Ausgabe: 582/2023
Frau Professorin Rostalski, die Ampelkoalition setzt beim Thema Bioethik auf eine Regierungskommission, die Gesetzesreformen zu Leihmutterschaft, Eizellspende und Abtreibung ausloten soll. Dies ist teils deutlich kritisiert worden – zu Recht?
Frauke Rostalski: Dem Koalitionsvertrag der sogenannten Ampelregierung ist zu entnehmen, dass die mittlerweile eingesetzte Regierungskommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin unter anderem die Aufgabe hat, „die Regulierungen für den Schwangerschaftsabbruch außerhalb des Strafgesetzbuches sowie die Möglichkeiten zur Legalisierung der Eizellspende und der altruistischen Leihmutterschaft zu prüfen“. Mit Blick auf die Vorschrift des Paragraphen 218 Strafgesetzbuch (StGB) zum Schwangerschaftsabbruch lässt sich dies aus meiner Sicht aus unterschiedlichen Gründen kritisieren. Zunächst stellt sich die Frage, was Veranlassung dazu gegeben hat, an dieser Gesetzeslage etwas ändern zu wollen. Im Hinblick auf den Schwangerschaftsabbruch sehe ich keine auch nur im Ansatz so ausgeprägte Veränderung gesellschaftlicher Wertvorstellungen wie bei den Themen Leihmutterschaft und Eizellspende.
Die aktuelle Regelung des Schwangerschaftsabbruchs in den Paragraphen 218 ff. StGB ist zwar in mehrfacher Hinsicht kritikwürdig – sie ist sicherlich nicht Ausdruck höchster Gesetzgebungskunst. Allerdings muss man sehen, dass dieses Regelungskonzept durch das Bundesverfassungsgericht eingefordert wurde und abgesegnet ist. Zugleich markiert es einen gesellschaftlichen Kompromiss, der auch für Rechtsfrieden gesorgt hat. Vor diesem Hintergrund erscheint es mir wichtig, kritisch zu fragen, ob es sich lohnt, diesen Zustand des Rechtsfriedens zu gefährden, indem an einer Rechtslage ohne starken zivilgesellschaftlichen Impuls Veränderungen vorgenommen werden. Der Gesetzgeber sollte hier meiner Ansicht nach vorsichtig sein: Die Regulierung des Schwangerschaftsabbruchs berührt elementare gesellschaftliche Moralvorstellungen. Veränderungen können auch negative, nämlich destabilisierende Effekte haben. Auch wenn es nicht unvorstellbar ist, dass das Bundesverfassungsgericht seine Rechtsprechung nicht aufrechterhält: Die gesellschaftlichen Zerwürfnisse infolge geänderter Gesetze und höchstrichterlicher Entscheidungen zum Schwangerschaftsabbruch, wie wir sie in den USA sehen, wünsche ich mir für Deutschland nicht. Auch deshalb finde ich, dass man einen einmal gefundenen Rechtsfrieden nicht leichtfertig verspielen sollte. Unabhängig davon halte ich es aus verfassungsrechtlichen Gründen für fragwürdig, eine gänzliche Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs anzustreben. Es widerspräche der verfassungsrechtlichen Pflicht zum Schutz des menschlichen Lebens (auch des Ungeborenen), gänzlich auf den Einsatz auch des Strafrechts zu verzichten.
Die Kommission umfasst achtzehn Mitglieder, davon fünfzehn Frauen und drei Männer. Ein Drittel gehört dem feministisch geprägten Deutschen Juristinnenbund (djb) an. Dagegen gibt es keine Kirchenvertreter. Liegt darin eine Absage an Versuche, gesamtgesellschaftliche Lösungen zu finden?
Frauke Rostalski: Eine Mitgliedschaft im djb ist kein Grund, eine spezifische Voreingenommenheit zu vermuten. Zudem weisen alle Mitglieder der Kommission eine akademische Anbindung auf, zumeist an einer Universität. Es bestehen daher für mich keine Zweifel, dass auch ihre Arbeit in der Kommission von einem wissenschaftlichen und damit am Erkenntnisgewinn ausgerichteten Maßstab geprägt ist. Dazu gehört, in seine eigenen Erwägungen und Abwägungsentscheidungen sämtliche Belange einzubeziehen, die in der Gesellschaft vertreten werden – und damit natürlich auch die Wertvorstellungen religiös geprägter Menschen.
Im Übrigen halte ich nichts von der mittlerweile doch recht verbreiteten Annahme, Menschen könnten sich lediglich in Belange hineindenken, die sie zum Beispiel aufgrund ihres Geschlechts potenziell selbst betreffen. Daher sehe ich auch in dem Frauenüberschuss in der Kommission keinen Makel: Frauen können sich durchaus ein Bild davon machen, welche Interessen anderer Gesellschaftsmitglieder – und damit auch der Männer – im Kontext des Schwangerschaftsabbruchs berührt sind und wie schwer diese in einer Abwägung wiegen. Als problematisch beurteile ich allerdings, wenn im Vorfeld der Kommissionsarbeit relativ klare Erwartungshaltungen von politischer Seite formuliert werden. Ich denke hier an Äußerungen der Bundesfamilienministerin. Für die Arbeit der Kommission ist dies eine Hypothek.
Im vergangenen Sommer hat der Bundestag beschlossen, das Werbeverbot für Abtreibungen, den Paragraphen 219a StGB, vollständig abzuschaffen. Der mühsam ausgehandelte Kompromiss der Großen Koalition vom Februar 2019 ist damit Makulatur. Wie bewerten Sie das?
Frauke Rostalski: Ich halte es für sehr wichtig, dass Frauen unproblematisch Zugang zu fachlich zutreffenden und umfassenden Informationen über den Schwangerschaftsabbruch erhalten. Nur so können fundierte Entscheidungen getroffen werden. Allerdings halte ich es für falsch, hieraus die Konsequenz zu ziehen, die Werbung für einen Schwangerschaftsabbruch gänzlich aus dem Strafgesetzbuch zu streichen. Wir dürfen auch in diesem Kontext – selbst wenn es etwa bei der Werbung lediglich um Verhaltensweisen im Vorfeld eines Schwangerschaftsabbruchs geht – nicht vergessen, dass auch der frühere Paragraph 219a StGB dem Lebensschutz diente. Ein gewisser Vorfeldschutz erscheint mir angemessen, etwa bei grob anstößiger Werbung.
Infrage steht jetzt auch der Paragraph 218. Lässt sich Frauen gegenüber noch vermitteln, warum das Strafgesetzbuch Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch vorschreibt?
Frauke Rostalski: Ich denke, dass jedem Mitglied unserer Gesellschaft in Zusammenhang mit dem Schwangerschaftsabbruch klar ist respektive klar gemacht werden kann, dass hier verschiedene rechtlich schutzwürdige Interessen im Raum stehen, die miteinander in Einklang gebracht werden müssen. Paragraph 218 StGB begrenzt die Selbstbestimmungsfreiheit der schwangeren Frau – aber nicht willkürlich oder aufgrund überholter Moralvorstellungen, sondern zum Schutz des ungeborenen Lebens. Das menschliche Leben gehört zu den höchsten Gütern, die unsere Rechtsordnung kennt. Das Strafrecht nutzen wir als Gesellschaft, um den Schutz unserer höchsten Güter zu garantieren. Ich stimme dem Bundesverfassungsgericht daher zu, dass der Schutz des menschlichen Lebens auch durch das Strafrecht gewährleistet werden muss. Gerade weil die Gesellschaft in anderen Kontexten ganz genauso verfährt – Anwendung des Strafrechts zum Schutz höchster Rechtsgüter –, halte ich das nach wie vor für vermittelbar.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (1975 und 1993) ist das ungeborene Leben Träger des Grundrechts auf Leben und der Menschenwürde, und zwar ab der sogenannten Nidation (Einnistung) in die Gebärmutter. Warum wird diese Regelung aktuell infrage gestellt? Welche anderen Vorstellungen stehen zur Diskussion?
Frauke Rostalski: In der Debatte findet sich eine Vielzahl unterschiedlicher Positionen. Besonders prominent ist sicherlich die des Deutschen Juristinnenbundes, die ich hier exemplarisch anführen möchte. In seinem „Policy Paper“ zum Schwangerschaftsabbruch bestreitet der Deutsche Juristinnenbund nicht etwa das Lebensschutzrecht des Ungeborenen. Er geht aber davon aus, dass der Lebensschutz kontinuierlich wächst und erst ab dem Zeitpunkt der Geburt vollumfänglich erstarkt. Dieses Konzept soll es ermöglichen, das Lebensschutzinteresse des Ungeborenen mit den Rechtspositionen der Schwangeren abzuwägen und weitgehend zugunsten der Letzteren aufzulösen. Ich denke, dass hinter diesem und anderen Vorschlägen eine in einigen gesellschaftlichen Gruppen anzutreffende verstärkte Gewichtung des Selbstbestimmungsrechts der Schwangeren gegenüber dem ungeborenen Leben zum Ausdruck kommt. Das Pendel schlägt hier stärker in Richtung der Interessen der Schwangeren aus, was in eine Entkriminalisierung und weitgehende Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs umgemünzt wird. Wie ich schon sagte, sehe ich selbst allerdings nicht, dass diese Bewertung einem allgemeinen gesellschaftlichen Wandel der Wertvorstellungen entspricht.
Im Übrigen ist dem Grundgesetz, das allen Menschen gleiche Rechte zuspricht, eine solche Relativierung des Lebensschutzes, die im Konfliktfall auf dessen Irrelevanz hinausläuft, nicht zu entnehmen.
Es hat sich insofern aus meiner Sicht nichts Gravierendes verändert. Dass Paragraph 218 StGB derzeit infrage steht, führe ich eher darauf zurück, dass andere Bereiche der Reproduktionsmedizin, etwa die Eizellspende, in den allgemeinen Wertvorstellungen einer gesellschaftlichen Revision unterzogen werden und dies vonseiten der Regierung auf die Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch ausgedehnt wurde.
Die Regelung des Paragraphen 218 steht für einen hart erkämpften gesellschaftlichen Kompromiss. Haben sich Ihrer Meinung nach die gesellschaftlichen Gewichte zwischen Lebensschutz und Selbstbestimmungsrecht verschoben?
Frauke Rostalski: Ich sehe das nicht so. Was zutrifft, ist ein grundsätzlicher Wandel in der Gewichtung des individuellen Selbstbestimmungsrechts. Das wurde auch höchstrichterlich im Urteilsspruch des Bundesverfassungsgerichts zum früheren Paragraphen 217 StGB (Geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung) bestätigt. Wir erleben dies gesellschaftlich in vielen Bereichen: Die individuelle Freiheit, über die eigenen Geschicke zu entscheiden, wird von vielen Menschen immer höher eingestuft – und zwar nicht bloß dann, wenn es um Suizidassistenz geht. Allerdings setzt sich das Selbstbestimmungsrecht nicht einfach über andere, mit ihm kollidierende Interessen anderer hinweg. Im Fall des Schwangerschaftsabbruchs bedeutet eine Ausweitung des Schutzes der reproduktiven Selbstbestimmung eine Beschneidung des Lebensschutzes. Das ist eine ganz andere Konstellation als bei der Suizidassistenz, in der es um die Rechtsgüter (Selbstbestimmungsfreiheit und Leben) ein und desselben Menschen geht. Dieses Differenzierungsvermögen ist in unserer Gesellschaft vorhanden, weshalb auch aus einer zunehmenden Bedeutung der individuellen Selbstbestimmung aus meiner Sicht nicht ohne Weiteres geschlossen werden kann, dass der Lebensschutz weniger stark gewichtet wird als früher.
Setzen die Befürworter einer Reform darauf, dass das Bundesverfassungsgericht seine bisherige Rechtsprechung ändert? Etwa auch, weil zuletzt das Selbstbestimmungsrecht in Fragen des Suizids gestärkt worden ist?
Frauke Rostalski: Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts sprechen im Hinblick auf eine mögliche Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs eine eindeutige Sprache. Auf Basis dieser Rechtsprechung ist ein gänzlicher Verzicht auf das Strafrecht ausgeschlossen. Daher können Entkriminalisierungsbestrebungen kaum anders gelesen werden als ein Anstoß zur Abänderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung. Ob diese Hoffnung berechtigt ist, darüber mag ich nicht spekulieren. Allerdings kann aus meiner Sicht aus der höchstrichterlichen Entscheidung zum früheren Paragraphen 217 StGB nicht geschlussfolgert werden, dass auch das Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren gesetzlich zu stärken sei.
Wie gesagt, die Dinge liegen in Fällen der Suizidassistenz anders. Beim Schwangerschaftsabbruch stehen der Selbstbestimmungsfreiheit der Schwangeren die Interessen einer dritten Person – des Ungeborenen – entgegen. Dies muss rechtlich daher auch abweichend gewürdigt werden.
2022 erreichte die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche mit etwa 104.000 die höchste Zahl seit zehn Jahren. Es scheint, dass die „Schutzverpflichtung“ für ungeborenes Leben auch ohne eine weitere Liberalisierung nur schwer zur Geltung kommt. Sehen Sie dennoch Potenziale, wie das geschehen könnte, ohne dass dies zulasten der betroffenen Frauen ginge?
Frauke Rostalski: Es ist bedauerlich, dass die gesamte Debatte über die Regulierung des Schwangerschaftsabbruchs im Wesentlichen im Sinne einer Frontstellung zwischen der schwangeren Frau und dem Ungeborenen geführt wird. Auf diese Weise werden beide gegeneinander ausgespielt – ohne dass die zugrunde liegenden Probleme auch nur im Ansatz gelöst werden. Dies gilt übrigens auch für den Entkriminalisierungsansatz. Denn hier wird signalisiert, im Interesse der Frau die strafrechtliche Ahndung aufzuheben. Dieses Mehr an Freiheit könnte sich aber als Danaergeschenk entpuppen, denn der Sache nach hieße dies: Dann, wenn der Schwangerschaftsabbruch legal viel umfangreicher möglich ist und nicht mehr bestraft wird, liegt die Verantwortung dafür noch stärker als zuvor bei der Frau.
Und umgekehrt: Wenn sie sich für das Kind entscheidet, ist das ebenfalls ihre Verantwortung – und die Gesellschaft scheint aus dem Schneider zu sein. So ist es aber nicht. Richtigerweise sollten wir den Schwangerschaftsabbruch weniger als Konflikt zwischen der Schwangeren und dem Ungeborenen debattieren, sondern die Pflichten der Gemeinschaft gegenüber einzelnen vulnerablen Personen hervorheben. Schwangere Frauen, alleinerziehende Mütter, junge Familien, Kinder aus sozial benachteiligten Schichten bedürfen einer umfangreichen gesellschaftlichen Unterstützung. Die elementaren Fragen, die beim Thema Schwangerschaftsabbruch aufscheinen, betreffen nicht dessen Entkriminalisierung, sondern bewegen sich auf einer ganz anderen Ebene. Auf einer Ebene, die im Getöse um eine mögliche Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs neuerlich in den Hintergrund rückt.
Frauke Rostalski, geboren 1985 in Bad Nauheim, seit 2018 Inhaberin des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtsphilosophie und Rechtsvergleichung, Universität zu Köln, seit 2020 Mitglied des Deutschen Ethikrates.
Die Fragen stellte Bernd Löhmann am 29. Juni 2023.