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Francis Mascarenhas, Reuters

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In Bedrängnis

von Peter Rimmele

Zur Meinungs- und Medienfreiheit in Indien

Im jüngsten Jahresbericht von Reporter ohne Grenzen wird für die Pressefreiheit in Indien eine schwierige Lage attestiert. Das Land belegt im World Press Freedom Index 2021 Platz 142 von 180 Ländern. Indien zählt zu den gefährlichsten Ländern für Journalisten – in den vergangenen Jahren haben zahlreiche Pressevertreter bei der Ausübung ihres Berufs ihr Leben verloren. Von offizieller Seite wird dieses Ranking als westliche Voreingenommenheit eingestuft. Doch die Medienfreiheit wird weiter eingeschränkt, journalistische Äußerungen werden kriminalisiert und in den sozialen Netzwerken wird versucht, Narrative zu kontrollieren.

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Die Grundlagen der Pressefreiheit in Indien

Wenn in Indien über Medienfreiheit gesprochen wird, geht es häufig um die Herrschaft über Meinungsäußerungen. Die Freiheit, Gedanken auszudrücken, ist für die vierte Säule einer Demokratie überlebenswichtig. So unterstreicht es auch VN-Generalsekretär António Guterres: „Keine Demokratie kann ohne Pressefreiheit funktionieren. Sie ist der Grundstein des Vertrauens zwischen den Menschen und ihren Institutionen.“

Der indische Nobelpreisträger Rabindranath Tagore fasst es in diese Worte:

Where the mind is without fear and the head is held high;

Where knowledge is free; […]

Where the mind is led forward by thee into ever-widening thought and action

Into that heaven of freedom, my Father, let my country awake.

Sein Gedicht scheint jedoch im heutigen Indien seine Bedeutung vollständig verloren zu haben. Das Land ist weit davon entfernt, diesen ersehnten „Himmel der Freiheit“ zu erreichen. Polizeigewalt gegen Medienschaffende, Übergriffe durch Guerillas und Repressalien durch kriminelle Gruppen oder korrupte Politiker prägen die Lage der Medien in Indien. Die hohe Anzahl ermordeter Journalisten zeigt, wie gefährlich deren Arbeit ist.

Die in Deutschland durch Art. 5 Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetztes (GG) geschützte Meinungsäußerungsfreiheit findet ihre Entsprechung in Art. 19 Abs. 1 der indischen Verfassung. Sie ist ein Grundpfeiler eines jeden demokratischen Staates. Das Recht, frei und ungehindert ihre Meinung zu sagen, steht allen indischen Bürgerinnen und Bürgern und damit auch den Medien(schaffenden) zu. Eine besondere Gewährleistung der Pressefreiheit wie etwa in Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG sowie der Verzicht auf Zensur findet sich jedoch nicht in der indischen Verfassung. Durch Art. 19 Abs. 2 derselben werden „angemessene Beschränkungen“ bei der Ausübung der genannten Freiheiten auferlegt. Zwar gibt es bislang keinen Konsens darüber, was denn unter „angemessenen“ Beschränkungen zu verstehen ist. Der zunehmenden Kriminalisierung kritischer Berichterstattung steht jedoch eine medienfreundliche Linie des Obersten Gerichtshofes als gewisses Korrektiv gegenüber. Die Verfassung formuliert in Art. 19 Abs. 2 drei Voraussetzungen, um die Meinungs- und Pressefreiheit einzuschränken:

1. Die Beschränkungen unterliegen einem Gesetzesvorbehalt.

2. Sie müssen im Interesse der Souveränität und Integrität Indiens, der Sicherheit des Staates, freundschaftlicher Beziehungen mit anderen Staaten, der öffentlichen Ordnung, des Anstandes oder der Moral sein oder der Abwehr einer Missachtung des Parlamentes oder des Gerichtes, einer Diffamierung oder der Anstiftung zu einer Straftat dienen.

3. Sie müssen verhältnismäßig sein.

Die Medienfreiheit erstreckt sich nicht nur auf die klassischen Printmedien sowie auf Radio und Fernsehen. Erfasst sind auch andere Formen wie etwa Theater, Cartoon, Graffiti, Film, Over-the-top(OTT)-Plattformen, Blogs und diverse Social Media-Plattformen (Twitter, Facebook etc.). Ein besonders in Indien aufstrebendes neues Medium ist die Stand-up-Comedy. Jegliches Medium kann Ziel staatlicher Restriktionen und privater Einflussnahme sein, um die Meinungsäußerung zu unterdrücken oder in eine bestimmte Richtung zu lenken.

 

Wie wird die Medienfreiheit eingeschränkt?

In den letzten Jahren haben Bestrebungen, kritische Berichterstattung oder Teilnahme an Protesten zu unterbinden, zugenommen. Neue Einschränkungen, aber auch die ausgiebige Anwendung alter Beschränkungen sind hauptsächlich der Regierung und polizeilichen Maßnahmen zuzuordnen. Aber auch von privater Seite wird teilweise erheblicher Einfluss genommen. Letzteres weniger, um eine bestimmte Meinung zu unterdrücken, sondern eher, um einer bestimmten Meinung Geltung zu verschaffen.

Wer seine Kritik an der Regierung oder ihren Maßnahmen äußert, ist weder ein Terrorist noch ein anderweitiger Straftäter. Diese Selbstverständlichkeit müssen Gerichte bis hin zum indischen Obersten Gerichtshof immer wieder in Einzelfällen rechtsverbindlich feststellen. Die freie Meinungsäußerung der Bürger eines Landes kann nicht dadurch erstickt werden, dass sie allein wegen dieser Meinungsäußerung in Strafverfahren verwickelt werden.

Der „Aufruhrtatbestand“ (sedition, Paragraf 124A des indischen Strafgesetzbuchs) wurde 1870 von der britischen Kolonialverwaltung eingeführt, um Inder daran zu hindern, ihre Meinung zu äußern. Dieser Straftatbestand wurde von Großbritannien bereits in den 1920er Jahren im Mutterland, nicht aber in den Kolonien, abgeschafft. Dort beriefen sich auch nach der Unabhängigkeit verschiedene indische Regierung immer wieder auf diesen Straftatbestand, hauptsächlich um deren Kritiker zum Schweigen zu bringen. Bereits 1922 – noch zu Kolonialzeiten – war Mahatma Gandhi unter Berufung auf dieses Gesetz zu sechs Jahren Haft verurteilt worden, weil er zum Widerstand gegen die britische Verwaltung aufgerufen habe.

Obwohl Gerichte immer wieder korrigierend eingreifen, ändert sich die polizeiliche Praxis kaum.

In jüngster Zeit haben sich unter der von der Bharatiya Janata Party (BJP) geführten Unionsregierung die Fälle im Vergleich zur vorherigen, von der Kongresspartei geführten Regierung pro Jahr beinahe verdoppelt. Das oberste Gericht Indiens hat daher zu Recht geurteilt, dass Journalisten nicht allein aufgrund ihrer Kritik an der Regierung wegen Aufruhrs in Haft genommen werden können. Obwohl Gerichte in solchen Fällen immer wieder korrigierend eingegriffen haben, hat sich die polizeiliche Praxis kaum geändert, was zumindest den wohl beabsichtigten Abschreckungszweck erfüllen dürfte. Dieses Gesetz wird nun vom Obersten Gericht Indiens (Supreme Court) unter die Lupe genommen und auf seine Vereinbarkeit mit der indischen Verfassung hin überprüft. Der oberste Richter (Chief Justice N.V. Ramana) betonte die Überzeugung des Gerichts, „der Aufruhrtatbestand werde von den Behörden missbraucht, um auf den fundamentalen Rechten der Bürger von Freiheit und Redefreiheit herumzutrampeln“.

 

Weitere Kriminalisierung und Angriffe auf die Medienfreiheit

Die Freiheit der Meinungsäußerung wurde faktisch auch durch das Gesetz zur Änderung der Vorbeugung ungesetzlicher Aktivitäten (UAPA) von 2019 eingeschränkt. Das Gesetz – zur besseren Bekämpfung des Terrorismus eingeführt – erweitert die bisherige Definition von „Terroristen“ sowie die Befugnisse der Strafverfolgungsbehörden. Daraus ergeben sich Probleme. Das besagte Gesetz lässt nach Ansicht von Experten keine abweichenden Meinungen zu und kriminalisiert somit bereits Gedanken mit dem vermeintlichen Potenzial, Unruhe zu stiften. Von daher kriminalisiert es politische Proteste gegen die Regierung schlechthin. Damit stellt es einen Angriff auf das Recht der Bürger auf freie Meinungsäußerung dar. Außerdem können diejenigen, die unter UAPA festgenommen wurden, bis zu 180 Tage inhaftiert werden, ohne dass eine Anklageschrift eingereicht werden muss. Möglicherweise liegt daher auch ein Verstoß gegen Artikel 21 der indischen Verfassung (Schutz des Lebens und der persönlichen Freiheit) vor.

Die Mitte Juni 2021 auf Kaution erfolgte Freilassung dreier studentischer Aktivisten, die als Organisatoren von Demonstrationen wegen „terroristischer Aktivitäten“ über ein Jahr in Untersuchungshaft einsaßen, mag als Beispiel dienen, wie der Staat Instrumente der Terrorismusbekämpfung zur Meinungskontrolle zweckentfremden kann. Der Delhi High Court hat daher zu Recht ausgeführt: „Es entsteht der Eindruck, dass der Staat in seinem Bestreben, abweichende Meinungen zu unterdrücken, zwischen dem verfassungsrechtlich garantierten Recht auf Protest und terroristischen Aktivitäten die Grenzen verwischt. Würde diese Denkweise Zugkraft gewinnen, wäre dies ein trauriger Tag für die Demokratie.“ Dennoch dürfte das Instrument seine abschreckende Wirkung nicht verfehlen, da das geänderte Gesetz zur Anwendung gebracht wird, um abweichende Meinungen zu unterdrücken bzw. jene einzuschüchtern, die diese Meinungen propagieren. Es wird damit die Existenz der öffentlichen Debatte und der Meinungs- und Pressefreiheit gefährdet. Etliche Personen wurden wegen ihrer Meinungsäußerung unter Terrorismusverdacht inhaftiert.

Zunehmend müssen kritische Journalisten um ihre körperliche Integrität oder gar ihr Leben fürchten.

Ein weiteres Instrument ist in Paragraf 144 der indischen Strafprozessordnung festgelegt. Auch auf diesem Wege kann zumindest zeitweise eine freie Meinungsäußerung unterbunden werden. Dies setzt allerdings das Vorliegen einer dringenden, konkreten Gefahr für die öffentliche Ordnung voraus. Die bloße Wahrscheinlichkeit oder Möglichkeit genügt hierfür nicht. Da die Rechtsprechung die Anwendung nur im Falle von Anstiftungen zu einer Straftat autorisiert hat, spielt dieses Instrument hierbei keine große Rolle mehr. Es wird aber, worauf später noch einzugehen sein wird, bei der in Indien recht häufigen Abschaltung des Internets als Rechtsgrundlage mit herangezogen. Eine weitere Form der Einschränkung ist die Sperrung von Nachrichtenkanälen und Portalen bei unerwünschter Berichterstattung. Indien blockierte AsiaNet News und MediaOne TV, weil sie 2020 über Unruhen in Delhi (Farmerproteste gegen neue Agrargesetze) berichteten.

 

Angriffe auf Journalisten

Oft werden indische Journalisten gegenwärtig – vor allem bei regierungskritischer Berichterstattung – wegen Volksverhetzung, Störung der öffentlichen Ordnung, im Namen der nationalen Integrität oder wegen Aufruhrs angezeigt und müssen sich mit Strafverfahren auseinandersetzen. Häufig werden sie als antinational diffamiert. Am 3. Juli 2020 hatte die Journalistin Patricia Mukhim, eine Redakteurin der nordostindischen Shillong Times, in einem Facebook-Post den Angriff einer Gruppe maskierter Männer auf fünf Jugendliche verurteilt: Eine Anzeige (first information report) wurde gegen sie erhoben, weil sie durch den Facebook-Post angeblich gemeinschaftsschädigende Disharmonie geschaffen habe. Erst das oberste indische Gericht griff hier korrigierend ein und stellte fest, dass ihre Meinungsäußerung „in keiner Weise als ‚Hassrede‘ betrachtet werden kann“.

Zunehmend müssen kritische Journalisten auch um ihre körperliche Integrität oder gar um ihr Leben fürchten. Zwischen 2014 und 2019 wurden circa 200 ernste Angriffe auf Reporter bekannt, 36 davon im Jahr 2019, gehäuft während der Proteste in Delhi. In 40 dieser Fälle wurden Journalisten getötet, in 21 hiervon nachgewiesenermaßen in Verbindung mit deren journalistischer, vor allem investigativer Arbeit. Aus diesen Straftaten resultiert jedoch selten eine strafrechtliche Verfolgung, geschweige denn eine Verurteilung. Journalisten sind oft das Ziel wütender Mobs, von Unterstützern religiöser Sekten, politischen Parteien, Studentengruppen, Sicherheitsorganen wie auch kriminellen Banden und lokalen Mafiagruppen. Journalisten wurden in der Vergangenheit aber auch ermordet, weil sie illegale wirtschaftliche Aktivitäten, etwa Alkoholschmuggel oder den unerlaubten Abbau von Bodenschätzen, aufgedeckt hatten. In allen Fällen muss man die Tötung eines Journalisten aufgrund seiner Arbeit wohl als die ultimative Zensurmaßnahme betrachten.

 

Restriktionen gegen Kunst- und Kulturschaffende

Vor vier Jahren zog der Film „Padmaavat“ und vor Kurzem die Webserie „Tandav“ die Aufmerksamkeit von Hindugruppen und Rajput-Kastenorganisationen auf sich, die einen Großteil der Wählerschaft der regierenden Parteien in Indien ausmachen. Es kam zu Vandalismus und Drohungen gegen Filmemacher und Schauspieler. In beiden Fällen waren erstere gezwungen, Kompromisse einzugehen, z. B. den Titel zu ändern, um Verwechslungen mit einer historischen Figur auszuschließen. Der Film „Bhobishyoter Bhoot“ (2019), eine satirische Komödie in bengalischer Sprache, wurde direkt nach der Veröffentlichung aus verschiedenen Kinos in Kalkutta zurückgezogen. Der Oberste Gerichtshof wies die Regierung von Westbengalen an, dem Produzenten des Films eine Entschädigung für die Einschränkung der Vorführung zu zahlen. Das Gericht ordnete auch eine Geldstrafe gegen die von Mamata Banerjee (von der Partei All India Trinamool Congress) geführte Regierung an und stellte fest, dass „die Meinungsfreiheit nicht aus Angst vor dem Mob geknebelt werden kann“. Aber nicht nur Filmemacher, sondern auch Karikaturisten sehen sich von Zeit zu Zeit dem Zorn der Regierung ausgesetzt, wenn sie diese oder deren Pläne kritisieren. Ambikesh Mahapatra, ein Chemieprofessor, wurde im April 2012 festgenommen und für eine Nacht eingesperrt, weil er einen Cartoon, der die westbengalische Regierungschefin Banerjee verspottete, an Freunde weitergeleitet hatte.

Am 4. April 2021 hat die indische Regierung per Verordnung das Film Certificate Appellate Tribunal (FCAT) abgeschafft, das Berufungen von Filmemachern anhörte, die eine Zertifizierung für ihre Filme beantragten. Die Abschaffung bedeutet, dass Filmemacher jetzt den High Court anrufen müssen, wenn sie eine bestimmte Zertifizierung oder deren Verweigerung durch das Central Board of Film Certification (CBFC) anfechten wollen. In Indien müssen alle Filme über ein CBFC-Zertifikat verfügen, bevor sie im Fernsehen ausgestrahlt bzw. öffentlich aufgeführt werden. Das CBFC kann auch die Zertifizierung eines Films verweigern. Bei mehreren Gelegenheiten, bei denen ein Filmemacher oder Produzent mit der CBFC-Zertifizierung oder einer Ablehnung nicht zufrieden war, hat er beim FCAT Berufung eingelegt. Und in vielen Fällen hat das FCAT die CBFC-Entscheidung aufgehoben.

 

Abb. 1: Anzahl ermordeter Journalisten in Indien pro Jahr 1995–2020

https://www.kas.de/documents/259121/14610592/rimmele_grafik_01_DE.png/2e66cf8c-7ff4-a596-b8fd-9700fb876908?t=1633503761380

Quelle: Eigene Darstellung nach ­UNESCO 2021: ­UNESCO observatory of killed journalists – India, in: https://bit.ly/3sGXd1A [24.08.2021].

 

Dem Film „Haraamkhor“ (2015) wurde die Zertifizierung des CBFC verweigert, weil er die Beziehung zwischen einem Lehrer und einer jungen Schülerin zeigte. Das FCAT gab den Film mit der Begründung frei, dass er „eine soziale Botschaft verbreitet und die Mädchen mahnt, sich ihrer Rechte bewusst zu sein“. Dem Film „Lipstick Under My Burkha“ (2016) wurde 2017 die Zertifizierung verweigert. Regisseur Alankrita Shrivastava wandte sich an die FCAT, nach dessen Urteil einige Szenen geschnitten und der Film mit einem A-Zertifikat (nur für Erwachsene) veröffentlicht wurde. Die Hauptaufgabe des FCAT bestand also darin, die Beschwerden von Antragstellern auf Zertifizierung zu hören, die durch die Entscheidung des CBFC geschädigt wurden. Mehrere Filmemacher, darunter der preisgekrönte Vishal Bhardwaj, haben ihre Sorge nach der Abschaffung des FCAT geäußert und in den sozialen Medien gegen die Maßnahme protestiert.

In jüngster Zeit hat die Polizei zudem den Stand-up-Comedian Munawar Faruqui festgenommen, weil er angeblich Witze über Hindu-Götter gemacht hatte. Vor Kurzem wurden in Goa die Mitglieder der Rockband Dastaan ​​LIVE vom Vorwurf der Beleidigung religiöser Gefühle während der Aufführung eines Arts Festivals freigesprochen. Das Gericht stellte fest, dass die Polizei sensibler vorgehen solle, wenn es darum geht, das Delikt der Verletzung religiöser Gefühle als Anzeige aufzunehmen, da die Rede- und Meinungsfreiheit auf dem Spiel stehe.

 

Der Missbrauch der Meinungsfreiheit

In Indien wird Medienhäusern manchmal vorgeworfen, korrumpiert und zu regierungsfreundlich zu sein. Dies zeigt das Beispiel der jüngsten Berichterstattung über die COVID-19-Pandemie. So wurden nach Berichten deutscher Medien 15 Besitzer von Tageszeitungen im vergangenen Jahr von der Regierung verpflichtet, positiv über die Pandemiemaßnahmen der Regierung zu berichten. Da diese Medien ihrer Informationspflicht nicht nachkamen, wurden Probleme verschwiegen und deren Lösung nicht in Angriff genommen. Als die Pandemie dann Indien in erschreckendem Ausmaß traf, konnten die Tatsachen allerdings nicht mehr verschwiegen werden.

Auch der Einfluss großer Wirtschaftsunternehmen, die über ihre Werbung wesentlich die Anzeigeneinnahmen der Medien kontrollieren, führt zu Einschränkungen der Meinungsfreiheit. Denn trotz der Existenz einer Vielzahl von Medien in Indien gibt es gleichzeitig eine starke Marktkonzentration. Die indische Regierung ist der größte Auftraggeber für Anzeigen und kann so gemeinsam mit Verbündeten in der Privatwirtschaft die Einnahmen der Medienunternehmen erheblich beeinflussen. Der dem Premier Modi nahestehende reichste Geschäftsmann Indiens, Mukesh Ambani, „unterstützte“ fünf Medienunternehmen mit Krediten. Große Medienunternehmen bestimmen in einem hohen Maße, was publiziert wird. „Bezahlte Nachrichten“ stören jedoch die Pressefreiheit und verletzen ethische Grundsätze.

Ein weiteres Problem in Indien sind Medienprozesse – also das Phänomen, den Angeklagten noch vor der Urteilsverkündung des Gerichts zu einem Verurteilten abzustempeln. Eine solche Berichterstattung durch Nachrichtensender behindert jedoch die für die Justiz entscheidenden Ermittlungen und schädigt das Ansehen des Betroffenen meist dauerhaft. Die Medien sind zwar verpflichtet, Fälle von öffentlichem Interesse zu melden. Jedoch müssen sie, bevor sie berichten, genau prüfen, ob der Artikel oder die Erklärung durch die Pressefreiheit gedeckt ist oder nicht. Die Grenze zu einem Medienprozess wird dabei schnell überschritten. Der Suizid des Schauspielers Sushant Singh Rajput ist zum Gegenstand eines solchen Medienprozesses geworden, in dessen Verlauf die Medienhäuser den Ruf der Schauspielerin Rhea Chakraborty, der Lebensgefährtin des verstorbenen Schauspielers, völlig zerstört haben. Diese fand sich im Zentrum einer bösartigen, durch hochkarätige Journalisten und Social Media-Trolle angeführten Hasskampagne, die sie bereits als Schuldige aller möglichen Verbrechen vorverurteilte. Im Mordfall Aarushi Talwar, eines 13-jährigen Mädchens, hatten die Medien schon vor Beginn des eigentlichen Prozesses erklärt, wer schuldig war und wer nicht. Es stellte sich später heraus, dass der von der Presse bereits als Mörder „überführte“ Hausangestellte nicht der Täter war. Es gibt jedoch auch positive Fälle zu verzeichnen. In der Vergangenheit hatte sich die vierte Säule der indischen Demokratie in einigen bemerkenswerten Mordfällen als starke Waffe erwiesen, um das Interesse der Opfer zu fördern.

 

Kontrolle des Internets und der elektronischen Medien

Heute ist das Internet auch in Indien eine der wichtigsten Möglichkeiten (circa 630 Millionen geschätzte Nutzer) zur Verbreitung von Informationen. Als solches ist es von der garantierten Meinungsfreiheit des Artikel 19 Absatz 1 Buchstabe a der Verfassung erfasst.

2019 stellte das oberste indische Gericht fest, dass der Missbrauch von sozialen Medien gefährliche Ausmaße angenommen habe.

Auch in Indien ist man sich bewusst, dass sich der moderne Terrorismus der neuen Möglichkeiten bedient und diese grenzüberschreitend für seine Zwecke nutzt. Um ihn einzudämmen, mag ein temporäres Internetverbot bei entsprechenden Gewaltausschreitungen, zu welchen im Netz aufgerufen wird, ein angemessenes Mittel sein. Mit der Begründung, Fake News und Terrorismus einzudämmen, sind jedoch ausufernde Internet-Shutdowns in Indien in den letzten Jahren zu einem weit verbreiteten Phänomen geworden. Das Land hat weltweit die höchste Anzahl von Internetabschaltungen erlebt. Es steht allein für 70 Prozent (109 bekannte Fälle) der weltweiten Abschaltungen im Jahre 2020, so wie es auch 2018 und 2019 diese Erhebung angeführt hatte. Wie in den Jahren zuvor wurden die meisten Fälle im Unionsterritorium Jammu und Kaschmir verzeichnet. Bei diesen alarmierenden Zahlen stellt sich die Frage, inwieweit diese Abschaltungen die verfassungsrechtlich garantierte Meinungsfreiheit der Bürger aushebeln können.

Der Indian Telegraph (IT) Act von 1885 ermächtigt in Abschnitt 5(2) die Regierung, die Übertragung von Nachrichten aus Gründen der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit oder bei einem Notfall zu blockieren. Nach einer Intervention des Obersten Gerichtshofs wegen einer fünf Monate anhaltenden Sperre am 10. Januar 2020 hat die Regierung Modi schließlich Anordnungen erlassen, wonach Internet-Abschaltungen nur für 15 Tage gültig sein dürfen. Abschnitt 69A des IT Act 2000 ermächtigt die indische Regierung, Online-Inhalte zu blockieren und die Täter zu verhaften. Dieses Instrument, zum Schutze der Demokratie gedacht, scheint nun aber eher dazu genutzt zu werden, um die Wächterrolle der Medien einzudämmen. Die indische Presse berichtete Mitte Juni 2021, dass es der indischen Delegation beim jüngsten G7-Treffen gelungen sei, das Kommuniqué so zu verändern, dass die Kritik an indischen Internetabschaltungen aus dem Papier verschwunden und die nationale Sicherheit über individuelle Freiheiten gestellt worden sei. Außenminister Jaishankar hob hervor, dass Argumente der öffentlichen Sicherheit bei der Gestaltung von Kommunikationsflüssen Priorität haben müssten.

Die Arbeit im Internet, das (zurzeit noch) relativ frei von Regulierungen und Zensurnormen ist, gibt den Erstellern von Inhalten die intellektuelle Freiheit, ohne Angst, am Ende zensiert zu werden, zu experimentieren. Ihre kreativen Gedanken wurden in den OTT-Plattformen zu neuem Leben erweckt. Diese Plattformen sind relativ neu und frei von im eher konservativ orientierten Indien akzeptierten moralischen Standards. Darüber hinaus benötigen Filme, die auf einer OTT-Plattform veröffentlicht werden, keine Lizenz des Central Board of Film Certification. Die Regulierung von Inhalten bei OTT ist allerdings grundsätzlich bedeutsam, nicht zuletzt, um ein „level playing field“ im Vergleich zu traditionellen – regulierten – Medien zu garantieren und wirksam gegen Phänomene wie Hatespeech und Fake News vorgehen zu können. Im Jahr 2019 stellte das oberste indische Gericht im Fall Facebook vs. Union of India fest, dass der Missbrauch von sozialen Medien gefährliche Ausmaße angenommen habe, und forderte die Regierung auf, Richtlinien zur Lösung dieses Problems auszuarbeiten.

Seit die indische Regierung soziale Medien reguliert, liefern sich beide Seiten einen Schlagabtausch.

Es galt nun, einen angemessenen Rahmen zu schaffen, der die Meinungsfreiheit und notwendige Einschränkungen im Interesse von Recht und Ordnung ausbalanciert. Darüber hinaus wies der Oberste Gerichtshof die Zentral-regierung an, die Verantwortung für die auf diesen Medien präsentierten digitalen Inhalte zu übernehmen. Zwar hatte die Vertretung der OTT-Plattformen, die Internet and Mobile Association of India (IAMAI), ein freiwilliges Modell zur Selbstregulierung vorgeschlagen. Die Regierung lehnte diesen Vorschlag jedoch ab und erließ im Jahr 2021 selbst neue Regeln für die Informationstechnologie (Guidelines for Intermediaries and Digital Media Ethics Code Rules, 2021). Sie sollen die unterschiedlichen Bedenken der Menschen ansprechen und gleichzeitig alle Missverständnisse über die Einschränkung von Kreativität und Meinungsfreiheit beseitigen. Das Gesetz regelt auch die OTT-Plattformen, indem es sie auffordert, die Gesetze des Landes ihres jeweiligen Sendebereichs zu befolgen. Die Plattformen selbst müssen auch ein obligatorisches Beschwerdeverfahren einrichten. Angesichts des hier beschriebenen politischen Klimas ist die Befürchtung wohl nicht unberechtigt, dass diese Regelungen ausufernd interpretiert werden und nicht nur die Kreativität für Out-of-the-box-Inhalte, sondern auch journalistische Freiheiten weiter beschränken könnten.

Seit die indische Regierung soziale Medien wie Whatsapp, Twitter etc. reguliert, liefern sich beide Seiten einen Schlagabtausch. So müssen etwa auf gerichtliche oder staatliche Anweisung hin soziale Medien die Urheber bestimmter Veröffentlichungen offenlegen. Ebenso werden umfangreiche Sperrungen von Tweets oder ganzen Konten von staatlicher Seite gefordert. Auffallend dabei sei, so die Kritiker, dass es sich inhaltlich um mediale Kritik am Management der Coronakrise der Regierung bzw. um die Markierung von Tweets bestimmter BJP-Politiker in Regierungspositionen als manipulativ gehandelt habe. Die Debatte um die Grenzen der Freiheit sozialer Medien wird damit befeuert und zahlreiche Gerichtsverfahren sind anhängig. Eine indische Antwort auf die Debatte ist die Gründung einer Konkurrenz-App zu Twitter (Koo), die die „nutzerfreundlichen Auflagen“ der Regierung begrüßt und deren Einhaltung auch von ausländischen Unternehmen einfordert.

 

Fazit

Indischen Journalisten steht mit dem Verfassungsartikel 19 lediglich – wie allen Indern – das (Jedermanns-)Recht auf freie Meinungsäußerung zur Seite. Die Pressefreiheit ist verfassungsrechtlich nicht geregelt. Mit einer Verfassungsänderung, die der Medienfreiheit einen stärkeren verfassungsrechtlichen Rang einräumen würde, ist in absehbarer Zeit nicht zu rechnen. Jedoch sollten, um die Medienfreiheit zu schützen, klarere Medienregelungen auf einfachgesetzlicher Ebene erwogen werden. Dabei sollte nicht nur auf klassische Medien abgehoben werden, sondern es sollten insbesondere die Cyberwelt, das Internet und kommende technische Entwicklungen der Kommunikation einbezogen werden.

Auch in Zukunft sind Internetsperren zu erwarten, die nunmehr aufgrund höchstgerichtlicher Entscheidung jeweils zeitlich begrenzt sein werden. Jedoch könnten die negativen Wirkungen auf die Kommunikationsfreiheit der Medien und der Bevölkerung – und damit die Schädigung demokratischer Prinzipien – zumindest abgemildert werden, wenn nicht stetig auf Totalsperren zurückgegriffen würde. Möglicherweise lässt sich der beabsichtigte Sicherheitserfolg auch erzielen, wenn unter Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips mildere Maßnahmen ergriffen würden. So steht etwa der Vorschlag im Raum, in solchen Lagen nicht das Netz völlig zu sperren, sondern die technischen Möglichkeiten der Nachrichtenübermittlung zu begrenzen. Beim Herunterfahren von einer 4G- auf eine 2G-Konnektivität könnten keine Videos oder Audios, die zu Gewalt aufstacheln, mehr geteilt werden. Dies würde der Bevölkerung jedoch eine grundsätzlich notwendige Kommunikation ermöglichen.

Wenn Journalisten attackiert werden, sollte man von der Regierung und vor allem von den Sicherheitskräften zu ihrem Schutz eine proaktivere Haltung erwarten. Die justizielle Aufarbeitung von Straftaten gegen Journalisten könnte institutionell von Überwachungsgremien begleitet werden, um ein Versanden zu verhindern. Ein guter Anfang wäre bereits gemacht, wenn die Exekutive mehr Zurückhaltung gegenüber Kritik üben würde. Wissenschaftler, Journalisten, ja ganze Medien wurden mehrfach als antinational bezeichnet bzw. als Hasstreiber oder urbane Naxaliten (eine maoistisch geprägte Guerillabewegung) tituliert. Abweichende Meinungen aber sind bei jeglichem Regierungshandeln und überall auf der Welt völlige Normalität. Dass diese auch geäußert werden dürfen und häufig zu einer Verbesserung des staatlichen Handelns führen, ist Kennzeichen einer Demokratie. Wird dies unterbunden, ist letztlich die Demokratie an sich gefährdet.

Die stetige Abwertung Indiens in der Qualität von Freiheitsrechten, unter anderem der Pressefreiheit, hat wenig mit westlicher Voreingenommenheit zu tun. Sie ist Folge der dargestellten Maßnahmen oder unterbliebener Handlungen und wird auch in Indien so wahrgenommen. Daher werden Beschwerden über die Bewertungen wenig an der Situation ändern. Gefordert ist vielmehr aktives Handeln bzw. Unterlassen im beschriebenen Sinne. Wird dies entsprechend umgesetzt, ist auch mit einer Verbesserung der Pressefreiheit in Indien zu rechnen. Dass sich damit auch Bewertungen und Rankings verbessern dürften, ist eher nachrangig.

Die Erstellung dieses Beitrags wurde von Prasanta Paul, Student der Statesman Print Journalism School in Kalkutta, Jahrgang 2020 – 2021, unterstützt.

 


 

Peter Rimmele ist Leiter des Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Indien.


 

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