Ausgabe: 4/2024
Ungelöste Konflikte im Südkaukasus
Im Sommer 2020 startete die Europäische Kommission ein ambitioniertes Programm, das sie EU4Dialogue taufte. Es ging dabei um den ungelösten Konflikt in der Region Transnistrien in Moldau, vor allem aber um den Südkaukasus. Die territorialen Konflikte dort galten seit fast 30 Jahren als quasi eingefroren, internationale Verhandlungsformate waren praktisch gescheitert. In Georgien sind zwei Regionen, Abchasien und Südossetien, de facto von Russland besetzt. In Aserbaidschan wiederum gab es mit Bergkarabach eine Enklave, die fast ausschließlich von ethnischen Armeniern bewohnt wurde, international jedoch als Teil von Aserbaidschan anerkannt war.
Ziel von EU4Dialogue war es, zur Transformation dieser Konflikte beizutragen, Spannungen abzubauen und ein besseres Verständnis zwischen den Menschen über die Konfliktlinien hinweg zu befördern.Niemand in Brüssel ahnte, dass der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew drei Monate später beschließen würde, die Armenier in Bergkarabach anzugreifen. Der zweite Bergkarabach-Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan im Herbst 2020 dauerte 44 Tage, forderte etwa 7.000 Opfer und brachte ein Drittel des Territoriums von Bergkarabach unter aserbaidschanische Kontrolle. Es war einer der ersten Drohnenkriege im 21. Jahrhundert, der rückblickend wie eine Blaupause für das wirkt, was die Welt in weitaus größerem Maßstab gegenwärtig im Krieg zwischen Russland und der Ukraine beobachten kann.
Der von Russland im November 2020 initiierte Waffenstillstand in der Region Bergkarabach hatte nie wirklich Bestand, im September 2022 griff Aserbaidschan armenisches Territorium an, wobei innerhalb von drei Tagen mehr als 300 Soldaten starben. Im Dezember 2022 folgte die monatelange Blockade des noch armenisch besiedelten Teils von Bergkarabach und im September 2023 gewann Aserbaidschan mit einer eintägigen Blitzoperation die vollständige Kontrolle über die Region. Daraufhin flohen mehr als 100.000 Menschen aus Bergkarabach nach Armenien, was dort erstaunlicherweise nicht zu einer nachhaltigen innenpolitischen Destabilisierung führte.
Die Ereignisse im Südkaukasus ab Herbst 2020 zeigen dreierlei. Erstens: Vermeintlich eingefrorene beziehungsweise ungelöste Konflikte können rasch auftauen und sich zu heißen Kriegen mit unabsehbaren Folgen ausweiten. Zweitens: Autoritäre Herrscher besitzen wenig bis gar keinen Respekt mehr vor dem Völkerrecht oder regulativen Institutionen und betrachten Gewalt oder Krieg als ein probates Mittel der Konfliktlösung. Das gilt für Ilham Alijew, das galt vor 2020 und vor allem danach für Wladimir Putin. Drittens: Die Konflikte im Südkaukasus stehen für ein umfängliches politisch-diplomatisches Versagen der internationalen Gemeinschaft, sowohl in Gestalt individueller Akteure oder Staaten als auch internationaler Organisationen wie der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) oder den Vereinten Nationen. Weil die 1992 gegründete Minsk-Gruppe der OSZE zur Beilegung des Konfliktes um Bergkarabach unter Leitung von Frankreich, Russland und den USA in fast 30 Jahren keinerlei Ergebnisse zu erzielen vermochte, entschied sich Aserbaidschan 2020, den Konflikt mit Waffengewalt zu lösen. Dass entschiedene internationale Reaktionen auf das gewaltsame Vorgehen Alijews weitestgehend ausblieben, wurde wiederum im Kreml genau beobachtet und mag dazu beigetragen haben, Putin zu seinem Vorgehen in der Ukraine anderthalb Jahre später zu ermutigen.
Die Situation zwischen Armenien und Aserbaidschan bleibt auch nach der vollständigen Einnahme von Bergkarabach durch Aserbaidschan und dem Exodus der Armenier fragil. In Armenien wird befürchtet, dass Aserbaidschan seine militärische Überlegenheit ausnutzen und weitere Zugeständnisse gewaltsam erzwingen könnte, etwa einen exterritorialen Zugang zu seiner Exklave Nachitschewan über armenisches Territorium. Diese Befürchtungen werden durch aggressive Rhetorik Alijews geschürt. Das veranlasste das bislang einseitig und fast ausschließlich von Russland abhängige Armenien, damit zu beginnen, das militärische Ungleichgewicht gegenüber Aserbaidschan durch eine Diversifizierung seiner Waffeneinkäufe vor allem in Indien und Frankreich abzubauen. Dies wird in Baku wiederum sehr misstrauisch beobachtet, wo es heißt, dass Aserbaidschan im Falle „ernsthafter Bedrohung“ mit „ernsthaften Maßnahmen“ antworten werde.
So zeichnet sich im Südkaukasus ein neues Wettrüsten zwischen zwei Ländern ab, die ohnehin schon zu den am stärksten militarisierten Staaten der Welt gehören. Gleichzeitig versuchen Baku und Jerewan seit Monaten, einen Friedensvertrag auszuhandeln, wobei es zuletzt durchaus Fortschritte bei Fragen des Gebietsaustauschs und der Demarkation der Grenze gab. Das allerdings bedeutet nicht, dass ein Abkommen bald unterschriftsreif ist. Die Verhandlungsdynamik zwischen Armenien und Aserbaidschan gleicht einer Achterbahnfahrt, bei der es immer wieder Russland ist, das für Talfahrten sorgt. Insbesondere Alijew scheint von Moskau angehalten zu werden, ein Friedensabkommen nicht zu unterzeichnen oder diesen Prozess so lange wie möglich zu verzögern. Es wird sogar spekuliert, dass Russland versucht, Aserbaidschan zu einem weiteren militärischen Vorgehen gegenüber Armenien zu drängen, damit Moskau und Baku Kontrolle über Transportwege im Süden Armeniens erhalten, gleichzeitig die armenische Regierung geschwächt wird und Russland wieder mehr innenpolitischen Einfluss in Armenien erlangt. Moskau macht keinen Hehl daraus, dass es über die Hinwendung Armeniens zu anderen Partnern unglücklich ist und droht der Regierung in Jerewan offen und wiederholt mit einem ukrainischen Szenario.
Aktuell verhandeln Armenien und Aserbaidschan weitestgehend bilateral und vor allem wenig öffentlich, was dem Prozess zuträglich ist. Sollte es in absehbarer Zeit tatsächlich zu einem Abkommen zwischen Armenien und Aserbaidschan kommen, wäre das zwar noch keine Garantie für einen dauerhaften Frieden. Ein Abkommen aber könnte – je nachdem, wie umfassend es ausfällt – eine wichtige Grundlage dafür sein, die politischen, wirtschaftlichen und zwischenmenschlichen Beziehungen zu normalisieren und vorsichtig Vertrauen aufzubauen. Angesichts der jahrzehntelangen Feindschaft zwischen den beiden Ländern ist allerdings kaum vorstellbar, dass die praktische Ausgestaltung eines Friedensvertrags beziehungsweise ein darauf gründender Versöhnungsprozess langfristig Erfolg haben können ohne externe Bürgen oder einen Vermittler – der aber nicht Russland sein kann.
Der „Spoiler“
Gegenüber der schwer vorhersagbaren Krisendynamik zwischen Armenien und Aserbaidschan scheinen die Konflikte in Georgien auf den ersten Blick übersichtlich. Zudem zeigt sich hier ein Muster deutlicher, das den Südkaukasus seit Anfang der 1990er-Jahre prägt: Nach dem Zerfall der Sowjetunion hat Russland in praktisch allen Kriegen und Krisen in der Region eine direkt oder indirekt destruktive Rolle gespielt. Das passierte offen, wie im Krieg mit Georgien 2008, halboffen, wie bei der Unterstützung der abchasischen Separatisten 1992/1993, oder verdeckt, wie im Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan, in dem Russland 30 Jahre lang nicht nur beide Seiten systematisch aufrüstete, sondern auch immer wieder aktiv zu verhindern versuchte, dass die Parteien zu einer Einigung kommen. Die Logik dahinter war einfach: Verständigen sich Armenien und Aserbaidschan oder gewinnt Georgien Kontrolle über sein gesamtes Territorium, verliert Russland einen „Einflusshebel“ in der Region.
Die Konflikte in Georgien gehen auf den georgisch-abchasischen Krieg 1992/1993 und den anschließenden Bürgerkrieg in weiteren Teilen des Landes zurück, in dessen Folge die Zentralregierung in Tiflis die Kontrolle über ursprünglich drei Regionen (Abchasien, Südossetien, Adscharien) verlor. 2004 vermochte Präsident Micheil Saakaschwili Adscharien wieder in den georgischen Staat einzugliedern, was im Fall von Südossetien und Abchasien durch Russland verhindert wurde. Obwohl die beiden Konflikte als eingefroren gelten, gibt es immer wieder Zwischenfälle, zuletzt im November 2023, als russische Sicherheitskräfte einen Georgier an der Kontaktlinie zu Südossetien erschossen.
Während es für den Kreml beim ethnisch motivierten Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan einfach ist, Öl ins Feuer zu gießen, war und ist die Gemengelage in Georgien komplizierter. Schon unter Präsident Eduard Schewardnadse (1992 bis 2003), der eine konsequente Westanbindung Georgiens betrieb, hatte Russland schrittweise Einfluss auf die außenpolitische Ausrichtung des Landes verloren. Dieser Prozess beschleunigte sich in der Amtszeit des dezidiert pro-westlichen Präsidenten Saakaschwili (2004 bis 2012), der auch die Rolle der russischen Sprache in georgischen Schulen oder die Sendemöglichkeit russischer Medien beschränkte. Russland überzog daraufhin den südlichen Nachbarn mit Embargos, kappte die Gasversorgung, marschierte im August 2008 ein und hält seitdem faktisch 20 Prozent des georgischen Territoriums besetzt. Zudem schuf Moskau mit dem Milliardär Bidsina Iwanischwili ab 2012 ein weiteres Instrument, um Einfluss auf die Situation in Georgien zurückzugewinnen. Iwanischwili ist ein Oligarch, der sein Vermögen von aktuell circa sieben Milliarden Euro im Russland der 1990er-Jahre gemacht hat und dort trotz gegenteiliger Bekundungen immer noch Wirtschaftsinteressen besitzt. Die von ihm gegründete Partei des Georgischen Traums (GT) gewann die Parlamentswahlen 2012 gegen Saakaschwili und regiert seitdem Georgien. Iwanischwili sprach sich von Beginn an für eine Normalisierung der Beziehungen zu Russland aus, doch war es für seine Regierung bei einer stabil pro-europäischen und pro-transatlantischen georgischen Bevölkerung zunächst schwierig, eine offen russlandfreundliche Politik zu verfolgen.
Schleichend vergrößerte sich gleichwohl Russlands Einfluss in Georgien, vor allem über undurchsichtige wirtschaftliche Beteiligungen. In dem zunächst im März 2023 eingebrachten und im April 2024 wieder vorgelegten „Agentengesetz“ kulminieren zahlreiche russlandfreundliche politische Entscheidungen der Regierung in den vergangenen Jahren, etwa die Einsetzung eines für Russland arbeitenden Generalstaatsanwaltes, die Wiederaufnahme von Direktflügen mit Russland oder Einreiseverbote für russische Regimekritiker.
Mit dem „Agentengesetz“ spitzt sich eine innenpolitische Krise zu, die seit langer Zeit in Georgien schwelt und die durch die Parlamentswahl im Oktober noch vertieft wurde. Angesichts der umfänglichen und systematischen Fälschung der Wahl hat die Regierung einen grundlegenden Demokratietest nicht bestanden. Zudem drängt sich die Vermutung auf, dass die russische Infiltrierung wesentlicher staatlicher Institutionen in Georgien viel weitgehender ist, als bislang angenommen. Darauf hatte bereits ein Wahlkampf hingedeutet, in dem die Regierung ein Narrativ bediente, mit dem sie seit Russlands Invasion der Ukraine die Stimmung im Land anzuheizen sucht: Der Westen will demnach Georgien in einen Krieg mit Russland hineinziehen und die Wahl im Oktober wurde als Wahl zwischen Krieg (Opposition) und Frieden (GT) dargestellt.
Iwanischwili selbst schürte die Angst vor einer obskuren „Global War Party“ und radikalisierte den ohnehin schon unversöhnlichen Ton in einer manipulativen und unsachlichen Auseinandersetzung weiter. Ein komplexer Angriff auf die Integrität der Wahlen, darunter beispielloser Stimmenkauf, Masseneinschüchterung und direkte Manipulation, führten zu einem Wahlergebnis, das nicht den Willen des georgischen Volkes widerspiegelt und dem genauso die Legitimität fehlt wie jeder künftigen georgischen Regierung, die auf der Grundlage dieses Ergebnisses gebildet wird.
Aufgrund der aktiven russischen Einflussnahme auf die willfährige Regierung eines abhängigen Oligarchen befindet sich Georgien aktuell in einer der tiefsten innenpolitischen Krisen seit seiner Unabhängigkeit, die auch regionale Implikationen besitzt: Sollte das Land wegen der massiv gefälschten Wahlen von der EU mit Sanktionen belegt werden, hätte dies auch negative Auswirkungen auf die Annäherung zwischen der EU und dem isolierten Armenien, für das Georgien eine wichtige „Brücke“ nach Europa ist.
Abb. 1: Konfliktregionen im Südkaukasus
Achse des Aufruhrs oder „Great Game“ im Südkaukasus
Neben den unmittelbaren Konflikten gibt es globale Bruchlinien, die durch den Südkaukasus verlaufen und die potenzielle, langfristige Krisen indizieren. Der Kern ist dabei eine in der Region manifeste Systemkonkurrenz zwischen repressiv-autoritären und liberal-demokratischen Staaten, die wie ein entferntes Echo der Konflikte in der Ukraine und in Nahost klingt. Im Mittelpunkt steht eine autokratische Achse, die von Russland über den Iran nach China und Nordkorea verläuft und die immer aggressiver die westlichen Demokratien und die liberale Ordnung herausfordert.
Im Südkaukasus sind sich diese vier Akteure geografisch so nahe wie vielleicht nur noch in Zentralasien. Auf jeden Fall versuchen sie hier aktiv, vor allem infrastrukturell ihre Zusammenarbeit zu stärken. Dabei geht es nicht nur um die Umgehung von Sanktionen oder das Durchbrechen von politischer Isolation, sondern langfristig um die Schaffung von Wertschöpfungsketten, die Kontrolle über Transportwege sowie die Etablierung neuer regulativer Vereinbarungen (monetäre Systeme, Energiemärkte).
Als erkennbares Ziel soll im Südkaukasus ein wirtschaftlicher Hub entstehen, der von Russland, Iran und China umfassend kontrolliert wird, wobei es dem Westen unmöglich gemacht wird, den Warenverkehr zu verfolgen oder gar zu unterbinden. Das ist besonders im Falle des Transportes von Militärgütern von Bedeutung, wie die Lieferung iranischer Drohnen an Russland über das Kaspische Meer seit 2022 zeigt. Vor diesem Hintergrund ist vereinzelt bereits von einem neuen „Great Game“ im Südkaukasus die Rede, bei dem es um die Kontrolle von wirtschaftlichen, logistischen und militärischen Dynamiken in der Region geht, die globale Konflikte in der Zukunft mitzubestimmen vermögen.
Zwei konkrete Beispiele illustrieren die Herausforderungen für den Westen, die von der verstärkten geoökonomischen Kooperation der autokratischen Achse im Südkaukasus ausgehen:
- Der Internationale Nord-Süd-Transportkorridor (International North-South Transport Corridor, INSTC) wird als ein historisches Konnektivitätsprojekt annonciert, das Waren- und Personenverkehr über einen effizienten Transportweg von Asien nach Nordeuropa organisiert. Dabei ist zwar vom Zugang Zentralasiens zu westlichen Märkten die Rede, tatsächlich geht es aber vor allem um Kontrolle über Transportrouten, denn der Korridor verläuft im Wesentlichen durch Russland und den Iran. Der Südkaukasus ist ein entscheidendes Nadelöhr, die Einbindung von Armenien und Aserbaidschan in das Projekt essenziell. Für Europa wäre eine weitere Stärkung der russisch-iranischen Allianz, die sowohl in der Ukraine als auch in Gaza koordiniert gegen den Westen arbeitet, ungünstig.
- Ein weiteres großes Infrastrukturprojekt in der Region ist der Bau eines Tiefseehafens in Anaklia an der georgischen Schwarzmeerküste. Der Hafen gilt als Schlüsselelement für einen effizienteren Warentransport von Asien nach Europa. Bis 2018 von privaten Investoren mithilfe eines westlichen Konsortiums vorangetrieben, wurde es vom Georgischen Traum gestoppt und lag mehrere Jahre auf Eis. 2023 von der georgischen Regierung neu ausgeschrieben, ging der Auftrag in einem intransparenten Verfahren an ein chinesisches Konsortium mit Staatsfirmen, die von den USA sanktioniert sind, weil sie zum „militärisch-industriellen Komplex“ in China gehören. Ähnlich wie im Fall des INSTC implizierte ein von China gebauter Hafen die Kontrolle Pekings über einen Transportflaschenhals von überregionaler Bedeutung und wäre zudem ein Einfallstor für Russland, das wenige Kilometer nördlich von Anaklia in Abchasien georgisches Territorium besetzt hält.
Die Versuche der autoritären Protagonisten, die Region neu zu gestalten, werden durch das komplizierte Beziehungsgeflecht im Südkaukasus und eine Rivalität gestört, die durchaus kurzfristiges Konfliktpotenzial beinhaltet: Im Mittelpunkt steht dabei die strategische Allianz zwischen Israel und Aserbaidschan, das den zweiten Bergkarabach-Krieg auch wegen moderner israelischer Waffen für sich entscheiden konnte. Israel bezieht im Gegenzug 40 Prozent seines Öls aus Aserbaidschan und nutzt das Land vermutlich als operative Basis für Aktionen gegen den Iran. Das führt immer wieder zu Spannungen zwischen Teheran und Baku, die zusätzliche Brisanz dadurch erhalten, dass im Nordiran eine große aserbaidschanische Minderheit lebt. Auch das iranisch-aserbaidschanische Verhältnis gleicht einer Achterbahnfahrt: Beide Seiten sind geübt darin, Sezessionsbestrebungen der iranischen Aserbaidschaner anzuheizen oder das Existenzrecht von Aserbaidschan infrage zu stellen, dann aber auch wieder in realpolitischen Pragmatismus zu verfallen. Und so oszillieren die bilateralen Beziehungen zwischen großangelegten Drohgebärden in Form von Militärmanövern am Grenzfluss Arax wie im Herbst 2022 und der gemeinsamen Einweihung eines Wasserkraftwerks an ebendiesem Fluss im Mai 2024.
In diesem komplexen Beziehungsgeflecht liegt es nah, dass Armenien den Schulterschluss mit dem Iran sucht und sich im Konfliktfall vielleicht keinen militärischen Beistand, zumindest aber offene politische Unterstützung aus Teheran erhofft. Weniger klar ist demgegenüber das Verhältnis zwischen Aserbaidschan und der Türkei, die durch Ausbildung des aserbaidschanischen Militärs und Lieferung moderner Waffen maßgeblich zum Ausgang des zweiten Bergkarabach-Krieges beigetragen hat, sich gleichzeitig in Bezug auf Israel aber diametral entgegengesetzt positioniert. Die Türkei – und das sorgt in Brüssel durchaus für Kopfschmerzen – wird der Akteur sein, der das Vakuum füllen wird, das durch eine potenziell schwindende Rolle Russlands im Südkaukasus entstünde.
„Diebe im Gesetz“
Im postsowjetischen Raum sind viele inter- wie innerstaatliche Konflikte von einem wenig beachteten Phänomen beeinflusst, das gerade im Südkaukasus besonders ausgeprägt war und ist. Zurückgehend auf die Lagerwelt des Gulags bildete sich in den 1950er-Jahren der Typus eines sowjetischen Kriminellen heraus, der durch die brutale Gefangenenhierarchie des Lagersystems geformt war. Diese sogenannten Diebe im Gesetz (russisch: „Vory v sakone“) regelten den Lageralltag und stellten ihre eigenen Gesetze in einer Art Parallelrealität auf, die sich nach Stalins Tod auch auf die sowjetische Gesellschaft außerhalb der Lager ausweitete. Das „Diebesgesetz“ ging einher mit einer Ablehnung von staatlichen Strukturen beziehungsweise einer Weigerung, mit staatlichen Behörden zusammenzuarbeiten. In dieser Parallelwelt herrschten strenge Ehrenkodizes, Geld wurde vor allem durch Raubüberfälle und Erpressungen erwirtschaftet, kriminellen Autoritäten wurde blind gehorcht. Je deutlicher die kommunistische Ideologie zur Farce mutierte, der Staat an Respekt und Ansehen verlor und die sowjetischen Beamten als Lügner, Ausbeuter und Manipulatoren entlarvt schienen, desto unaufhaltsamer rückte das „Diebesgesetz“ in die gesellschaftliche Mitte.
Die goldene Ära der „Diebe im Gesetz“ waren die 1970er-Jahre unter Breschnew, sie prägten aber auch Armenien und Georgien in den ersten Jahren der Unabhängigkeit und sind bis heute in beiden Ländern weder aus dem öffentlichen noch aus dem politischen Raum verschwunden. Zwar wird das Phänomen gemeinhin mit der „Unterwelt“ oder dem Mafia-Milieu in Verbindung gebracht, gleichwohl waren in den vergangenen 20 Jahren in vielen ehemaligen Sowjetrepubliken de facto „Diebe im Gesetz“ in herausgehobenen politischen Positionen tätig. Sei es Wiktor Janukowitsch als Präsident der Ukraine von 2010 bis 2014, Vladimir Plahotniuc als Schattenmann in der Republik Moldau von 2010 bis 2019 oder eben Bidsina Iwanischwili in Georgien seit 2012. Iwanischwili (Spitzname in Russland: Anakonda) kopiert mit seiner informellen Herrschaft und ausgeprägten Abneigung gegen staatliche Ämter vermutlich am deutlichsten das sowjetische Schema.
Gemein ist diesen „Dieben im Gesetz“ des 21. Jahrhunderts die entschiedene Ablehnung eines europäischen Demokratieverständnisses, das auf Rechtsstaatlichkeit und Rechenschaftspflicht gründet und die Teilung von Macht beziehungsweise Machtwechsel vorsieht. Deshalb sehen sie eine europäische Integration ihrer Staaten als Gefahr, das „Agentengesetz“ in Georgien soll genau diese abwenden. Wie in der Sowjetunion lassen sich einige „Diebe im Gesetz“ – dafür stehen Figuren wie Alijew, Lukaschenka oder Putin – ihre Allianz aus Politik und organisierter Wirtschaftskriminalität durch Geheimdienste absichern. Da sie den Staat nicht abschaffen können, versuchen sie, ihn sich anzueignen und Gesetze zu installieren, die nur sie selbst definieren. Außenpolitisch – und das scheint noch gravierender – lehnen sie internationale Normen, Verträge und Institutionen ab und streben stattdessen eine Welt an, der sie ihr selbst gestricktes, rücksichtsloses Diebesgesetz 2.0 aufzuzwingen versuchen. Für eine Einordnung der Krisen im Südkaukasus und – weiter gefasst – im postsowjetischen Raum ist ein Verständnis der politischen Mentalität dieser „Diebe im Gesetz“ vor allem in den autoritär verfassten Staaten wichtig.
Europas strategische Interessen im Südkaukasus
Die EU besitzt gute Instrumente, um nachhaltig zur Krisenprävention oder Konflikttransformation in der Region beizutragen – häufig werden diese jedoch nicht konsequent eingesetzt. Die Einrichtung einer zivilen Beobachtermission in Armenien zur Stabilisierung der Situation an den Grenzen im Jahr 2023 ist ein positives Beispiel dafür, welchen Einfluss die EU vor Ort tatsächlich ausüben kann, wenn es einen politischen Willen gibt. Vor allem das wirtschaftliche Engagement Europas im Südkaukasus könnte weiter ausgebaut und müsste stärker von politischer Einflussnahme begleitet werden.
Wichtig ist, dass sich die EU bereit zeigt, ihr Interesse an Stabilität und einer demokratischen Entwicklung der Länder im Südkaukasus umfassend zu definieren und zu verfolgen. Schwerpunkte müssten dabei – wie es eine Studie von Clingendael empfiehlt – auf Sicherheit, Wirtschaft sowie auf geopolitischen und normativen Dimensionen liegen. Der Arbeit der EU-Delegationen vor Ort, Instrumenten wie der Europäischen Friedensfazilität und dem Engagement von Finanzinstitutionen wie der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung kommen dabei Schlüsselrollen zu.
Zwischen Russland, der Türkei und dem Iran sowie dem Schwarzen und dem Kaspischen Meer gelegen, steht in der nur vermeintlich peripheren Region des Südkaukasus für Europa viel auf dem Spiel. Ein langfristiger und strategischer Blick auf die Region als Ganzes ist geboten. Die Formulierung einer aktuellen Südkaukasus-Strategie, die deutlich über Absichtserklärungen hinausgeht, erscheint überfällig.
Stephan Malerius ist Leiter des Regionalprogramms Politischer Dialog Südkaukasus der Konrad-Adenauer-Stiftung mit Sitz in Tiflis.
Für eine vollständige Version dieses Beitrags inkl. Quellenverweisen wählen Sie bitte das PDF-Format.