Ausgabe: 1/2022
Ai: Nach dem Abzug aus Afghanistan im August 2021 und der Machtübernahme der Taliban entzündete sich eine Debatte über die zukünftige Ausrichtung westlicher Außenpolitik. Die Entwicklungen in Afghanistan wurden als „Ende einer Ära“ bezeichnet, als „Zäsur“, aus der es die richtigen Lehren zu ziehen gelte. Wie weit sind wir aus Ihrer Sicht mit der „Aufarbeitung“ des Einsatzes und mit der Diskussion über notwendige Konsequenzen?
Carlo Masala: Der Afghanistaneinsatz als solcher, das muss man bedauerlicherweise sagen, ist von der Politik bislang noch nicht einmal in Ansätzen aufgearbeitet worden. Es gibt zwar einen entsprechenden Prozess sowohl im Bundesverteidigungsministerium als auch in der NATO, dieser betrifft aber nur „Resolute Support“, also die letzte Mission des NATO-Einsatzes. In Deutschland geriet die Aufarbeitung zudem aus einem einfachen Grund ins Stocken: Zuerst kam der Wahlkampf, dann die Koalitionsbildung. Was die Aufarbeitung des Einsatzes betrifft, hat sich auf der politischen Ebene daher über Monate nichts bewegt.
Ai: Sie selbst haben den Afghanistaneinsatz, so wie er verlaufen ist, in einem Zeitungsinterview im Sommer 2021 deutlich kritisiert. Sie sprachen davon, dass der „liberale Imperialismus“ eine „krachende Niederlage“ erlitten habe. Nun kann man aus einer „krachenden Niederlage“ unterschiedliche Schlüsse ziehen. Klar ist jedoch: Durch die Entwicklungen fühlen sich nicht zuletzt jene bestätigt, die Auslandseinsätzen ohnehin ablehnend gegenüberstehen und die Ansicht vertreten, dass sich Deutschland und Europa militärisch weder in der Nachbarschaft noch in entfernteren Weltregionen engagieren sollten. Kann eine isolationistisch ausgerichtete Außenpolitik ernsthaft eine Option sein?
Masala: Als ich davon gesprochen habe, dass der „liberale Imperialismus“ gescheitert sei, bezog sich das nur auf die Tatsache, dass man bei Einsätzen wie in Afghanistan oder im Irak glaubte, politische Systeme so transformieren beziehungsweise aufbauen zu können, dass sie unseren gleichen. Man sieht im Irak, in Afghanistan und zum Teil auch in Mali, dass es extrem schwierig bis unmöglich ist, unsere liberal-demokratischen, marktwirtschaftlichen Systeme zu exportieren und dass dieser Versuch bei den lokalen Eliten auf mehr Widerstand als Begeisterung stößt. Dieser Ansatz ist gescheitert – das bedeutet aber nicht, dass Auslandseinsätze kategorisch abzulehnen sind. Auslandeinsätze – und das war immer meine Position – müssen mit strategischen Interessen begründet werden.
Ai: Was heißt das genau?
Masala: Viele Risiken und Bedrohungen sind heute deterritorialisiert. Um das Beispiel Afghanistan zu nehmen: Wer hätte sich vor gut 30 Jahren vorstellen können, dass in einem Land, das 7.000 Kilometer entfernt liegt, etwas ausgelöst wird, das das World Trade Center zum Einsturz bringt. Damals waren Gefahren und Bedrohungen klar regional eingrenzbar und an den Supermächten orientiert – und nicht in dem Sinne deterritorialisiert, dass Entwicklungen in Ländern, die wir vorher gar nicht auf dem Schirm hatten, plötzlich massiv die Sicherheit und Stabilität in Staaten gefährden können, die in geografisch sehr weiter Entfernung liegen. Solche Gefährdungen sind auch zukünftig nicht auszuschließen. Wenn wir in Zukunft wieder in einen Auslandseinsatz gehen sollten, müssen wir das mit realistischen Zielsetzungen verbinden, die vor Ort auch erreicht werden können. Und wir müssen diese Zielsetzungen mit den entsprechenden Mitteln hinterlegen.
Ai: Sie haben die Bedeutung strategischer Interessen hervorgehoben. Was aber ist mit den oft beschworenen Werten? Spielt diese Komponente keine Rolle mehr?
Masala: Doch, die spielt natürlich eine Rolle. Ich gebe Ihnen ein weiteres Beispiel: Wenn Sie eine Situation wie 1994 in Ruanda haben, in der es einen Genozid gibt, dann gebietet es unser Wertekanon zu überlegen, inwieweit ein militärisches Eingreifen zur Verhinderung beziehungsweise Beendigung der Gewalt sinnvoll und richtig ist. Mir geht es um das Follow-up.
Ai: Was meinen Sie damit?
Masala: Ich konstruiere das einmal hypothetisch am genannten Beispiel Ruanda: Angenommen, wir hätten dort eingegriffen, um den Genozid zu stoppen. Danach hätten wir ja angefangen, irgendetwas zu unternehmen in dem Staat, damit sich so etwas nicht wiederholen kann. Und an einem solchen Punkt sollte man aus meiner Sicht interessengeleiteter und realistischer vorgehen: Mir würde es reichen, Vorkehrungen zu treffen, dass sich ein Genozid nicht wiederholen kann. Das ist auch möglich, ohne dass man versucht, dort unser System zu etablieren.
Ai: Was sind aus Ihrer Sicht die größten außenpolitischen Herausforderungen, die die nächsten Jahre oder Jahrzehnte für Deutschland und Europa prägen werden?
Masala: Die Herausforderungen liegen alle auf dem Tisch, und man ist sich ihrer auch bewusst. Ich halte aufstrebende revisionistische Großmächte für die größte Herausforderung, die wir sicherheitspolitisch haben. Und damit sind wir bei Russland und China. Auf der funktionalen Ebene ist die Frage der Migration eine, die uns in den nächsten Jahren immer wieder beschäftigen wird. Und mit Corona haben wir gesehen, dass Pandemiefragen – und das sagen Forscher seit 15 Jahren – eine extreme Herausforderung für die westliche Welt sind.
Ai: Bleiben wir doch einen Moment beim Stichwort „revisionistische Großmächte“ und blicken zunächst nach Fernost. Was bedeutet die Entwicklung Chinas für uns?
Masala: Wir befinden uns historisch in einer Situation, in der wir möglicherweise einen Wechsel in der Machtbalance des internationalen Systems von den Amerikanern hin zu den Chinesen erleben werden – oder zumindest eine Art neue Bipolarität. Das ist eine Herausforderung, der wir uns stellen müssen. Das wissen wir schon lange. Wir sehen, wie China agiert. Das Land handelt im Prinzip nach dem Lehrbuch einer werdenden Groß- und Supermacht.
Ai: Was steht denn in dem Lehrbuch?
Masala: China hat angefangen mit der internen Entwicklung des Landes, es folgte die Modernisierung des Militärs, dann begann der anhaltende Versuch, eine regionale Hegemonie zu etablieren. Das ist die Voraussetzung dafür, sich global weiterzuentwickeln und zu einem ernsthaften Herausforderer der Vereinigten Staaten zu werden. Die nächsten Schritte kann man bereits voraussehen: Sofern man eine chinesische Hegemonie in Asien nicht verhindert, werden wir mit dem Versuch Chinas konfrontiert werden, eine globale Dominanz zu erreichen.
Ai: Und was folgt daraus für die deutsche und europäische Außenpolitik?
Masala: Es ist dringend notwendig, die USA dabei zu unterstützen, eine regionale Hegemonie Chinas in Asien zu unterbinden. Dabei geht es vor allem um die Stärkung regionaler Partner, sei es Japan, sei es Australien. Da muss Deutschland – und das hat es erkannt – einen aktiven Beitrag leisten. Zugleich müssen wir uns ökonomisch ein Stück weit unabhängiger machen von China. Je stärker wir ökonomisch von China abhängig sind, desto schwächer ist unsere Position. Solange wir dazu nicht bereit sind, wird es schwierig, einen entscheidenden Beitrag zu leisten. Sie sehen also: Ein solcher Kurs hat auch seinen Preis. Wir müssen offen darüber sprechen, welchen Preis wir zu zahlen bereit sind.
Ai: Neben China haben Sie auch Russland angesprochen. Das Land versucht, auf unterschiedliche Arten Einfluss auszuüben: militärisch, aber auch mit Mitteln, die oft als „hybride Kriegsführung“ bezeichnet werden und Instrumente wie die gezielte Verbreitung von Desinformation oder Hackerangriffe umfassen. Was lässt sich dagegen tun?
Masala: Bei vielen dieser Dinge kommen wir mit dem klassischen Instrumentarium der Sicherheitspolitik nicht wirklich weiter. Wenn wir hybride Aktivitäten nicht als Kriegsführung mit anderen Mitteln begreifen, dann werden wir nicht in der Lage sein, die entsprechende Antwort darauf zu geben. Dabei handelt es sich ja nicht um bloße Störungen, es handelt sich letztlich um den modernen Versuch, das zu erreichen, was im 20. Jahrhundert Panzer erreicht haben. Letzten Endes brauchen wir mehr Resilienz. Das haben wir noch nicht so ganz realisiert.
Ai: Worum genau geht es, wenn wir von „Resilienz“ sprechen?
Masala: Es geht darum, Gesellschaften so vorzubereiten, dass sie immuner werden gegen diese Attacken. Die baltischen und nordischen Staaten haben das schon sehr gut erkannt und gehen zu einem Konzept über, das sie „total defence“ nennen und das bedeutet, dass Verteidigung heute nicht mehr nur die Positionierung von Streitkräften umfasst, um militärische Signale zu setzen. Verteidigung ist nicht mehr nur eine Frage, die der Exekutive oder dem Militär überlassen werden kann, sondern eine, die die gesamte Gesellschaft betrifft. Das fängt bei der Aufklärung von Schülern zum Thema Social Media an, damit diese nicht einfach alles glauben, was auf Facebook aufploppt. Das geht weiter mit der Entwicklung redundanter Strukturen, sodass Länder auch im Falle von massiven Attacken auf kritische Infrastruktur in der Lage sind, ihre Grundfunktionen aufrechtzuerhalten. Da sind wir noch ein ganzes Stück von entfernt.
Ai: Der Wettbewerb mit den revisionistischen Autokratien wird also ein prägender Faktor sein und uns einiges abverlangen. Sind die demokratischen Staaten in ihrer aktuellen Verfassung – auch mit Blick auf ihre internen Entscheidungsprozesse – im außenpolitischen Wettbewerb mit autoritären Staaten wie Russland und China überhaupt konkurrenzfähig?
Masala: Ich glaube nicht, dass es ein Problem der Staatsform ist. Demokratien haben den Kalten Krieg gewonnen, also genau die Systeme, die alle vier bis fünf Jahre durch „lähmende“ Wahlprozesse gehen. Es ist eine Frage der politischen Führung: Es gab in der deutschen Geschichte immer wieder Kanzler, die fundamentale Entscheidungen in der Außen- und Sicherheitspolitik getroffen haben, gegen die Mehrheit der Bevölkerung. Wenn Adenauer auf die Umfragen geachtet hätte, dann gäbe es keine Bundeswehr. Wenn Kohl auf die Umfragen geachtet hätte, dann gäbe es keinen Euro. Wenn Schmidt auf Umfragen geachtet hätte, dann hätte er den Prozess der Nachrüstung nicht initiiert. Es ist meines Erachtens Aufgabe von Politik, entsprechende Entscheidungen zu treffen und dafür zu werben, wenn man der Überzeugung ist, etwas muss zum Wohl des Landes passieren. Das Begründen fehlender Politik mit Stimmungsbildern in der Bevölkerung halte ich für ein Sich-Verstecken. Ich vermisse diese politische Führung: zu sagen, ich bin davon überzeugt und ich werbe darum, auch um den Preis einer Wahlschlappe.
Ai: Hybride Attacken, China, Afghanistan: Sie haben einige der zahlreichen außenpolitischen Herausforderungen angesprochen. Wer den Wahlkampf im Vorfeld der vergangenen Bundestagswahl verfolgte, konnte allerdings den Eindruck gewinnen, dass das alles für Deutschland überhaupt keine Rolle spielt. Außenpolitik war im Wahlkampf praktisch kein Thema. Woran liegt das? Oder etwas provokanter gefragt: Wollen die Deutschen mit unangenehmen außenpolitischen Fragen einfach nicht behelligt werden?
Masala: Bis auf wenige Ausnahmen – etwa der Irakkrieg oder die Nachrüstungsdebatte in den 1980er Jahren – spielte Außenpolitik in deutschen Wahlkämpfen nie eine große Rolle. Nun muss man allerdings sagen, dass die Journalisten etwa in den Triellen vor der vergangenen Wahl auch kaum danach gefragt haben.
Ein Grundproblem ist, dass diese ganze außenpolitische Diskussion – wenn man so will – eine rein Berliner Diskussion ist. Man muss außenpolitische Themen viel stärker in der Fläche diskutieren und den Versuch unternehmen, Bürgerinnen und Bürger einzubeziehen. Wir haben auch Defizite in der universitären Ausbildung. Ich stamme aus einer Generation, die musste durch – für viele teilweise grottenlangweilige – Sachen wie konventionelle Rüstungskontrolle, weil das damals Thema war. Diese Themen sind danach weggefallen. Es gibt heute eine ganze Generation von Politikwissenschaftlern, die nicht mehr mit dem Einmaleins sicherheitspolitischer Debatten vertraut ist. Das ist ein Problem, denn das sind ja die Menschen, die das dann später als Journalisten oder als Mitarbeiter im Bundestag weitertragen könnten.
Man muss allerdings auch erkennen: Das Bedrohungsgefühl hat sich verändert. Russland hat seit Jahren neue Mittelstreckenraketen, die es mit nuklearen Sprengköpfen bis nach Berlin schicken könnte, und in der Bundesrepublik Deutschland scheint das keinen Menschen zu interessieren.
Ai: Nun hört man in der Politik durchaus schon länger die Forderung, Deutschland müsse sich außenpolitisch stärker engagieren, was in bestimmten Fällen auch eine militärische Komponente einschließe. Man denke da etwa an die Rede des ehemaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2014. Diesbezüglich scheint es – abgesehen von den politischen Rändern – in der deutschen Politik inzwischen einen gewissen Konsens zu geben. In der Bevölkerung ist das – Sie haben es angedeutet – etwas anders. Muss die Politik den Menschen deutlicher machen, was die Konsequenzen fehlenden außenpolitischen Engagements sind?
Masala: Zunächst: Sie haben die Münchner Sicherheitskonferenz 2014 angesprochen, auf der der damalige Bundespräsident, die Verteidigungsministerin und der Außenminister im Prinzip das Gleiche gesagt haben: Deutschland muss mehr Verantwortung übernehmen. Das ist als Münchner Konsens in die zeithistorischen Schriften eingegangen. Ich bin jedoch der Ansicht, dass es den Konsens insofern nicht gegeben hat, als dass Bundeskanzlerin Angela Merkel diesen letzten Endes nie angenommen hat.
Nun zu Ihrer Frage: Wichtig ist, dass außenpolitische Themen konkret und anhand von Beispielen erläutert werden. Man kann von einem Großteil der deutschen Bevölkerung, deren primäre Interessen ihre Arbeitsplatzsicherheit, die Krankenversicherung und die Frage sind, ob sie eine Rente bekommt, nicht erwarten, dass sie sich intensiv für Außen- und Sicherheitspolitik auf einer abstrakten Ebene interessiert. Wenn man beispielsweise nur ganz allgemein sagt, wir haben ein Interesse an der Freihaltung von Seewegen, dann ist das für viele Bürger nicht nachvollziehbar. Verweist man aber auf Ereignisse wie das Containerschiff Ever Given, das einige Tage den Suezkanal blockiert hat, ist das anders. Für die Weltwirtschaft und damit auch für die Bundesrepublik bedeutete dies einen Verlust von mehreren hundert Millionen Euro, weil Güter nicht raus- und nicht reingekommen sind. Wenn ein Staat wie etwa Iran einen solchen Seeweg absichtlich blockieren würde, könnte der Schaden noch größer werden. Daran lässt sich viel besser darstellen, wie abhängig wir von freien Seewegen sind.
Oder nehmen Sie Mali und die Sahelzone, die zu kollabieren droht: Es ist nicht auszuschließen, dass sich Menschen aufgrund der dortigen Situation – also einer Melange aus terroristischen Aktivitäten und failed states – in Richtung Europa in Bewegung setzen. Ich glaube, wenn man solche konkreten Beispiele heranzieht, dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass auch ein nicht so stark an Außen- und Sicherheitspolitik interessierter Bürger realisiert, warum sich die Bundesrepublik in diesen Gebieten oder woanders engagiert. Ich muss Einsätze kommunikativ begleiten – und das ist bei den Einsätzen etwa in Afghanistan und Mali so nie passiert. Das geschieht lediglich im Vorfeld von Mandatsverlängerungen, dann haben wir einen Tag Debatte, die kurz durch den Blätterwald rauscht, und dann ist das Thema wieder erledigt.
Ai: Es gibt mit Blick auf Außenpolitik im Allgemeinen und Auslandseinsätze im Speziellen also ein Kommunikationsproblem?
Masala: Ja, absolut. Es wird nicht richtig und vor allen Dingen nicht regelmäßig kommuniziert. Wenn ich das nicht tue, darf ich mich nicht wundern, dass die Bevölkerung irgendwann denkt: Was machen wir da eigentlich?
Insgesamt ist also eine breitere Information notwendig. Organisationen wie die Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) machen das mit ihren regionalen Bildungsforen, aber wir brauchen noch viel, viel mehr. Und: Vielfach predigt man zu den ohnehin schon Gläubigen. Da verirren sich vielleicht mal zwei, die das grundsätzlich anders sehen. Man muss da also breiter rangehen und – das gilt für Wissenschaftler, Stiftungen, Politiker – auch dahin, wo es wehtut. Wenn ich bei einer Veranstaltung der KAS bin, dann gibt es eine interessante Diskussion, aber es kommt keiner, der sagt: Herr Masala, was sie da erzählen ist totaler Unsinn und gefährlich. Aber man muss genau dahingehen, wo man so etwas zu hören bekommt.
Ai: Kommen wir zum Abschluss des Gesprächs nun nochmal zum engeren Bezugsrahmen, der in Sachen deutsche Außenpolitik immer wieder genannt wird: Europa und die transatlantische Partnerschaft. Viel wird derzeit über die Forderung nach mehr europäischer „Autonomie“ oder „Souveränität“ gesprochen. Wie blicken Sie auf die Diskussionen?
Masala: Die Frage ist, was europäische Souveränität eigentlich heißt. Man kann das so verstehen, dass Europa sich so aufstellen sollte, dass es in der Lage ist, Druck von außen zu widerstehen. Das ist natürlich ein wünschenswertes Ziel. Ich sehe aber die große Gefahr, dass europäische Souveränität und europäische Autonomie bei einigen – ich denke da etwa an Frankreich – in die Richtung verstanden wird, dass Europa in der Lage ist, in der globalen Auseinandersetzung zwischen China und den USA einen dritten Weg zu gehen, sich also weder auf die eine noch auf die andere Seite schlagen zu müssen. Das halte ich für fatal und völlig unrealistisch. Das ist so eine Art bismarcksche Schaukelpolitik. Die kann eine Zeit gut gehen, aber irgendwann fährt der Bus über diese Schaukel, und zwar entweder der amerikanische oder der chinesische Bus. Dafür ist Europa zu schwach. Ich plädiere nicht dafür, dass wir eins zu eins die Chinastrategie der USA übernehmen müssen. Aber die Konstellation muss klar sein. Der systemische Gegner ist China. Der systemische Partner sind die USA.
Ai: An welchen Punkten hakt es mit Blick auf eine Stärkung der europäischen Handlungsfähigkeit denn mehr: beim politischen Willen oder bei den materiellen Voraussetzungen?
Masala: Ganz eindeutig beim politischen Willen. Die materielle Frage wäre – auch wenn es natürlich materielle Defizite gibt – kein Hindernis, wenn der politische Wille da wäre. Das Grundproblem ist: Die Vorstellung, dass Europa im außen- und sicherheitspolitischen Bereich als geeinter Akteur voranschreitet, ist illusorisch, weil die außen- und sicherheitspolitischen Interessen der Mitgliedstaaten der EU so unterschiedlich sind. Wenn wir nicht viel stärker auf eine verstärkte Zusammenarbeit von einigen europäischen Staaten setzen, die offen sein muss für potenzielle spätere Zugänge, dann kommen wir nicht weiter.
Ai: Es braucht also Koalitionen der Willigen?
Masala: Ja, genau. Koalitionen der Willigen – und der Fähigen.
Die Fragen stellten Sören Soika und Fabian Wagener.
Dr. Carlo Masala ist Professor für Internationale Politik am Institut für Politikwissenschaft der Universität der Bundeswehr München.
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