bewaffnung der Taliban. Der russische Sonderbeauftragte, Zamir Kabulov, bestätigte ein gemeinsames Interesse mit den Taliban beim Kampf gegen den IS.

Im „Moskau-Prozess“ konnte Russland, parallel zum US-geführten Doha-Prozess, afgha­nische Konfliktparteien mit den Taliban an einen Tisch bringen. Der russische Botschafter in Kabul, Alexander Mantytskiy, betont die Unterstützung eines „intraafghanischen Dialogs“. Nach Ansicht Russlands müsse dieser Dialog nicht nur die afghanische Regierung, sondern den Querschnitt der afghanischen Gesellschaft einbeziehen. Gleichzeitig sei Russland jedoch nicht besorgt über die US-Taliban-Gespräche. Während das Land die Friedensgespräche in Moskau als komplementär zum US-amerikanischen Doha-Prozess darstellt, sehen andere Beobachter das Moskau-Format als „alternative Friedens­diplomatie“ zu den ­USA. Die regionalen Formate drücken einen Gestaltungswillen der Staaten in der Region aus und fordern die Beachtung legitimer regionaler Interessen. Zugleich verbirgt sich dahinter Kritik am amerikanischen Einfluss und die Sorge vor einer permanenten, wenn auch reduzierten, US-Militärpräsenz.

Die afghanische Regierung und kritische Stimmen sehen Russlands Rolle im Friedensprozess als ambivalent. Lokale Medien warfen dem Land nach den Moskau-Gesprächen im Februar 2019 vor, die afghanische Regierung marginalisiert und die Taliban aufgewertet zu haben. Russland bewertet die afghanische Regierung dagegen als zu stark von den ­USA und dem Ausland abhängig und beeinflusst.

Das russische Erbe ist ambivalent; Russland brachte moderne Infrastruktur wie das Makryan-Häuserviertel in Kabul sowie die Kalaschnikow nach Afghanistan. Nun zeigt sich eine zunehmende Offenheit afghanischer Akteure gegenüber den Moskauer Friedensbemühungen. Auch die bilateralen Beziehungen sind heute unverkrampfter. Zu den russischen Nationalfeiertagen lassen sich nun sowohl frühere Taliban-Funktionäre als auch ehemalige Mudschaheddin-­Mitglieder in der russischen Botschaft blicken.

Welche Rolle wird Russland im Friedensprozess einnehmen? Westliche Beobachter sehen seine Initiativen als reaktiv zum US-geführten Friedensprozess. Für Russland ist Afgha­nistan Teil seiner erweiterten Region, in der es natürlicherweise die Sicherheitsarchitektur mitgestalten möchte. Die anfänglichen Stabilisierungsbemühungen der ­USA und ­NATO begrüßte Moskau, als noch nicht absehbar war, dass die westlichen Streitkräfte dauerhaft bleiben würden. Nach fast zwanzig Jahren fordert Russland eine aus der Region heraus gestaltete und vom Westen emanzipierte Sicherheitsordnung. Im Friedensprozess setzt das Land auf andere politische Akteure. Russlands Beziehungen zum früheren Präsidenten Hamid Karzai waren deutlich enger als zum jetzigen Präsidenten Ghani. Unter afgha­nischen Karzai-Anhängern, von denen viele äußerst kritisch gegenüber Ghani als auch den ­USA sind, hat Russland weiterhin Unterstützer. Gleichzeitig hat Moskau kein Interesse an einem überstürzten Truppenabzug, der ein Sicherheitsvakuum hinterlassen könnte. Eine Möglichkeit, die Einheit und Regierbarkeit des Landes zu garantieren, sieht Russland nun über die Einbindung der Taliban.

China: Pax Economica für Afghanistan

China hat bislang eine sichtbare Führungsrolle in Afghanistan vermieden. Seine Afghanistanpolitik ist von wirtschaftlichen Kalkülen für sein Projekt der „Neuen Seidenstraße“ angetrieben und hat die Wahrung nationaler Sicherheitsinteressen im Blick. Als Nachbarland mit einer gemeinsamen Landesgrenze von 80 Kilometern im nordöstlichen Wakhan-Korridor hat China zudem Interesse an einer effektiven Grenzkontrolle gegen die Aktivitäten von Drogenschmugglern und Terrorgruppen.

Chinas Fokus in Afghanistan ist nicht auf Nation Building oder den Aufbau politischer Institutionen gerichtet, sondern auf die Sicherung von Ressourcen, Absatzmärkten und Transport­routen. Als wichtiges Transitland zwischen Zentralasien und Indischem Ozean und mit seinem Reichtum an strategischen Ressourcen wäre Afghanistan der ideale Kandidat für Chinas Seidenstraßen-Projekt, die Belt and Road Initiative (­BRI). Die 2013 von Präsident Xi Jinping initiierte Vision einer von China gestalteten Wirtschafts- und Transitroute vom Pazifik zum Mittelmeer mit über 60 Staaten hatte bislang Afghanistan aus Sicherheitsgründen ausgeklammert. Das soll sich nach offiziellen Aussagen baldmöglichst ändern.

Afghanistan ist für China im Kontext seiner Seidenstraßen-Initiative interessant, nur die instabile Sicherheitslage gilt noch als Problem.

Der chinesische Staat und chinesische Investoren sind bereit, ihre Aktivitäten auszudehnen, sobald die Sicherheitslage es zulässt. China ist der drittgrößte Handelspartner Afghanistans nach Iran und den ­USA. Bislang importiert das Land vor allem wenig strategische Produkte wie Safran, Pinienkerne, Marmor und Teppiche. Es hat in Ressourcen wie in Kupfer und und Ölrechte sowie in die für das ­BRI-Projekt nötige Infrastruktur investiert. Die visionäre Idee eines „Five Nations Railway Corridor“ soll einen Transportkorridor von China über Afghanistan ans Mittelmeer schaffen. Chinas wichtigste Verbindung und Vorzeigeprojekt der „Neuen Seidenstraße“ ist der 2015 eingeweihte China Pakistan Economic Corridor (­CPEC) mit Afghanistans Erzfeind Pakistan. Die chinesische Führung hatte – zum Missmut Pakistans – verkündet, dass sie ­CPEC gerne auf Afghanistan ausdehnen würde.

China versucht derzeit, ein Image als Entwicklungspartner zu etablieren. Im Jahr 2018 gründete es die National Development and Cooperation Agency. In den letzten zehn Jahren stellte das Land rund 240 Millionen US-Dollar an Entwicklungshilfe bereit, deutlich weniger als Indien oder die westlichen Geber. Als Nachbarland hat China zudem vitale Sicherheitsinteressen. Als größte Bedrohung werden eigene militante Gruppen gesehen, die in Afghanistan einen Rückzugs-, Rekrutierungs- und Radikalisierungsraum finden. Lange galt die von chinesischen Uiguren gegründete separatistische Gruppe East Turkestan Islamic Movement (­ETIM) als größte Sicherheitsbedrohung. Aus Sorge vor islamistischem Extremismus in der Xinjiang-Provinz wurde der Grenzhandel nur zögerlich ausgebaut. Seit der Infiltration der IS-Terrormiliz in Zentralasien ist Chinas Afghanistan-Strategie stärker sicherheitspolitisch ausgerichtet. China ist besorgt über Verbindungen zwischen ­ISKP und ­ETIM-Mitgliedern. Im Februar 2018 drohten erstmals chinesische IS-Kämpfer mit Anschlägen in dem Land.

China hat ein Eigeninteresse am Erfolg des Friedensprozesses und unterstützt gleichermaßen die von den ­USA wie von Russland initiierten Gespräche. Mit den ­USA, Afghanistan und Pakistan führte es ab 2015 die Quadrilateral Coordination Group (­QCG) zur Einleitung offizieller Gespräche mit den Taliban. Über die Shanghai Cooperation Group (­SCO) hat Beijing im Mai 2018 erneut zu einer Afghanistan Contact Group für Frieden und Wiederaufbau eingeladen.

Pakistan ist ein strategischer Partner Chinas. Dies würde eine pro-pakistanische Haltung des Landes im Friedensprozess vermuten lassen. Unter manchen Regierungen besteht jedoch die Hoffnung, dass China „zähmend“ auf Pakistans Rolle im Friedensprozess und konstruktiv auf die afghanisch-pakistanischen Beziehungen einwirken könnte. China hat ein Interesse am Abbau afghanisch-pakistanischer Spannungen, nicht zuletzt um sein ­CPEC-Projekt voranzutreiben. Im Dezember 2017 lud es Pakistan und Afgha­nistan zum ersten trilateralen Außenministertreffen nach Beijing. Während die EU Hoffnung auf die chinesische Zähmung Pakistans gesetzt hatte, ist China der Meinung, dass der Westen sein Einflusspotenzial auf Pakistan überschätzt und ein zu starker Druck auf Pakistan zudem kontraproduktiv sei.

Beijing ist zwar gegen eine Unterstützung der Taliban und befürwortet militärischen Druck, gleichzeitig spricht es sich für die politische Einbindung der Taliban aus. Chinas Haltung gegenüber den Taliban ist über die Jahre moderater geworden. In den 1990er Jahren waren die Taliban ein politischer Gegner, der chinesische staatsfeindliche Gruppen unterstütze. Heute werden sie als nationale Gruppe ohne eine gegen China gerichtete Agenda wahrgenommen.

Die politische Neutralität des Landes und seine militärische Zurückhaltung werden mit seinen geoökonomischen Interessen zunehmend schwieriger werden. China wird stärker als bisher sicherheitspolitische Verantwortung übernehmen müssen, wenn sich die ­USA militärisch zurückziehen. In den letzten Jahren hat Beijing eine Aufstockung der Militärhilfe an Afghanistan und eine engere Antiterror-Kooperation angekündigt sowie in die Grenzsicherung investiert. Chinas fehlende Truppenentsendung wurde in US-Kreisen als „free-riding“ bezeichnet. Wenn das Land mehr Verantwortung bei der Grenzsicherung und im Antiterrorkampf übernimmt, wäre das nach offiziellen Stimmen auch im US-amerikanischen Interesse.

Die regionale Ordnung nach dem US-Rückzug

Nach fast zwanzig Jahren könnte die ­NATO-gestützte Ära der Pax Americana in Afghanistan zu Ende gehen. Wie werden Nicht-­NATO-Staaten wie Iran, Russland, China, Indien und Pakistan die künftige Ordnung gestalten und Verantwortung für die regionale Sicherheit übernehmen? Und wie entwickeln sich die regionalen Beziehungen nach einer politischen Einbindung der Taliban? Die Ghani-Regierung steht – trotz aktueller Spannungen mit den ­USA – für eine pro-westliche Ordnung. Mit der politischen Einbindung der Taliban würden amerikakritische und nicht-westliche Stimmen an Einfluss gewinnen. Die Staaten in der Region, die eine alternative, post-amerikanische Ordnung befürworten, wie Russland, Iran und China, könnten ihre Kontakte zu den Taliban politisch und wirtschaftlich nutzen. Letztere müssten sich für ihre Streichung von internationalen Sanktionslisten von al-Qaida und extremistischen Elementen innerhalb ihrer Bewegung distanzieren sowie die Bekämpfung transnationaler Terrorgruppen im Land garantieren. Für Pakistan wäre eine Rehabilitierung der Taliban nicht zwangsläufig ein Vorteil; die pakistanische Führung muss dann mit den Taliban als unabhängigem Akteur umgehen, der sich internationalen Spielregeln unterwirft. Indien, das sich offiziellen Kontakten zu den Taliban bislang verweigert, würde mit einer Legalisierung der Taliban Einfluss im Land verlieren.

Unter Russland, China und Iran besteht eine große Interessenkonvergenz. Sie alle haben ein besonderes Interesse an der Bekämpfung von transnationalem Extremismus und Drogenhandel sowie an sichereren Handels- und Energietransitrouten. In Afghanistan verfolgen sie kein Nation Building oder große entwicklungspolitische Strategien, sondern suchen pragmatische Bündnisse zur Wahrung ihrer außen-, sicherheits- und energiepolitischen Interessen. Die Taliban würden sie als Bündnispartner akzeptieren, wenn diese den Schutz ihrer Interessen garantieren. Diese pragmatische Vorstellung der Stabilisierung Afghanistans unterscheidet sich vom westlichen Modell des Nation Buildings und der Stärkung politischer Institutionen. Den Rückzug der ­USA begrüßen sie, fordern aber einen geordneten und verantwortungsvollen Rückzug.

Die Regionalstaaten, allen voran Indien, Iran, Russland und China, sind Fürsprecher eines afgha­nisch geführten Friedensprozesses, meinen dabei jedoch eigentlich eine regional verantwortete Sicherheitsordnung und den Schutz ihrer nationalen Interessen. In Zukunft werden sie sich an ihrem außenpolitischen Handeln messen lassen müssen.

 


 

Dr. Ellinor Zeino ist Leiterin des Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Afghanistan.

 


 

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