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Satish Kumar, Reuters

Auslandsinformationen

„Hypernationalismus“?

von Fabian Blumberg

Identitäts- und Nationalismusdebatten am Golf

Wenige Regionen werden bezüglich ihrer wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und sicherheitspolitischen Verfasstheit durch derart massive Veränderungen herausgefordert wie die Golfstaaten. Veränderungen, die auch zu einer Auflösung bisheriger identitätsbildender Faktoren führen. An ihre Stelle treten heute Nationalisierungsprojekte, mit denen der Vorwurf einhergeht, die Golfstaaten verfolgten einen aggressiven „Hypernationalismus“.

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„With your blood you should protect the nation”

Am 29. November 2018 veröffentlicht die emiratische Tageszeitung The National einen Bericht über die Entwicklung des Nationalfeiertags in den Vereinigten Arabischen Emiraten (­VAE). Dabei stellt sie unter anderem dar, wie während eines Konzerts am Nationalfeiertag 2017 die fiktionale Geschichte eines Jungen erzählt wird, der sich zum Militärdienst, der in den ­VAE als „Nationaler Dienst“ bezeichnet wird, verpflichtet. Seine Mutter sagt zu ihm: „With your blood you should protect the nation and when it calls upon you, you must answer with your soul before your body.“ Es ist eine Sprache, die ebenso neu für die Emirate sowie die Staaten am arabischen Golf ist wie der Stellenwert des Militärs – und manche Beobachter dazu veranlasst hat, von einem sehr intensiven Nationalismus, einem „Hypernationalismus“ zu sprechen. Das wäre ein Nationsgedanke, der auf Abschottung und Identitätsbildung durch reine Abgrenzung setzt. Die Identitätsbildungsdebatten am Golf scheinen jedoch etwas differenzierter zu verlaufen.

Anders als bei Staatsgründungen im Nahen Osten oder in Europa standen am Beginn der Staatsbildungen am Golf weder Kämpfe um nationale Selbstbestimmung noch spielten nationaler Chauvinismus oder Expansionsdrang eine bestimmende Rolle. Der Zusammenhalt des Staates und die Legitimation der Regierenden wurden durch den Rekurs auf die Religion und das Zusammenführen der Stämme garantiert. Dies gilt insbesondere für das Königreich Saudi-­Arabien, in dem die Religion an die Stelle eines Nationsgedankens trat. Staatsgründer Mohammed Ibn Saud ging Mitte des 18. Jahrhunderts eine Allianz mit dem religiösen Führer Mohammed Ibn Abd Al-Wahhab ein, in der die politische Sphäre durch das Haus Saud und die religiöse Sphäre durch den Wahhabismus – die besonders puritanische Auslegung des Islam – umfassend geregelt wurde. So wurde das Königreich zu einem Staat, in dem Religion den Staat legitimierte und zentrale identitätsbildende Instanz war. „Religion moulded an overarching identity that also served to legitimise the ruling family. Islam was the identity of the population, strengthened by the importance of Saudi Arabia as the birthplace of the religion and the host of its two most holy sites.“ Das Haus Saud trat als politische Instanz auf, aber eben auch als moralische Instanz und religiöse Autorität; der König trägt den Titel „Hüter der beiden heiligen Stätten“ Mekka und Medina und versteht sich als Führer der islamischen Welt.

So war die Wahrnehmung Saudi-Arabiens und auch des Golfs noch bis in die jüngere Zeit bestimmt durch ein Image als Region des sehr konservativen Islams, als Region verschleierter Frauen, als Region, in der Koran und Sunna als Verfassung dienen, das Rechtssystem auf der Scharia beruht und das religiöse Establishment das tägliche Leben reglementiert sowie die Resilienz der Regierungs- und Gesellschaftssysteme gegenüber Veränderungen besonders ausgeprägt ist.

Die Widerstandsfähigkeit gegenüber liberalen Veränderungen im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereich kann mit zwei Faktoren erklärt werden. Zum einen ist die angesprochene Bezugnahme auf konservative religiöse Autoritäten zu nennen. Zum anderen wird die politische und innergesellschaftliche Stabilität der Golfstaaten mit dem Rentierstaatsmodell erklärt. Es ist ein Versuch, eine Antwort auf die Frage zu finden, warum die Regierungs- bzw. Staatssysteme derart stabil und stark ausgeprägt sind. Die Annahme lautet, es gebe einen „impliziten“ Vertrag zwischen Herrschern und Bevölkerung: Die Bürger seien dem Staat verpflichtet, da sie abhängig von ihm sind. Staatsangehörige der Golfstaaten zahlen in der Regel keine Einkommensteuer, erhalten kostenlose Gesundheitsversorgung, das Bildungssystem ist ebenfalls kostenfrei, Elektrizität und Treibstoff werden subventioniert. Generiert vor allem durch die Öleinkünfte leistet der Staat vielfältige Unterstützung und genießt im Gegenzug Autonomie gegenüber der Bevölkerung. Damit korrespondieren in sich sehr gefestigte Systeme, die sich auf religiöse und traditionelle Macht sowie die Verteilung wohlfahrtsstaatlicher Leistungen stützen – und daraus bisher ihre Identität gewonnen haben.

 

„Ich habe zwanzig Jahre, um in meinem Land das Ruder herumzureißen und es in die Zukunft zu führen“ 

Dieses System der staatlichen Alimentierung durch Öleinnahmen ist jedoch unter Druck geraten. Wird die Beziehung zwischen der Lebenserwartung und der Zeitspanne, in der Öl noch gefördert werden kann, zugrunde gelegt, ergibt sich ein alarmierendes Bild für die Staaten, die ihre wirtschaftliche Kraft und politische Stabilität auf Ölvorkommen fußen lassen: Letztlich sind es nur Kuwait und Katar, deren Reserven noch etwas länger reichen. Bei allen anderen Staaten werden die Ressourcen innerhalb der heute geborenen Generation zu Ende gehen. Der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman fasst diese Entwicklung folgendermaßen zusammen: „In zwanzig Jahren wird die Bedeutung des Öls gleich Null sein, dann übernehmen die erneuerbaren Energien. Ich habe zwanzig Jahre, um in meinem Land das Ruder herumzureißen und es in die Zukunft zu führen.“

Hinzu kommt ein hohes öffentliches Ausgabenvolumen bei einem zugleich niedrigeren beziehungsweise schwankenden Ölpreis. Damit steigt die Verwundbarkeit der Staatshaushalte, die von hohen Öleinnahmen abhängig sind. Dass die Golfstaaten einen höheren Ölpreis brauchen, zeigt der Blick auf den Break-even-Ölpreis – jener Ölpreis, bei dem der Staatshaushalt nach Produktionskosten theoretisch ausgeglichen wäre: Für Bahrain, Oman und Saudi-Arabien liegt dieser Break-even-Ölpreis ab 2014 weit über dem tatsächlichen Ölpreis. Das zeigt den wachsenden Druck auf die Staatshaushalte. Dieser Druck nimmt aber auch aufgrund des Wachstums und der Zusammensetzung der Bevölkerung zu – einer Bevölkerung, die eingeübte, hohe Erwartungen an ihren Lebensstandard hat. Das Durchschnittsalter in den Golfstaaten liegt zwischen 20 und 24 Jahren. Diese Staaten haben also eine sehr junge Bevölkerung, mit Konsequenzen insbesondere für das Bildungs- und Gesundheitssystem. Bis 2030 müssen jährlich etwa 500.000 Menschen neu in den Arbeitsmarkt integriert werden.

Die Golfstaaten haben eine sehr junge Bevölkerung, mit Konsequenzen insbesondere für das Bildungs- und Gesundheitssystem.

Diese Herausforderungen führen zu Unsicherheiten und Selbstvergewisserungsfragen. Hinzu kommt die Bevölkerungszusammensetzung. In der Gesamtschau sind etwa 50 Prozent der in den Golfstaaten lebenden Menschen Ausländer. Den größten Anteil an Ausländern haben mit 88,5 Prozent der Bevölkerung die ­VAE und mit 85,7 Prozent Katar. Die einheimische Bevölkerung arbeitet insbesondere im öffentlichen Sektor, während Ausländer die meisten Arbeiten im privaten Sektor ausführen. Mit diesem Modell ist es zu einer Abhängigkeit von billigen Arbeitskräften gekommen – und die einheimische Bevölkerung wurde zur Minderheit am Golf, die jedenfalls kaum in den breiteren Arbeitsmarkt integriert ist. Auch stellen die hohe Anzahl der arbeitslosen Jugendlichen und eine geringe Frauenerwerbsquote eine große Herausforderung dar.

 

„An ambitious nation“ – Reformpolitik statt Rentierstaat

In den vergangenen Jahren haben alle Golfstaaten langfristige Reformprogramme in sogenannten Visionen niedergelegt. Ziel ist die Vorbereitung auf das Post-Öl-Zeitalter. Bereiche wie Wirtschaft, Infrastruktur, Bildung und Gesundheit stehen bei allen Programmen im Fokus. Der 2016 verkündete saudische nationale Reformplan „Vision 2030“ konzentriert sich beispielsweise auf folgende Eckpunkte: Diversifizierung der Wirtschaft (Förderung unter anderem der Unterhaltungsindustrie, des Tourismus und der Rüstung), Privatisierung und Auflage von Staatsfonds, Stärkung des Privatsektors, Steigerung des Beitrags mittelständischer Unternehmer, Reformen in Bildung, Arbeitsmarkt, Regulierung und Governance, Einführung einer Mehrwertsteuer, Anhebung des Anteils von Frauen am Arbeitsmarkt, Schaffung von 15 Millionen Arbeitsplätzen bis 2030 (von denen elf Millionen von Staatsangehörigen besetzt werden sollen, davon 3,6 Millionen von Frauen). Diese Reformpolitik erstreckt sich nicht nur auf wirtschaftliche Fragestellungen, sondern greift auch in die gesellschaftliche Realität ein. So eröffneten im April 2018 in Saudi-Arabien zum ersten Mal seit 35 Jahren wieder Kinos, das Vormundschaftsprinzip für Frauen wurde aufgeweicht und Frauen dürfen Auto fahren.

Mit dieser Vorbereitung der Gesellschaft auf eine Zeit nach Ende des ölfinanzierten Rentierstaat-Modells, in dem der Staat für alles sorgte, geht auch eine Veränderung von Mentalitäten, Erwartungshaltung und Identität einher – weniger Verantwortung beim Staat, mehr Verantwortung beim Einzelnen. „Overall, the leadership has broken from the old social contract by emphasising that Saudi Arabia has now entered a new era in which citizens must contribute to the good of the country, as opposed to simply receiving benefits as their forebears did.“

Wie wird der neue Gesellschaftsvertrag entwickelt? Wie kann Loyalität zu den Königshäusern gewahrt bleiben, wenn das Wohlfahrtssystem unter Druck gerät, wenn der Lebensstandard schrumpfen sollte, wenn für das eigene Auskommen selbst gearbeitet werden muss und dies gegebenenfalls auch in „niederen“ Arbeitsbereichen, in denen früher Migranten tätig waren?

Die Religion spielt zwar nach wie vor eine wichtige Rolle. Ausweislich der Visionen am Golf ist es heute jedoch der Nationsgedanke, der die Funktionen der Legitimation, Identität und Motivation erfüllen soll. So heißt es z. B. in der Vision 2021 der ­VAE: „The ­UAE Vision 2021 National Agenda strives to preserve a cohesive society proud of its identity and sense of belonging. Thus, it promotes an inclusive environment that integrates all segments of society while preserving the ­UAE’s unique culture, heritage and traditions and reinforces social and family cohesion. Furthermore, the National Agenda aims for the ­UAE to be among the best in the world in the Human Development Index and to be the happiest of all nations so that its citizens feel proud to belong to the ­UAE.“ In der saudischen Vision 2030 wird eine „vibrant society with strong roots“ als Ziel beschrieben, „taking pride in our national identity […] [a]n ambitious nation“. Dabei sollen „nationale Werte“ und die Zugehörigkeit zur Nation ebenso gefördert werden wie das islamische, arabische und saudische „Erbe“ sowie die arabische Sprache.

 

Aufbau nationaler Identität

In seinem 2019 publizierten Werk „Being Young, Male and Saudi. Identity and Politics in a Globalized Kingdom“ fragt Mark C. Thompson: „What Is Saudi?“ Thompson ist einer der besten Kenner der gesellschaftlichen Entwicklungen im Königreich, seine Aussagen basieren auf Fokusgruppen-­Interviews, die er im Königreich geführt hat. Auf die Frage, was die saudische Identität ausmache, bekam er vage Antworten. Zwar gab die Mehrheit der Befragten an, es gebe eine saudische Identität. Woraus diese bestehe, schien jedoch wenig klar konturiert zu sein – beziehungsweise befinde sie sich im Prozess der Ausbildung. Ein zentraler, sich verändernder Faktor ist dabei offenbar der Stellenwert der Religion. Sie spielt nach wie vor eine sehr wichtige Rolle, aber die Befugnisse etwa der Religionspolizei und führender Kleriker wurden stark eingeschränkt. Die Religion ist persönlicher geworden. Auch lässt sich die Loyalität gegenüber dem System und dessen Legitimation nicht mehr durch Rentenzahlungen aufrechterhalten. „Saudi religiosity is changing, undermining the political potency of the clerics who once could reliably rally followers to the flag. […] With the religious and economic planks weakened, Riyadh has sought to use nationalism as a salve to patch the strained relationship between rulers and ruled.“

Wie wird dieser neue beziehungsweise junge Nationalismus aufgebaut? Ein erstes Element ist der Rekurs auf Gründungsmythen, Geschichte und Kultur – die immer auch auf Gegenwart und Zukunft hin interpretiert werden. So erinnert das saudische Königshaus beispielsweise an den Großvater Mohammed bin Salmans, König Abdulaziz, der als Gründervater des heutigen Saudi-Arabiens gilt, und an eine Zeit vor dem ölbasierten Wohlstand. König Abdulaziz, so Mohammed bin Salman, habe das Königreich ohne die Hilfe des Öls vereint.

Die Zahl der Festivals und Museen, die das kulturelle Erbe in den Golfstaaten, aber auch moderne Kunst und Kultur zeigen und expressis verbis einen Beitrag zur nationalen Identitätsbildung leisten sollen, hat in den vergangenen Jahren zugenommen. Dazu zählen zum Beispiel das Qasr al Hosn Festival in Abu Dhabi, die ­SIKKA Art Fair in Dubai, die Eröffnung des neuen National Museum of Qatar (im Stil einer Wüstenrose, des neuen Nationalsymbols), die Planung des Zayed National Museum (im Stil der Flügel eines Falken, des Nationalsymbols, und erinnernd an die Geschichte des Staatsgründers) in Abu Dhabi, das National Museum in Muskat, das National Museum in Riyadh, die Dschidda Saison oder auch das Red Sea Film Festival.

Es sind auch Projekte, die durch ihre Architektur (spectacularisation bzw. mega museums) und internationale Ausstrahlung einen Beitrag zu nationalem Selbstverständnis und Stolz leisten sollen. Zum Beispiel sei es Mission des Sharq Districts in Kuwait, des King Abdullah Financial Districts in Riyadh und des Louvre Abu Dhabi, unterschiedliche Kulturen zusammenzubringen und damit ein gemeinsames Verständnis von Humanität aufzuzeigen. Auch das National Museum of Qatar stehe für Diversität und Inklusion, so die Vorsitzende der katarischen Museen HE Sheikha Al Mayassa bint Hamad bin Khalifa Al Thani, die weiter erklärt, das Museum sei eine physische Manifestation der stolzen katarischen Identität, verbinde die Geschichte Katars mit seiner vielfältigen, kosmopolitischen und progressiven Gegenwart.

 

Um Zusammenhalt und Legitimität zu sichern, wird an die nationale Identität, an die Geschichte und an Stammestraditionen appelliert.

So wird, um Zusammenhalt und Legitimität zu sichern, an die nationale Identität, an die Geschichte und an Stammestraditionen appelliert. Dies wird kombiniert mit einer Modernisierungslegitimation durch große wirtschaftspolitische Narrative und Projekte wie der Expo 2020 in Dubai, der Fußball-Weltmeisterschaft 2022 in Katar und dem Bau eines arabischen Gegen­entwurfs zum Silicon Valley, mit der Knowledge City in Medina / Rotes Meer sowie dem Bau von Neom, einer vollautomatisierten Wüstenstadt in Saudi-­Arabien.

Der Rekurs auf das eigene Erbe und die Vergewisserung einer auch modernen Identität zeigt sich auch im Bereich des Sports. Zwar stehen die Golfstaaten für große, internationale Sport­events wie zum Beispiel die Formel 1 in Bahrain und Abu Dhabi. Zugleich werden jene Sportarten durch die Staaten gefördert, die seit jeher in den Golfstaaten ausgeübt beziehungsweise wieder eingeführt werden. Hierzu zählen insbesondere die Falknerei, die Jagd oder auch Kamel-Rennen. Der Falke ist ebenso wie das Kamel zu einem Nationalsymbol in den ­VAE geworden. Auch hier, im Bereich des Sports, kann der Versuch beobachtet werden, Tradition und Moderne zu verbinden wie etwa bei Kamelrennen, bei denen „Roboter-­Jockeys“ die Kamele steuern.

 

Nationalfeiertage und militärisches Engagement

Ein weiteres zentrales Element der Nationalisierungsprogramme am Golf sind National­feiertage. Der saudische Nationalfeiertag wurde bereits 2005 eingeführt mit dem erklärten Ziel, die nationale Identität gegenüber tribalen Loyalitäten und transnationalem Islamismus zu stärken. Einen derartigen Tag zu feiern war in der Vergangenheit vom religiösen Establishment als unislamisch abgelehnt worden. Heute werden Nationalfeiertage am Golf häufig genutzt, um militärische Stärke zu zeigen. Militärische Symbole, Paraden, Fahnen, Reden und entsprechende Kleidung spielen die zentrale Rolle. Auch jenseits dieser Nationalfeiertage wird das Militärische genutzt, beispielsweise durch die Einführung der Wehrpflicht in Kuwait, Katar und den ­VAE. Diese, in den Emiraten als „Nationaler Dienst“ bezeichnet, soll erklärtermaßen inneren Zusammenhalt und gemeinsame Identität stiften. Dies geschieht auch durch Abgrenzung gegenüber äußeren Gegnern, insbesondere gegenüber Iran. Das Land wird einerseits als regional intervenierende Kraft kritisiert. Zugleich lässt sich erkennen, dass einzelne Golfstaaten, insbesondere in der Corona-Pandemie, eine Entspannung im Verhältnis zum schiitisch geprägten Land anstreben. Identitätsbildung durch Abgrenzung gegenüber Iran könnte so künftig eine geringere Rolle spielen.

Die stärkere Nutzung nationaler Appelle im Bereich der Verteidigung sowie die militärische Aufrüstung als Instrument auch der Nationsbildung ist ein jüngeres Phänomen in den Golfstaaten und führt zu Charakterisierungen wie militarized nationalism und zu Warnungen, mit dieser Strategie werde die Polarisierung zwischen den Golfstaaten, insbesondere zwischen Katar und Saudi-Arabien sowie den ­VAE, zunehmen – zulasten einer geteilten Golf-Identität. Dabei gibt es durchaus Unterschiede zwischen den Golfstaaten in der Nutzung militärischer Symboliken. Kuwait und Oman gehen zurückhaltender damit um. Katar und die ­VAE jedoch haben jeweils ihre militärische Sichtbarkeit und die Nutzung des Militärischen für die Bildung des inneren Zusammenhalts verstärkt. So ist beispielsweise das Tragen von Uniformen durch Kinder integraler Bestandteil des emiratischen Nationalfeiertags sowie des 2015 eingeführten Gedenktags für gefallene Soldaten geworden. An einigen Schulen ist das Tragen von Uniformen am Nationalfeiertag verpflichtend, in Kaufhäusern finden sich Kinderuniformen und Kleider in Camouflage. Moscheen, Straßen oder öffentliche Gebäude werden nach Soldaten benannt, die im Dienst gefallen sind.

Unter anderem haben neue Unsicherheiten dazu geführt, dass sich die Golfstaaten als Nationen neu definieren.

Diese patriotische Atmosphäre hat sich beispielsweise auch zu Beginn der von Saudi-Arabien angeführten Jemen-Intervention gezeigt. Bürger wurden aufgefordert, für ihr Land zu kämpfen oder die Truppen zu unterstützen (z. B. durch die Social-Media-Kampagne „send your message to the troops“). Der Rückzug der emiratischen Truppen aus dem Jemen und deren Ankunft in den ­VAE wurde begleitet von Bildern einer großen, nationale Einheit repräsentierenden Militärparade, bei der Mohammad bin Zayed, Kronprinz von Abu Dhabi und Oberbefehlshaber der emiratischen Streitkräfte, die Soldaten empfing.

Während sich Saudi-Arabien und die ­VAE im Jemen-Krieg engagieren, entschied sich Oman aktiv gegen eine Beteiligung, was wiederum einen inneromanischen Solidarisierungseffekt hatte. Die Entscheidung deckte sich mit dem klassischen nationalen Narrativ Omans als unabhängiger, friedlicher Staat, der sich in der Region als Mediator betätigt, nicht aber als intervenierende Kraft. Dabei ist Oman der Staat am Golf, der als geografische und kulturelle Entität seit Jahrtausenden bestanden hat und dessen Bürger sich seit Langem als Nation zusammengehörig fühlen. Nichtsdestotrotz wurde eine stärkere gesellschaftliche Integration und Nationsbildung ab den 1970er Jahren als wichtig erkannt und fiel zusammen mit dem Beginn der Herrschaft Sultan Qaboos. Vier Elemente der Nationsbildung können hier exemplifiziert werden – die Gründung der Sultan’s Armed Forces (­SAF), die Soldaten aus allen Regionen, Stämmen und gesellschaftlichen Gruppen rekrutierte und Bildungsfunktionen übernahm, die Gründung der Petroleum Development Oman, die wie ­SAF die Funktionen der gesellschaftlichen Integration sowie Bildung erfüllte, die Ausbildung handlungsfähiger staatlicher Institutionen sowie schließlich die Fokussierung auf die Person des Sultans selbst. Dieser wirkte als zentrale Integrationsfigur über Stämme, Religionszugehörigkeit und Geografie hinweg.

Neben der Ablehnung einer religiösen Polarisierung, des Extremismus und des Konfessionalismus geht es darum, Weltoffenheit zu demonstrieren, die gerade für die Emirate essenziell ist.

Hier wie auch in den ­VAE zeigt sich auch der Stellenwert religiöser Toleranz im Zusammenhang mit den Nationalisierungsprojekten. Beide Staaten verfolgen Strategien, die auf eine Vermeidung der Politisierung von und der Polarisierung durch Religion zielen – konkret im Oman beispielsweise durch ein Religionsministerium (nicht Islamministerium), in den Emiraten durch das 2016 gegründete Ministerium für Toleranz oder das 2019 durchgeführte „Jahr der Toleranz“. Neben der Ablehnung einer religiösen Polarisierung, des Extremismus und des Konfessionalismus geht es hier auch darum, Weltoffenheit zu demonstrieren, die gerade für die Emirate als internationalem Hub essenziell ist.

 

„Hypernationalismus“ oder weltoffene Nationen?

So reagieren die Golfstaaten mit ihren Nationalisierungsprojekten auf die Herausforderungen durch das absehbare Ende des Rentiermodells, der demografischen Entwicklung sowie der geostrategischen Lage. Letztere birgt Unsicherheitsfaktoren, die aus offenen Grenzen, fragmentierten Gesellschaften bei gleichzeitigem Mangel verbindender Identität sowie sektiererischen Bewegungen resultiert.

Neue Unsicherheiten angesichts transnationaler islamistischer Netzwerke, die die Legitimität der Regierungen am Golf sowie das Lebensmodell in Zweifel ziehen, die Furcht vor dem Einfluss Irans und sektiererischer Spaltungen sowie hoher Reformdruck und hohes Reformtempo haben dazu geführt, dass sich die Golfstaaten als Nationen neu definieren beziehungsweise Geschichte, Kultur, Zukunftsvisionen – das Eigene – stärker betonen. Handelt es sich hier um „Hypernationalismus“ oder militarized nationalism, der sich im Inneren gegen Aktivisten, Akademiker, Influencer und öffentliche Persönlichkeiten richtet sowie eine Gefahr für die Nachbarstaaten darstellt? Die Kritik beispielsweise mit Blick auf Saudi-Arabien lautet, dass, nachdem die Macht der Religiösen schwindet, die Macht der „Hypernationalisten“ zunimmt. Sie wachen über den öffentlichen Raum hinaus – insbesondere auch darüber, was in Sozialen Medien sagbar ist. Sie seien es, die die neuen roten Linien ziehen. Eine aggressive „with us or against us“-Mentalität breite sich aus. Die stärkere Betonung militärischer Macht etwa in den ­VAE wird als Gefahr eines militarized nationalism kritisiert. Zugleich lassen sich in allen Golfstaaten sowohl rhetorisch als auch faktisch Nationalisierungsprojekte studieren, in denen sowohl Geschichte, Kultur und Erfolge als auch Reformen, Modernisierung, Toleranz, ­Pluralismus und Weltoffenheit kombiniert werden. Das mag als Lippenbekenntnis oder notwendige Voraussetzung des Geschäftsmodells der Golfstaaten abgetan werden. Es konterkariert jedenfalls die These eines reinen „Hypernationalismus“ oder militarized nationalism. Für westliche Staaten, die eine freiheitliche und inklusive Grundordnung favorisieren, ergibt sich, dass ihnen beim Umgang mit den Golfstaaten Respekt vor Traditionen und Kultur abverlangt wird. Zugleich ergeben sich beim Blick auf die Kombination von Nationalisierung und Weltoffenheit sowie wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Reformen Potenziale des Voneinander-Lernens und des gegenseitigen Austauschs.

 


 

Fabian Blumberg ist Leiter des Regionalprogramms Golf-Staaten der Konrad-Adenauer-Stiftung mit Sitz in Amman.

 


 

Der Autor dankt Philipp Bernhard, Gulf Analysis Intern im Regionalprogramm Golf-Staaten der Konrad-Adenauer-Stiftung, für wichtige Recherchen.

 


 

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