Ausgabe: 582/2023
Zwei Männer. Eine Frau. Schon die konfrontierende Nennung der Hauptpersonen in der biblischen Susanna-Erzählung (Daniel 13,1–64) weckt Unbehagen. Zwei Männer gegen eine Frau – ein besorgniserregendes Ungleichgewicht. Das sich noch erhöht, wenn man das Machtgefälle zwischen den Figuren bedenkt: zwei gesellschaftlich hoch angesehene Würdenträger gegen eine junge Ehefrau und Mutter. Doch die Spannung steigt noch weiter: Die zwei Ältesten dringen in die Privatsphäre der Frau ein, ihr häusliches Umfeld, den eingehegten Garten. Susanna ahnt nicht, dass die Männer ihr dort voller Begierde auflauern. Es ist ein heißer Tag. Die junge Frau möchte sich in trauter Einsamkeit beim Bad erfrischen.
Sie schickt ihre Dienstmägde fort; es wird keine Zeugen des Überfalls, der sexuellen Nötigung, geben. Die beiden Alten stürzen aus dem Gebüsch: „Schlaf mit uns oder wir verleumden dich wegen Ehebruchs!“ Susanna widersetzt sich.
Wenige Stichworte vom Beginn der jahrtausendealten, ursprünglich vorchristlichen Susanna-Erzählung genügen, um in unseren Köpfen einen Film ablaufen zu lassen, der vor dem Hintergrund der #MeToo-Debatte geradezu erschreckende Aktualität besitzt. Dieser Film kann sich – je nach persönlichem Empfinden oder individueller Erfahrungswelt – als biblisches Historienspektakel, Psycho- oder Erotikthriller, als erbauliches Tugendepos oder sozialkritische respektive feministische Anklage entwickeln. Aber auch als Gerichtsdrama: zunächst ein Todesurteil für die unschuldig verleumdete Susanna, gefolgt von dem plötzlichen Eingreifen des jungen Daniel, dem ersten Kreuzverhör der Kriminalgeschichte, das zur Überführung und Hinrichtung der wahren Schuldigen, der Alten, führt. Happy End!
Eigentlich ist es eine wunderbare Gesellschaftsutopie: Ein Kind und eine Frau siegen über Machtmissbrauch, Korruption und öffentliche Schmutzkampagne. Während jedoch die ältere Septuaginta-Fassung der Erzählung nur von einem Spaziergang Susannas im Park ihres Anwesens berichtete, insinuiert die später in die Bibel übernommene Theodotion-Fassung mit dem Hinweis auf das Bad der Susanna eine folgenreiche Erotisierung und das Bild der nackten Susanna.[1] In beiden Versionen wird Susanna zudem vor Gericht und der versammelten Öffentlichkeit schamvoll entschleiert, um die sinnliche Begierde der Alten nach ihrer Schönheit zu stillen. Liefert die Erzählung damit also doch nur ein Zeugnis frauenfeindlicher Strukturen und den Vorwand für schwüle Pin-up-Motive?
Vermeintlich „unweiblicher Blick“
„Man lässt eine nackte Frau zwischen zwei Liebhabern baden, zum Verderb der guten Sitten, als Gift für das Auge – Und das soll dann noch eine Susanna, eine keusche Frau sein?“[2] Mit diesen harschen Worten empörte sich der niederländische Prediger Johannes Evertsz Geesteranus Anfang des 17. Jahrhunderts über das Bildmotiv der Susanna im Bade, das spätestens seit 1500 zu einem der beliebtesten Themen der europäischen Kunst avancieren sollte – für eine männliche, aber auch weibliche Klientel. Rund 450 Jahre später klingt die feministische Kritik an den Susannenbildern verblüffend ähnlich. So schrieb etwa die Kunsthistorikerin Mary D. Garrard: „Es ist schon ein bemerkenswertes Zeugnis des unbändigen männlichen Egos, wenn ein Bibelthema, das sich mit dem Tugendexempel weiblicher Keuschheit beschäftigt, in der Malerei zur Feier einer sexuell ausbeutbaren Gelegenheit wird.“[3]
Der vermeintlich „unweibliche Blick“ auf Susanna in einem Gemälde der italienischen Barockkünstlerin Artemisia Gentileschi (heute in Stamford, The Burghley House Collection) weckte bei Garrard sogar Zweifel an der Eigenhändigkeit. Eine Künstlerin und Frau wie Artemisia, die selbst in jungen Jahren Opfer einer Vergewaltigung geworden war,[4] könne wohl kaum in dieser Form männlicher Schaulust frönen – so ihr Einwand.
Werfen wir einen genaueren Blick auf das Gemälde, so mögen wir Garrard zunächst Recht geben: Wir sehen eine nackte junge Frau auf einer Brunnenbank sitzend, die Unterschenkel im Wasser. Das helle Licht fokussiert auf ihren Körper und lässt ihn aus der dunklen Brunnenarchitektur geradezu hervorquellen. Susanna vermag ihre Blöße mit dem weißen Hemd kaum zu bedecken. Schutzlos ist sie sowohl den Blicken des Bildpublikums als auch der beiden Alten ausgeliefert, die sich bedrohlich hinter und über ihr auftürmen, gaffend und mit dem Zeigefinger Schweigen gebietend. Die übermächtige Brunnenschale und der Skulpturenschmuck – Putti, unzüchtig auf Delfinen reitend – stehen einer Flucht im Wege. Susanna duckt sich unter der allseitigen Bedrängnis und richtet den Blick hilfesuchend zum Himmel.
Zeugen statt voyeuristische Mittäter
Keine physische Gegenwehr, die man an anderen Susannen beobachten kann, ist zu entdecken, zum Beispiel ein abwehrender Arm, den Artemisias Susanna aus dem Jahre 1610 erhebt (heute Pommersfelden, Sammlung Schönborn). Ein beherzter Griff an den Bart oder in das Gesicht eines Alten, eine obszöne Geste wie der Stinkefinger, den Susanna schmähend den Alten zeigt, oder ein lauter Schrei, der Öffentlichkeit herstellt und nach alttestamentlicher Rechtsauffassung den Widerstand und somit die Unschuld der Frau bezeugt – diese Motive, die bei Artemisias männlichen Kollegen stellenweise begegnen, fehlen ebenso wie der Augenkontakt und Appell an uns, ihr als Zeugen des Geschehens mitleidend zu Hilfe zu kommen, anstatt voyeuristische Mittäterschaft zu begehen. Zudem stellt Artemisia Susannas Schönheit offensiv zur Schau, bis hin zu den glitzernden Perlenohrringen. Wird ihr also unterstellt, dass sie die geilen Blicke, die sexuelle Nötigung kokett provoziert? Findet hier unachtsames oder gar absichtliches victim blaming statt?
Andererseits: Die von der modernen feministischen Forschung empfundene und beklagte Passivität Susannas vermittelte dem barocken Bildpublikum durchaus spirituellen Aktivismus. Der himmelnde Blick war Ausweis des aktiven, bekennenden Glaubens, von dem die Susanna-Erzählung berichtet, für Gottvertrauen und Todesmut, die vorbildliche Bereitschaft, für ihre Überzeugung und Tugend zu sterben. Susanna als „wehrlos-starke“ Märtyrerin.
Artemisias Susanna distanziert sich nicht körperlich, sondern innerlich von der Bedrängung durch die Alten. Hierzu passt, dass im Unterschied zu vielen anderen Darstellungen in Artemisias Gemälde keinerlei körperlicher Kontakt, keine Berührung, keine physische Überschneidung von Susanna und den Alten stattfindet, abgesehen von Haarkranz und Ärmel – übrigens eine durchgängige Facette in den zahlreichen, höchst unterschiedlichen Susannen-Kompositionen der Künstlerin, mit denen sie ihrer (männlichen) Klientel immer wieder neue Lösungen anzubieten wusste.
Das besprochene Gemälde aus Burghley House gilt auch Garrard heute wieder als eigenhändiges Werk Artemisias, doch bleibt an diesem und anderen Beispielen zu klären: Tragen Künstler und Betrachter männliche Brillen, schauen Künstlerinnen und Betrachterinnen durch weibliche Linsen? Was will, was kann und was darf Kunst? Und wie betrachten wir die Kunst zurückliegender Generationen aus heutiger Sicht?
Diese Fragen bewegten uns im Team mit Roland Krischel bei den Vorbereitungen zur weltweit ersten Ausstellung über die biblische Susanna. Susanna. Bilder einer Frau vom Mittelalter bis MeToo (28. Oktober 2021 bis 26. Februar 2023) erkundete die unterschiedlichen Interpretationen des Themas. Die Schau untersuchte die Exponate – Gemälde, Grafiken und kunsthandwerkliche Artefakte bis hin zum Film Psycho von Alfred Hitchcock – im Lichte historischer und aktueller Geschlechterrollen sowie zugrunde liegender religiöser, politischer und sozialer Vorstellungen oder Vorurteile.
Bewusst wollten wir als Altmeister-Museum dabei zum aktuellen Diskurs beitragen und einen Resonanz- und Diskussionsraum eröffnen. Generationenübergreifend traf die Ausstellung auf großes Publikumsinteresse und wurde zum Kölner Kulturereignis des Jahres 2022 gewählt.[5] In Workshops für Schulklassen konnten wir beobachten, dass die Ausstellung von den jungen Besucherinnen und Besuchern gewissermaßen als geschützter Raum wahrgenommen wurde, wo anhand der Alten Meister persönliche Betroffenheit, Flirtverhalten, Übergriffigkeit und die Verletzbarkeit von Intimität, Körperbilder, Schönheitsideale oder Kleidungsetikette anund ausgesprochen und gemeinsam reflektiert werden konnten. Von entsprechendem Empowerment zeugt die durch Schülerinnen und Schüler kuratierte Nachhall-Schau Susanna & Du am Wallraf-Richartz-Museum (21. Juni bis 15. Oktober 2023). Sie präsentiert die von jungen Menschen als Reaktion auf die Ausstellung und im Licht der eigenen Lebenswirklichkeit geschaffenen Kunstwerke.
Ein Museum ist kein Mausoleum, sondern ein gesellschaftlicher Begegnungsraum. Die Ambivalenz im historischen Bildmotiv der Susanna zwischen malerischem Wettbewerb, ästhetischem Kunstgenuss sowie moralischer Erbauung einerseits und sexueller Gewalt, Voyeurismus, victim blaming, ja teils offen antijüdischer beziehungsweise antisemitischer Karikierung der beiden Alten andererseits müssen wir als Gesellschaft ansprechen … und aushalten.
Anja K. Sevcik, geboren 1966 in Mannheim, promovierte Kunsthistorikerin, Sammlungsleiterin für Barockmalerei, Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud, Köln.
[1] Vgl. dazu den Aufsatz von Christina Leisering im Ausstellungskatalog „Susanna. Bilder einer Frau vom Mittelalter bis MeToo“, hrsg. von Roland Krischel und Anja K. Sevcik, Köln 2022, S. 21–25.
[2] Vgl. den Aufsatz der Verfasserin im zitierten Ausstellungskatalog, bes. S. 73, www.wallraf.museum/ausstellungen/aktuell/2022-10-28-susanna/katalog/ [letzter Zugriff: 20.09.2023].
[3] Mary D. Garrard: Artemisia Gentileschi. The Image of the Female Hero in Italian Baroque Art, Princeton 1989, S. 191.
[4] Susanne Partsch (Artemisia Gentileschi, Wien/Graz 2023) erkennt neuerdings keine Vergewaltigung, sondern sieht den Prozess und die Anklage gegen Agostino Tassi durch sein nichteingelöstes Eheversprechen motiviert.
[5] Der Ausstellung widmete sich im Sommersemester 2023 zudem eine Bachelorarbeit im Fach Medienkulturwissenschaft der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br.: Hannah Sophie Müller, Raum in der multimodalen Diskursanalyse. Wie Museen über Raumästhetiken an gesellschaftlichen Debatten partizipieren – am Beispiel der Susanna-Ausstellung im Wallraf-Richartz-Museum, 28.10.2022–26.02.2023.
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