Ausgabe: 3/2021
Meinungsfreiheit als zentrales Element der Demokratie
Wesentliche Bestandteile einer funktionierenden Demokratie sind die Meinungsvielfalt, ein politischer und gesellschaftlicher Pluralismus sowie vor allem die Fähigkeit und Bereitschaft zum Dialog. Zur Demokratie gehören selbstverständlich auch ein funktionierender Rechtsstaat, Gewaltenteilung, Zugang und Durchführung freier und fairer Wahlen sowie ein politisches System mit demokratischen Parteien und Organisationen wie auch eine aktive, organisierte und partizipative Zivilgesellschaft. Wenn allerdings in diesem Zusammenhang die Meinungs- und Pressefreiheit bedroht wird, wenn eine bestimmte Meinung oder politische Position einseitig durchgesetzt werden soll und damit der Freiraum für Kritik an Regierung, Regierenden und Politik eingeschränkt oder gar ausgesetzt wird, ist ebendiese freiheitliche Demokratie gefährdet und es öffnet sich der Weg zu autoritären Strukturen und Mechanismen.
Autoritären Staaten und Regimen ist die uneingeschränkte Meinungs- und Pressefreiheit zutiefst zuwider, jedweder offene und freie Dialog, Meinungsaustausch oder gar Kritik, Bewertung oder Dissens über die eigene politische Position werden als konkrete Bedrohung wahrgenommen und entsprechend bekämpft. Von daher ist der Grad der Meinungs- und Pressefreiheit auch ein eindeutiger Indikator für die Funktionsfähigkeit beziehungsweise Qualität oder gar die Überlebensfähigkeit einer Demokratie.
Im Fall Mexikos stand das Recht auf freie Meinungsäußerung fast schon traditionell in direkter Konfrontation mit der politischen Macht und wurde in den letzten zehn bis 15 Jahren in einer dramatischen Spirale zunehmender Gewalt durch die organisierte Kriminalität, die in Mexiko von den immer mächtigeren Drogenkartellen dominiert wird, weiter ausgehöhlt. Die demokratische Entwicklung des Landes hat zwar seit dem Jahr 2000 eine größere Pluralität von Medien sowie Analyse- und Reflexionsräumen aller politischen Art ermöglicht sowie die Vielfalt der öffentlich sichtbaren Meinungen und Standpunkte erhöht, die Zahl der Gewalttaten gegen und der Ermordungen von Journalisten hat sich dadurch allerdings nicht verringert.
Ein Beruf mit hohem Risiko
71 Jahre lang (bis zum ersten Regierungswechsel im Jahr 2000 durch Vicente Fox) wurde Mexiko ununterbrochen von derselben politischen Partei regiert, der Partido Revolucionario Institucional (PRI), die die Meinungsfreiheit im Land stark einschränkte. Das PRI-Regime übte einerseits permanenten Druck auf die Medien durch Zensur und staatliche Förderung aus, unterdrückte Dissidenten, überwachte Veröffentlichungen, diskreditierte unabhängige Medien. Andererseits verschaffte es regierungsfreundlichen Medien offizielle Aufmerksamkeit und konkrete wirtschaftliche Vorteile (etwa durch umfangreiche Anzeigenkampagnen der Regierung) einschließlich der Zahlung von Bestechungsgeldern an Journalisten, um eine positive Berichterstattung über die Regierung zu gewährleisten. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass sich diese Verhaltensmuster und Vorgehensweise nicht auf die nationale Ebene beschränkten, sondern auch von den jeweiligen Landesregierungen und Gouverneuren in gleicher, manchmal sogar noch härterer Art praktiziert wurden.
Auch heute sind zahlreiche Medien finanziell von staatlichen Anzeigen abhängig, wenn die Einnahmen aus kommerzieller Werbung, Verkäufen oder Abonnements nicht ausreichen, um ihre Ausgaben zu decken. Im Jahr 2020 vereinten zehn Medien 54 Prozent des mexikanischen öffentlichen Budgets für staatliche Anzeigen auf sich, der Rest verteilte sich auf 387 weitere Medien.
Erwähnenswert ist auch, dass während der 70-jährigen Dauerherrschaft der PRI der einzige Anbieter von Zeitungspapier in Mexiko ein staatliches Monopolunternehmen war und der Vertrieb der Zeitungen auf nationaler Ebene über die der PRI angeschlossenen Gewerkschaften kontrolliert wurde. Die staatliche Überwachung der Medien wurde Anfang der 1990er Jahre im Zuge einer sukzessiven politischen Öffnung des Landes etwas gelockert. Auslöser war die damalige Wirtschaftskrise, in deren Zusammenhang eine grundsätzliche Liberalisierung der Märkte angestoßen wurde und die auch eine gewisse Stagnation und politische Abnutzung der PRI-Regierungen zur Folge hatte. Das staatliche Monopol auf Zeitungspapier wurde ebenfalls beendet und es wurden neue Regeln für die Zuweisung öffentlicher Mittel an die Medien und für die Öffentlichkeitsarbeit der Bundes- und Landesregierungen eingeführt.
Mit der Regierungsübernahme der Partido Acción Nacional (PAN) im Jahr 2000 unter Staatspräsident Vicente Fox erfolgten Reformen der Transparenzgesetze mit dem Ziel, einen besseren Zugang zu öffentlichen Informationen zu gewährleisten. Insgesamt führte dies zu einer signifikanten Verbesserung der Presse- und Meinungsfreiheit in Mexiko und die öffentliche Meinung wurde so als signifikanter Faktor für die Konsensbildung und Bewertung der Regierungspolitiken und -maßnahmen gestärkt.
Ebenso begannen die Medien als Gegengewicht zur Regierungsmacht zu fungieren: Mit ihrer gestärkten Position intensivierte sich die öffentliche Debatte zur Einforderung von mehr Rechenschaft und Transparenz in der öffentlichen Verwaltung. Allerdings gingen auch in dieser Zeit, trotz des politischen Wandels und der entsprechenden Gesetzesänderungen, die Angriffe auf Journalisten weiter.
Der kolumbianische Schriftsteller, Journalist und Nobelpreisträger Gabriel García Márquez bezeichnete seinerzeit den Journalismus als „den schönsten Beruf der Welt“, in Mexiko sei er aber auch einer der riskantesten. Die Organisation Reporter ohne Grenzen stuft Mexiko derzeit als eines der gefährlichsten Länder des amerikanischen Kontinents für Journalisten ein. In deren Rangliste der Pressefreiheit liegt Mexiko auf Platz 143 von insgesamt 180 bewerteten Nationen und wird zusammen mit Ländern wie Myanmar, Indien, Kambodscha oder Pakistan in die Kategorie „schwierige Situation“ eingestuft.
ARTICLE 19, eine internationale Menschenrechtsorganisation zur Verteidigung der Meinungs- und Informationsfreiheit, hat registriert, dass seit der Jahrtausendwende 138 Journalisten in Mexiko ermordet wurden. Häufig haben diese Journalisten, im Verbund mit zivilgesellschaftlichen Organisationen und Medien, mit Nachdruck auf den Mangel an sozialer Gerechtigkeit und die erschreckend hohe Straflosigkeit sowie nur zaghafte polizeiliche und strafrechtliche Verfolgung krimineller Aktivitäten aufmerksam gemacht und sich so selbst in akute Lebensgefahr gebracht. Bisher haben die mexikanischen Behörden auf diese Beschwerden und Forderungen kaum reagiert.
Tatsächlich gehört Mexiko zu den Ländern mit der höchsten Straffreiheit für Verbrechen gegenüber Journalisten. Das Committee to Protect Journalists (CPJ) stellt für Mexiko laut dem Global Impunity Index 2020 mit Blick auf die Zahl von Morden an Journalisten, die nicht aufgeklärt werden oder gar zu einer Verurteilung führen, den sechsthöchsten Wert weltweit fest. Die Studie zeigt auch, dass die Ursachen, die zu dieser Situation führen, im Wesentlichen auf Korruption, schwache Institutionen und fehlenden politischen Willen zurückzuführen sind.
Gesellschaftliche Transformation und Meinungsfreiheit – Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit
Der Wahlsieg Andrés Manuel López Obradors (AMLO) im Jahr 2018 und damit die Regierungsübernahme eines linken Politikers ging einher mit einer enormen Erwartungshaltung, was gesellschaftspolitische Veränderungen betraf. Dazu zählten die Hoffnung auf eine Stärkung der Zivilgesellschaft, aber auch eine deutliche Verbesserung der Meinungs- und Pressefreiheit inklusive eines deutlich verbesserten Schutzes der Journalisten gegen verbale und physische Gewalt. Diese Erwartungen und Hoffnungen haben sich nach fast drei Jahren im Amt nicht erfüllt. Im Gegenteil: Das Verhältnis zwischen Präsident und Medien beziehungsweise Journalisten ist sehr angespannt. Es gibt einen offensichtlichen Widerspruch zwischen dem offiziellen Diskurs und dem Anspruch AMLOs, den „Respekt vor der Vielfalt des Denkens“ zu gewährleisten einerseits, und den häufigen Angriffen der Regierungsvertreter und des Präsidenten selbst andererseits, wenn kritische Fragen, Kommentare oder Berichte zur Regierungspolitik in den nationalen und internationalen Medien veröffentlicht werden.
AMLOs Narrativ und sein politischer Diskurs sind klar auf sein Projekt der sogenannten Cuarta Transformación (4T) fokussiert. Dabei verwendet er sehr intensiv Symbolismen und historische Analogien aus der Geschichte Mexikos, um dieses Projekt und seine gesellschaftspolitischen Anliegen in der öffentlichen Meinung zu verankern. In diesem Kontext spielen seine von Montag bis Freitag frühmorgens abgehaltenen, in der Regel anderthalbstündigen Pressekonferenzen (mañaneras) eine zentrale Rolle. Mit diesem Instrument betreibt er ein umfassendes und sehr erfolgreiches Agenda Setting und schafft es, politische Themen vorzugeben, neue Schwerpunkte zu setzen und letztlich Medien und Opposition vor sich herzutreiben.
Für die These, dass die Presse- und Meinungsfreiheit in Mexiko neben der ganz konkreten Lebensgefahr für Journalisten zusätzlich durch neuere, aktuelle Entwicklungen und Maßnahmen gefährdet ist, sprechen im Wesentlichen drei im Folgenden erläuterte Aspekte:
Stigmatisierung der Presse
AMLO hat die von ihm schon im Wahlkampf und seit seinem Amtsantritt am 1. Dezember 2018 konsequent und nachhaltig betriebene politische und gesellschaftspolitische Polarisierung auch auf die Medien und Journalisten ausgedehnt. Er teilt diese klar in „gute“ und „schlechte“ Akteure auf, was gleichzusetzen ist mit regierungsaffiner (guter) und regierungskritischer (schlechter) Berichterstattung. Der Präsident betreibt so kein generelles „Medienbashing“ und betont auch immer wieder, wie wichtig die freie Meinungsäußerung sei, geht dann aber mit kritischen Kommentatoren ausgesprochen hart und auch persönlich ins Gericht. Das gilt gleichermaßen für nationale wie ausländische Medien und Journalisten. Diesen kritischen Journalisten und Medien wirft AMLO dann in der Regel vor, „konservativ“ zu sein und von Unternehmensgruppen finanziert zu werden, die mit früheren „neoliberalen Regierungen“ verbunden seien. So nutzte er beispielsweise seine morgendliche Pressekonferenz am 25. September 2020 dazu, konkrete Namen von Medien und Journalisten zu nennen, die seiner Ansicht nach negative Artikel über seine Regierungspolitik geschrieben hatten. Er merkte an, dass insgesamt 148 Artikel aus nationalen und lokalen Medien überprüft worden seien, und beschwerte sich, dass 66 Prozent dieser Artikel gegen sein 4T-Projekt gerichtet waren.
Ein anderes Beispiel war die Reaktion auf Kritik im Zusammenhang mit dem von AMLO initiierten Infrastrukturprojekt Tren Maya. Diese geplante 1.525 Kilometer lange Bahnstrecke, die touristische Hotspots durch die Bundesstaaten Tabasco, Chiapas, Campeche, Yucatán und Quintana Roo verbinden soll, ist in weiten Teilen der Bevölkerung und bei Experten höchst umstritten. Verschiedene Journalisten, Umwelt-NGOs und Akademiker hatten vor allem auf die zu befürchtenden Umweltschäden sowie negative wirtschaftliche und soziale Auswirkungen auf die betroffenen Gemeinden hingewiesen. Der Sprecher des Präsidialamts, Jesús Ramírez Cuevas, warf darauf einigen Medien und zivilgesellschaftlichen Organisationen vor, ausschließlich dafür bezahlt zu werden, das Projekt zu kritisieren.
Um López Obradors Selbstverständnis beziehungsweise sein Verhältnis zum Journalismus zu verdeutlichen, kann eine weitere Episode bei der mañanera vom 23. September 2020 dienen, bei der er von einem der anwesenden Journalisten gefragt wurde, was aus seiner Sicht „guten Journalismus“ ausmache und ob dies ein Journalismus sei, der seine Regierung verteidigt. AMLO antwortete darauf, dass „guter Journalismus das Volk verteidigt und weit von der Macht entfernt ist“, dass aber das, „was wir jetzt haben, ein Journalismus ist, der der wirtschaftlichen Macht sehr nahe steht […], es ist ein Elite-Journalismus, der das Volk nicht verteidigt“. Diese Zuordnung ist Ausdruck einer Polarisierung, die der Präsident ähnlich auch mit Blick auf die politischen Parteien, die Privatwirtschaft und auch die Nichtregierungsorganisationen vorantreibt.
Dabei unterstreicht AMLO dann auch immer wieder, dass er sich ausschließlich dem Volk (el pueblo sabio y bueno – das weise und gute Volk) verpflichtet sieht, allerdings dann auch nur dem Teil dieses Volkes, der seine politische Vision teilt und in ihm den legitimen Präsidenten und Hoffnungsträger sieht. Bei auch nach knapp drei Jahren noch bemerkenswerten rund 60 Prozent Zustimmung in der Bevölkerung scheint dieses Konzept bis dato für ihn aufzugehen.
Eine öffentliche Rüge des Präsidenten bedeutet, öffentlich beschuldigt zu werden, Ungleichheit, Korruption und Straflosigkeit zu befürworten. Denn „den Ärmsten helfen, Korruption bekämpfen und die Lebensbedingungen der Mexikaner verbessern“ sind seit dem Wahlkampf 2018 Schlagworte und Ziele im 4T-Projekt. Die Logik ist einfach: Wenn jemand den Präsidenten oder die Bundesregierung angreift, dann ist er auch gegen diese Ziele.
Für Dissens oder Meinungsvielfalt ist in dieser Logik kaum Platz. Wenn die Regierung oder der Präsident sich allein im Besitz der Wahrheit wähnen, dann definieren sie auch, welche Medien oder Journalisten lügen. Eine konkrete Auswirkung dieser Logik ist seit dem 30. Juni 2021 in den morgendlichen Pressekonferenzen erkennbar, die nun jeweils mit der Rubrik „Wer ist wer bei den Lügen diese Woche?“ starten – um diejenigen Medien zu delegitimieren, die die Regierung kritisieren.
Kurz vor den jüngsten Zwischenwahlen in Mexiko am 6. Juni erreichte die Auseinandersetzung des Präsidenten mit den Medien dann auch internationales Niveau: The Economist, Le Monde, Die Welt und The Nation veröffentlichten ausführliche Artikel mit einer durchweg kritischen Bewertung der ersten drei Amtsjahre der Regierung AMLOs. Obwohl diese Medien durchaus unterschiedlichen politischen Richtungen zuzuordnen sind, waren sich die Autoren der Artikel dahingehend einig, dass die zentralen Probleme Mexikos nach wie vor ungelöst seien. Zu nennen wären hier die fehlende signifikante Verbesserung der Lebensbedingungen der Bevölkerung, die omnipräsente und steigende Gewalt der organisierten Kriminalität, die unvermindert hohe Korruption sowie die Straflosigkeit. Zudem setze die mexikanische Regierung im Gegensatz zum Großteil der Welt weiter auf fossile Brennstoffe und vernachlässige die erneuerbaren Energien. Bei der Regierungsführung ließen sich schließlich zunehmend autoritäre Elemente ausfindig machen.
Besonders empfindlich reagierte die Regierung auf die Titelstory des Economist vom 27. Mai 2021, in der AMLO als „falscher Messias“ tituliert wurde. Dies nahm er zum Anlass, um bei seiner morgendlichen Pressekonferenz den Bericht als „unhöflich, verlogen, propagandistisch und neoliberal“ zu verurteilen. Ferner warf er der Zeitschrift vor, „konservativ“ zu sein und nicht über die Korruption früherer Regierungen zu schreiben. Letztlich wurde Außenminister Marcelo Ebrard aufgefordert, sich mit einem Brief (der natürlich unmittelbar von der Regierung veröffentlich wurde) an die Redaktion des Magazins zu wenden. In diesem Brief wies der Minister darauf hin, dass die Zeitschrift „unsensibel“ sei und sie „López Obrador und sein nationales Projekt nicht verstehe“, da in seiner Vision „die am stärksten marginalisierten Bevölkerungsschichten eine Priorität haben“.
Fehlende Schutzmechanismen für Journalisten
Im Rahmen ihrer Sparmaßnahmen beschloss die Regierung im Oktober 2020, 109 staatliche, zum Teil finanziell üppig ausgestattete Treuhandfonds (fideicomisos) aufzulösen und diese Mittel wieder in den zentralen Haushalt einzuspeisen. Dies wurde damit gerechtfertigt, dass die Verwendung und Vergabe der Mittel dieser Fonds weder transparent noch effizient gewesen seien und es aktuell dringenderen finanziellen Bedarf an anderen Stellen gebe. Konkret sollten diese Gelder für die zusätzlichen Anforderungen im Gesundheitsbereich und bei der wirtschaftlichen Erholung im Kontext der COVID-19-Pandemie eingesetzt werden. Es sei hier einmal dahingestellt, inwieweit die Vorwürfe (Korruption und mangelnde Transparenz, die noch nicht bewiesen sind) gerechtfertigt waren (eine pauschale Beurteilung trägt zumindest nicht zu einer serösen Betrachtung bei) und auch die Frage, inwieweit eine generelle Einspeisung in den Bundeshaushalt dann auch die angedachte Fokussierung auf die Pandemiefolgen bewirkte, ist nicht eindeutig zu beantworten. Klar ist aber, dass die Auflösung dieser Fonds nicht nur einschneidende Kürzungen und damit die Reduzierung konkreter Möglichkeiten im Bereich Wissenschaft und Forschung zur Folge hatte (dort war die Mehrheit dieser Fonds angesiedelt), sondern eben auch ein spezifischer Fonds für den Schutz von Menschenrechtsverteidigern und Journalisten ersatzlos wegfiel. Die Streichung des Fonds kann das Leben und die Sicherheit von Opfern, Menschenrechtsverteidigern und Journalisten gefährden, denn die Ressourcen wurden für Hilfsmaßnahmen, so wie Nahrung, Unterkunft, Transport, Sicherheit, Bestattungskosten und verschiedene medizinische Kosten, verwendet.
Zwar soll nun ein ähnlicher Mechanismus als Teil der Aufgaben des Innenministeriums implementiert werden, es ist aber noch unklar, ob dafür zusätzliche Ressourcen für die Durchführung entsprechender Aktivitäten bereitgestellt werden. Hinzu kommen (berechtigte) Zweifel, inwieweit ein solcher, dann von der Regierung gesteuerter Fonds auch die politische Neutralität wahrt, die in dem staatlichen, aber regierungsunabhängigen Fonds gegeben war. Dieser Aspekt ist angesichts der weiter oben beschriebenen Polarisierung ein nicht zu vernachlässigender Faktor. Der Vollständigkeit halber sei in diesem Zusammenhang auch noch erwähnt, dass gleichzeitig die bestehenden Militär-Treuhandfonds aufrechterhalten und ihre Ressourcen von 2,5 Milliarden Pesos im Jahr 2019 auf 31 Milliarden im Jahr 2020 erhöht wurden – ein bemerkenswerter Kontrast.
Angriffe aus sozialen Netzwerken
So wie sich die traditionellen Medien an digitale Plattformen und soziale Netzwerke angepasst haben, hat sich auch die Repression und Einschüchterung von Journalisten verändert und auf diese Instrumente ausgedehnt beziehungsweise verlagert. Die Recherchen des auf diese Themen spezialisierten Signa Lab-Labors der Jesuitenuniversität ITESO in Guadalajara zeigen, wie soziale Netzwerke für politische Zwecke, Zensur und Einschüchterung genutzt werden. Der Bericht „Demokratie, Meinungsfreiheit und die digitale Sphäre. Analyse von Trends und Topologien auf Twitter: der Fall #RedAMLOVE“ weist nach, dass es beispielsweise ein Netzwerk (#RedAMLOVE) auf Twitter gibt, dessen zentrale Aktivität darin besteht, die Gegner des Präsidenten anzugreifen. Die Autoren dieser Studie stellten fest, dass dieses Netzwerk eine ausgeklügelte Strategie verfolgt, indem es Inhalte gegen Journalisten und Medien produziert und massiv repliziert, die sich kritisch mit den Themen befassen, die AMLO bei seinen Pressekonferenzen aufgeworfen hat. Konkrete Beispiele bzw. Opfer dieser digitalen Attacken waren unter anderem die Journalisten Carlos Loret de Mola, Joaquín López Dóriga und Ivonne Melgar.
Laut dem Bericht von Signa Lab zeichnen sich diese orchestrierten Angriffe durch eine bewusst gewalttätige Sprache aus und haben so zu einer stärkeren Polarisierung der Gesellschaft, einer Radikalisierung politischer Positionen und sogar zu einer gewissen Selbstzensur geführt, da Menschen es in diesem Kontext vorziehen, ihre Meinung lieber nicht öffentlich zu äußern, um Angriffe und Drohungen zu vermeiden. #RedAMLOVE war auch erfolgreich bei der massiven Positionierung von regierungsfreundlichen Trends auf Twitter durch entsprechende Hashtags, wodurch sie die Sichtbarkeit der Kritiker des Präsidenten minimiert hat.
Dies ist allerdings kein Einzelfall: Signa Lab und ARTICLE 19 veröffentlichten auch eine Untersuchung, die nachweist, dass verbale Angriffe auf Journalisten direkt von der öffentlich-rechtlichen Nachrichtenagentur NOTIMEX ausgingen. Der Bericht „Gezielte Angriffe: Verleumdungsstrategien“ verdeutlicht, wie Twitter-Accounts bestimmter Journalisten angegriffen wurden, die sich über die Leistung der Agentur beschwert hatten. Verschiedene Zeugenaussagen bestätigen, dass Sanjuana Martínez, Direktorin von NOTIMEX, die Angriffe auf Journalisten und ehemalige Mitarbeiter der Nachrichtenagentur direkt in Auftrag gegeben hat.
Als der Bericht veröffentlicht wurde und die Medien darüber zu berichten begannen, griff Staatspräsident AMLO persönlich ein und kritisierte ARTICLE 19 in einer seiner Morgenkonferenzen scharf. Bei der wie üblich im nationalen Fernsehen live übertragenen Pressekonferenz beschuldigte er die Organisation, Gelder und Ressourcen von der US-Regierung erhalten zu haben und diese gegen seine Regierung zu verwenden. Konkret nannte er ARTICLE 19 eine „Putschorganisation“. Es stimmt in diesem Zusammenhang, dass die Organisation seit vielen Jahren von USAID, der amerikanischen Entwicklungsagentur, gefördert wird (schon lange vor der Amtsübername AMLOs 2018), wiewohl USAID gleichzeitig auch zahlreiche Governance- und Entwicklungsprojekte der aktuellen mexikanischen Regierung finanziert.
Der Konflikt eskalierte schließlich dahingehend, dass sich der Präsident nach einem weiteren ähnlichen Vorwurf gegen eine mexikanische NGO (Mexicanos Contra la Corrupción y la Impunidad, ebenso mit Fördermitteln von USAID ausgestattet) schriftlich an die US-Regierung mit der Forderung wandte, die Finanzierung von Projekten und Aktivitäten von Organisationen einzustellen, die aus seiner Sicht gegen seine Regierung beziehungsweise die Cuarta Transformación arbeiten. Die Biden-Administration hat bisher nicht direkt auf diesen Brief reagiert, subtile Kommentare von Präsident Biden, sich weiter international gegen Korruption einzusetzen, und auch die Ausklammerung dieser Thematik beim jüngsten Besuch von Vizepräsidentin Kamala Harris in Mexiko am 8. Juni 2021 zeigen, dass man sich von US-amerikanischer Seite nicht so einfach beeindrucken lässt.
Amnesty International, Red de Rendición de Cuentas (ein Netzwerk zur Rechenschaftspflicht) und Journalisten wie Lydia Cacho, die 2005 gefoltert wurde, solidarisierten sich nach diesen Vorwürfen unmittelbar mit ARTICLE 19. Sie verurteilten die Angriffe und unterstrichen die Bedeutung der Organisation, die „Leben, die Integrität und die Freiheit von Dutzenden Journalisten und Kommunikatoren gerettet hat“.
Fazit
Die Presse- und Meinungsfreiheit in Mexiko steht, wie dargestellt, heute vor einer doppelten Herausforderung: einerseits die nicht nachlassenden spezifischen Bedrohungen und Ermordungen von Journalisten, die in den meisten Fällen auf das Konto der organisierten Kriminalität gehen, und andererseits der befremdliche Umgang mit diesen Freiheiten durch die mexikanische Regierung. Dass damit eines der essenziellen Elemente einer freiheitlichen Demokratie ausgehöhlt und die Demokratie in Mexiko selbst geschwächt wird, ist bedenklich. Ferner wird dadurch einer Zunahme der gesellschaftlichen Polarisierung der Weg geebnet, was aber offensichtlich Teil der politischen Strategie der mexikanischen Regierung ist.
Wie sich das auf die Erfolgsaussichten der Regierung AMLOs auswirkt, ist noch nicht abschließend zu bewerten. Die von ihm angestoßene Cuarta Transformación hat schließlich durchaus zutreffend die mexikanischen Entwicklungsdefizite identifiziert und entsprechend Zuspruch in der Bevölkerung erreicht. Ob allerdings der eingeschlagene Lösungsweg diese Probleme erfolgreich beheben wird, darf zur Halbzeit der Regierung zumindest bezweifelt werden. Die dargestellten Defizite bei der Presse- und Meinungsfreiheit erhärten diese Skepsis.
Hans-Hartwig Blomeier ist Leiter des Auslandsbüros Mexiko der Konrad-Adenauer-Stiftung.
Luis Téllez Live ist Projektmanager im Auslandsbüro Mexiko der Konrad-Adenauer-Stiftung.
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