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Valentyn Ogirenko, Reuters

Auslandsinformationen

New Kids on the Block

von Franziska Fislage

Zum Potenzial neuer Parteien in Europa

Sie sind die New Kids on the Block – neue Parteien in Europa. Sie bezeichnen sich als neu und anders. Einige konnten schnell Wahlerfolge erzielen. Die Gründe für ihren Erfolg sind vielfältig und länderspezifisch, zeugen aber auch von einem generellen gesellschaftlichen Wandel. Diese Parteien verändern nicht nur die Parteienlandschaften, sondern stellen auch die etablierten Parteien vor neue Herausforderungen. Was heißt dies für die Zukunft der Parteiendemokratie und welche Chancen bieten diese Veränderungen den etablierten Parteien?

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Das Wahljahr 2019 war in der Ukraine eine Überraschung in vielerlei Hinsicht: Zum einen wurde Wolodymyr Oleksandrowytsch Selenskyj zum neuen Präsidenten gewählt. Selenskyj war bis dato zwar eine Person des öffentlichen Lebens, aber nicht in der Politik, sondern unter anderem als Komiker und Hauptdarsteller der Polit-Comedy-Serie Sluha Narodu (Diener des Volkes). In der Serie spielt er einen Geschichtslehrer, der die ukrainische Politik kritisiert und schließlich zum ukrainischen Präsidenten gewählt wird. Zum anderen wurde die Partei von Selenskyj, Sluha Narodu, zur stärksten politischen Kraft im ukrainischen Parlament. Damit konnte eine Partei, die gut ein Jahr vor der Wahl als Nachfolgepartei der „Partei der entscheidenden Veränderungen“ gegründet wurde und die wenige Wochen vor der Wahl kaum jemand kannte, bei der ersten Wahlteilnahme ausreichend Wählerinnen und Wähler mobilisieren, um die Wahl für sich zu entscheiden.

Sluha Narodu ist jedoch nicht der einzige Parteienneuling in der Ukraine. Daneben gründete sich vor der Parlamentswahl 2019 auch die Partei Holos des bekannten ukrainischen Musikers Swjatoslaw Wakartschuk. Aber auch außerhalb der Ukraine haben sich in den letzten Jahren neue Parteien aufgetan. Sie erlebten in Teilen erstaunliche Wahlerfolge – von dem direkten Einzug ins Parlament bis hin zum Wahlsieg mit anschließender Regierungsverantwortung. Hierzu gehörten vor allem Parteien wie Podemos und Ciudadanos in Spanien, ANO 2011 in Tschechien, NEOS in Österreich, die Fünf-Sterne-Bewegung in Italien, SMC in Slowenien und vor allem La République en Marche (LREM) in Frankreich. Wenngleich Glanz und Erfolg einiger neuer Parteien bereits wieder verblassen, konnten sich andere im jeweiligen Parteiensystem behaupten oder durchsetzen und die ein oder andere etablierte Partei unter Druck setzen. Damit ist jedoch noch kein Ende in Sicht. Der Trend der Parteineugründungen, die in kürzester Zeit die Parteienlandschaften verändern, hält an und wird sich auch in Zukunft fortsetzen, sodass die bisherigen Parteiensysteme in Bewegung bleiben (müssen).

 

Die alten Neuen

Parteineugründungen sind natürlich kein unbekanntes Phänomen. Tatsächlich hat es seit Herausbildung von Parteiensystemen vor mehr als einhundert Jahren immer wieder Neugründungen gegeben, anders ließe sich die heutige Parteienvielfalt in vielen Ländern Europas nicht erklären. Viele der einstigen Neulinge können inzwischen auf eine jahrzehntealte Tradition zurückblicken und sind fester Bestandteil des Parteiensystems in ihren Ländern geworden. Ein neues Phänomen ist jedoch die Geschwindigkeit, mit der die neuen Parteien Erfolge verbuchen können. Häufig vergehen, wenn überhaupt, nur wenige Jahre zwischen Gründung einer neuen Partei und deren Einzug ins jeweilige Parlament oder gar in die jeweiligen Präsidialämter. Der Lebenszyklus von Parteien hat ein neues Tempo angenommen. Die Geschwindigkeit, mit der sich die Gesellschaft verändert, schlägt mittlerweile auch auf die Parteienlandschaft durch – zumindest in vielen Ländern Europas.

Viele der früheren Stationen im Etablierungsprozess von Parteien finden wir heute nicht mehr vor.

In der Vergangenheit fristeten neu gegründete Parteien und Bewegungen in der Regel über viele Jahre ein Dasein außerhalb der Parlamente und ohne große Reichweite. Viele Parteien mussten vorerst mit der außerparlamentarischen Opposition vorliebnehmen. Interne Macht- und Richtungskämpfe, Debatten und Diskussionen über Positionen und Programme, der Aufbau von landesweiten Strukturen sowie nicht zuletzt das kritische Beäugtwerden durch die etablierten Parteien und die Öffentlichkeit gehörten zu den ersten obligatorischen Schritten im Etablierungsprozess. In den „Lehrjahren“ mussten stabile demokratische Willensbildungsprozesse etabliert, eine programmatische Grundlage errichtet, eine Parteiorganisation aufgebaut und die Wahlkampfführung erprobt werden. Das Erlernen des Handwerkzeugs war dabei genauso wichtig wie die Akzeptanz innerparteilicher Mehrheitsentscheidungen durch die unterlegenen Parteiminderheiten. Dieser nicht immer geradlinige Prozess konnte sich über viele Jahre hinziehen und dann in erste Erfolge auf regionaler Ebene münden. Während einige Parteien sich über die Jahre recht erfolgreich etablieren konnten, gerieten andere Parteien, wie etwa die Piratenpartei, in vielen Ländern Europas nach anfänglicher Euphorie wieder schnell ins politische Abseits und schafften es nicht, mittel- und langfristig politisch Fuß zu fassen.

In der Vergangenheit zeigte sich, dass Parteien und auch Bewegungen ohne interne Strukturen und eine klare Organisation kaum als ernsthafte Konkurrenz zu den etablierten Parteien wahrgenommen werden konnten. Hinzu kam, dass selbst der Einzug ins Parlament nicht mit einer Regierungsbeteiligung, sondern oftmals mit der Oppositionsbank verbunden war. Viele Parteien konnten erst nach mehreren Jahren in der Opposition Wahlergebnisse erzielen, die den Anspruch auf eine Regierungsbeteiligung rechtfertigten – und dies dann in der Regel höchstens als Juniorpartner. Viele der früheren Stationen im Etablierungsprozess finden wir heute nicht mehr vor.

 

Der gesellschaftliche Wandel als Katalysator

Wie verschiedene Parteineugründungen in Europa zeigen, ist es keine Seltenheit mehr, Wahlen auf Anhieb zu gewinnen oder als Partei kurz nach der Gründung bereits ins Parlament einzuziehen. Auch eine Regierungsbeteiligung nach der ersten Wahlteilnahme ist nicht mehr abwegig. Damit verbunden sind verschiedene Veränderungen in der Gesellschaft, die wie ein Katalysator wirken und solche Entwicklungen begünstigen – Entwicklungen, von denen insbesondere neue Parteien und Bewegungen profitieren.

 

Wählervolatilität und sinkende Parteibindung

Wichtige Aspekte, die zum Katalysatoreffekt beitragen, sind die zunehmende Wählervolatilität und die abnehmende Parteibindung. Der Blick auf die letzten Wahlen zeigt deutlich, dass die Zeit der „Stammwähler“ größtenteils vorbei ist. Diese werden von den „Wechselwählern“ abgelöst. Lange Zeit galten in dieser Hinsicht die mittel- und osteuropäischen Länder als Trendsetter. Die Wählervolatilität dort war im Gegensatz zu westeuropäischen Ländern schon immer auf einem recht hohen Niveau. Dementsprechend gab es viele Parteineugründungen. Seit Längerem kommt eine steigende Wählervolatilität aber auch in West- und Südeuropa deutlich zum Vorschein. Italienische Politikwissenschaftler argumentieren sogar, dass es einen Konvergenzprozess zwischen Westeuropa und Osteuropa hinsichtlich der Wählervolatilität gibt. Ungeachtet ihrer Wahlmotive zeigen die letzten Analysen von Wählerwanderungen, dass es vorkommt, dass frühere CDU-Wählerinnen und -Wähler bei der nächsten Wahl ihr Kreuz bei den Grünen oder der Linken machen. Aber auch ehemalige Linkswählerinnen und -wähler werden zu CDU- und FDP-Wählerinnen und -Wählern. Wenngleich dies nicht der Regelfall ist, zeigt es doch, dass Wahlen zunehmend von Stimmungen der Wählerinnen und Wähler sowie von konkreten Themen geprägt sind und nicht mehr von langfristigen Bindungen an eine Partei.

Was heißt dies für die betroffenen Parteien? Wählerinnen und Wähler müssen bei jeder Wahl aufs Neue gewonnen werden. Parteien können sich keiner Stimmen mehr sicher sein. Thomas de Maizière, Bundesminister a. D., machte erst kürzlich im Podcast „Alles gesagt?“ darauf aufmerksam, wie sehr sich inzwischen auch die Politik von Stimmungen leiten lasse. Diese Wechselhaftigkeit zeigt sich auch bei Stimmungsumfragen: Ließ sich vor der Coronapandemie noch bei einigen grünen Parteien in Europa ein Allzeithoch feststellen, konnten während der Krise vor allem diejenigen Parteien an Zustimmung gewinnen, die in Regierungsverantwortung sind und die vorher in Umfragen an Wählergunst eingebüßt hatten. Die wichtigen Themen Klima und Umwelt, die die „Vor-Corona-Zeit“ stark prägten, gerieten wieder stärker ins Hintertreffen.

Parteien müssen sich öffnen, sowohl hinsichtlich ihrer Themen als auch ihrer Sozialstruktur.

Mit einer steigenden Wählervolatilität ist zudem ein Rückgang bei den Parteibindungen verknüpft. Den etablierten Parteien fällt es insgesamt zunehmend schwerer, neue Mitglieder für die Partei zu gewinnen, obwohl beispielsweise die Fridays-for-Future-Bewegung zeigt, dass die junge Generation keinesfalls unpolitisch ist. Die sinkende Parteibindung ist dabei jedoch nicht nur auf eine zunehmende Individualisierung der Gesellschaft zurückzuführen, sondern auch darauf, dass sich das durchaus hohe politische Interesse der jüngeren Generation auf temporäres und themenspezifisches Engagement beschränkt – und das meist außerhalb von Parteien. Der politisch interessierte Nachwuchs lässt sich schwer zu einem klaren politischen Bekenntnis hinreißen und für die klassische Parteiarbeit motivieren, die oftmals als träge und zäh wahrgenommen wird. Ein langfristiges Engagement in Vereinen oder Organisationen wirkt in einer zunehmend globalisierten und individualisierten Gesellschaft zunehmend unattraktiv und als zu starke Verpflichtung.

 

Rückzug der alten Konfliktlinien und Auflösung des Rechts-links-Schemas

Ein weiterer Aspekt, der den Erfolg neuer Parteien begünstigt, ist die schwächer werdende Ausprägung früherer Konfliktlinien und das Aufkommen neuer Spaltungstendenzen. Die bisherigen Konfliktlinien, vor allem Staat vs. Kirche und Arbeit vs. Kapital, anhand derer sich die meisten etablierten Parteien entwickelten, geraten zunehmend in den Hintergrund. Solange diese Konfliktlinien zu erkennen waren, sympathisierten die Wählerinnen und Wähler mit einem bestimmten politischen Lager und waren entsprechend eng mit ihrer „sozialen Gruppe“ verbunden. Die schwindende Ausprägung ihrer wesentlichen Merkmale lässt die Konfliktlinien, die lange Zeit die Parteiensysteme in Europa prägen konnten, brüchig werden. Das heißt, ein Katholik muss längst nicht mehr zwingend Christdemokrat, ein Gewerkschafter nicht unbedingt Sozialdemokrat sein, zumal sich die beiden einstigen sozialen Großmilieus selbst in einem Zustand anhaltender Erosion befinden. Programmatische Positionen, die lange Zeit eine politische Gemeinschaft mit kollektiver Identität aufgrund gemeinsamer gesellschaftlicher Standpunkte zusammenhalten konnten, gibt es kaum noch. Der Zusammenhalt eines politischen Lagers findet nicht mehr in einem relativ geschlossenen subkulturellen Milieu statt. Die Parteien müssen sich dementsprechend öffnen, sowohl hinsichtlich ihrer Themen als auch ihrer Sozialstruktur, um die Wählerinnen und Wähler sowie ihre Mitglieder besser repräsentieren zu können.

Statt der bisherigen Konfliktlinien bestimmen inzwischen zunehmend neue „Spannungslinien“ die Parteienlandschaft und begünstigen das Aufkommen neuer Parteien. Die Globalisierung, deren Dynamik und Geschwindigkeit durch die Flüchtlingsbewegungen von 2015 noch einmal deutlich zutage getreten ist, teilt die Parteien und Wähler in neue „Spannungsgruppen“ ein: Auf der einen Seite stehen die „Globalen“, die der Auffassung sind, dass es für globale Probleme nur globale Lösungen geben kann und der Nationalstaat zunehmend an seine Grenzen stößt. Auf der anderen Seite finden sich die „Nationalen“, die den Entwicklungen der letzten Jahrzehnte zunehmend skeptisch und kritisch gegenüberstehen und eine Rückbesinnung auf einen starken Nationalstaat fordern. Laut den Politikwissenschaftlern Hooghe und Marks werden die Eurokrise, also die europäische Währungs- und Staatshaushaltskrise der Jahre 2008 bis 2010, und die Migrationskrise 2015 gar als entscheidend für das Entstehen transnationaler Spaltungen angesehen, die innerhalb Europas erhebliche Wirkungen entfalten und das Entstehen neuer Parteien begünstigen.

Der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel nennt diese neue Konfliktlinie Kosmopolitismus versus Kommunitarismus. Die idealtypische Konstruktion sieht dabei wie folgt aus: Zu den Kosmopoliten gehören die überdurchschnittlich Gebildeten, die über ein überdurchschnittliches Einkommen und ein hohes Human- und Kulturkapital verfügen. Während sie den Multikulturalismus bevorzugen, lehnen sie Assimilation ab. Sowohl räumlich als auch beruflich sind sie von einer hohen Mobilität geprägt. Tendenziell würde man sie als Gewinner der Globalisierung bezeichnen. Die sogenannten Kommunitaristen hingegen sind im Schnitt eher unterdurchschnittlich gebildet und verdienen unterdurchschnittlich. Sie stehen viel mehr als Kosmopoliten unter dem globalen Wettbewerbsdruck, sie sind weder räumlich noch beruflich mobil und betrachten Globalisierung und Multikulturalismus als Bedrohung. Volksparteien, die einen weiten Vertretungsanspruch innehaben, können Elemente beider Idealtypen in sich bergen. Interessant ist dabei, dass weniger die oftmals diskutierten ökonomischen Faktoren, sondern vor allem Humankapital (Bildung) und kulturelles Kapital diese Spaltungen zwischen Kosmopoliten und Kommunitaristen hervorrufen. Damit entsteht eine neue Spaltungslinie auf der gesellschaftlichen Ebene. Die gesellschaftlichen Entwicklungen, die sich derzeit in den USA abzeichnen, spiegeln diese gesellschaftlichen Spaltungen deutlich wider. Die neue Spaltungslinie hat ebenfalls Auswirkungen auf das Parteiensystem, denn diese Konfliktlinie konnten auch Rechtspopulisten für sich nutzen. Die Angst vor Identitätsverlust oder vor kulturellen Veränderung ist der Fokus, auf den sich der überwiegende Teil der Rechtspopulisten stürzt.

Gesellschaftliche Spaltungen führen zunehmend zu Spannungen innerhalb der Parteien selbst.

Eine weitere Entwicklung, die in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben sollte, ist, dass diese neuen Spaltungen auch zunehmend zu Spannungen innerhalb der Parteien selbst führen. Die Flüchtlingsdebatte von 2015 und die Art, wie diese beispielsweise innerhalb der deutschen etablierten Parteien – unter anderem in der Linkspartei und innerhalb der CDU/CSU-Fraktion – geführt wurde, ist hierfür ein passendes Beispiel.

Mit dem Verschwinden der bisherigen Konfliktlinien und dem Aufkommen neuer Spannungslinien, anhand derer neue Parteien entstehen, gerät auch zunehmend die Rechts-links-Zuordnung in den Hintergrund. Viele der neuen Parteien versuchen, sich hiervon zu lösen und vertreten oftmals gar post-ideologische Standpunkte. Vielfach lassen sich sowohl „linke“ als auch „rechte“ Positionen bei den neuen Parteien finden. Damit schaffen sie es, Wählerinnen und Wähler aus den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Milieus zu mobilisieren, lassen sich aber schwieriger in das klassische Rechts-links-Schema einordnen. Gerade die neuen Parteien agieren zunehmend in einem Liberal-illiberal-Schema und bilden auch über das ehemalige Rechts-links-Schema hinweg „Allianzen“. Im Rahmen der sogenannten Eurokrise haben sich beispielsweise in Griechenland die linkspopulistische Partei Syriza und die rechtspopulistische ANEL ebenso zu einer (mittlerweile abgewählten) Regierungskoalition zusammengeschlossen wie die linkspopulistische italienische Fünf-Sterne-Bewegung mit der rechtspopulistischen Lega, die sich mittlerweile auch wieder in der Opposition befindet. Derartige Koalitionen gründen sich dabei weniger auf gemeinsame inhaltliche Positionen als vielmehr auf gemeinsame Überzeugungen hinsichtlich des politischen Gegners. Und dieser ist in der Regel eine etablierte Partei oder „die Elite“ als solche.

 

Die neuen Neuen

Neben diesen allgemeinen Entwicklungen tragen unterschiedliche länderspezifische Ursachen zum Erfolg der neuen Parteien bei. Der ist oftmals mit einem Vertrauensverlust in politische Institutionen verbunden. Intransparenz, Vetternwirtschaft und Korruption sind hier die Stichworte. Aber auch Krisenphänomene begünstigen die Neugründungen von Parteien. Hinzu kommt eine in der Wahrnehmung der Wählerschaft nicht vorhandene Problemlösungsfähigkeit von etablierten Parteien. An diesem Punkt knüpfen die neuen Parteien an und versuchen, eine Alternative mit neuen Gesichtern und neuen Akzenten zu bieten.

Ein festes Mitgliederprinzip, wie wir es von etablierten Parteien gewohnt sind, ist längst nicht mehr überall die gängige Praxis.

Mit einer atemberaubenden Geschwindigkeit erringen die neuen Parteien Wahlerfolge. Sie werden nahezu vom Zeitgeist an die Oberfläche oder höher katapultiert. Dies jedoch oftmals ohne Programmatik, ohne Struktur und ohne Organisation. Es sind stattdessen einzelne Personen, wie der italienische Komiker Giuseppe „Beppe“ Grillo oder der polnische Rockmusiker Paweł Kukiz, die neue Protest- oder Anti-System-Parteien gründen, oder einzelne Themen, wie Korruptionsbekämpfung, mit denen die neuen Parteien Aufmerksamkeit und vorübergehend Zuspruch erhalten. Mit der Schnelligkeit, mit der immer wieder neue Themen in den Vordergrund geraten und andere Themen verdrängt werden, treten auch neue Parteien hervor und verschwinden oftmals wieder, weil ihnen die programmatischen und organisatorischen Voraussetzungen für eine längerfristige Verankerung in ihren Parteiensystemen fehlen.

Viele neue Parteien erwecken dabei den Eindruck der Andersartigkeit. In Teilen sind sie das auch. Wie bereits erwähnt, versuchen gerade die neuen Parteien sich abseits bisheriger Ideologien zu positionieren. Hinzu kommt eine neue Art der Kommunikation. Letztere fängt damit an, sich gar nicht unbedingt erst als Partei zu bezeichnen, um sich so von den anderen Parteien abzugrenzen. Hinzu kommt eine ausgeprägte Nutzung der sozialen Medien, in denen die neuen Parteien besonders aktiv sind. Ein Großteil der Kommunikation findet zudem auf Plattformen statt, auf denen sich die Parteien organisieren und sich die Mitglieder aktiv einbringen können, wenn es überhaupt Mitglieder gibt. Ein festes Mitgliederprinzip, wie wir es von etablierten Parteien gewohnt sind, ist längst nicht mehr überall die gängige Praxis. Stattdessen bekennen sich beispielsweise Anhänger der Partei La République en Marche, indem sie sich auf der Website für aktuelle Informationen registrieren. Bei den österreichischen NEOS können sich Bürgerinnen und Bürger zudem auch ohne Parteimitgliedschaft um eine Kandidatur für den ersten Listenplatz der Bundesliste bewerben (passives Wahlrecht). Und auch für die Teilnahme an der ersten Stufe des Vorwahlverfahrens (aktives Wahlrecht) wird keine Parteimitgliedschaft vorausgesetzt.

Hinzu kommt, dass gerade die neuen Parteien oftmals überwiegend aus Quereinsteigern bestehen. Das macht es für die neuen Parteien einfacher, sich als neu und anders als die etablierten Parteien darzustellen und neue Wählergruppen zu erschließen. Zugleich können sie sich damit von den Berufspolitikern in den etablierten Parteien distanzieren. Wenngleich diese Offenheit für politische Neulinge auch als ein Gewinn für die Demokratie gesehen werden kann, können die fehlenden politischen Erfahrungen gerade in Krisenzeiten problematisch werden. Darüber hinaus sind die neuen Parteien oftmals eng mit einer einzelnen Führungsfigur verbunden. Nicht selten fehlen aufgrund einer starken Führungsfigur innerparteiliche Strukturen. Oftmals ist diese Führungsfigur auch diejenige Person, die die Partei gegründet hat. Sobald diese Figur jedoch nicht mehr Teil der Partei ist, kann auch die Partei insgesamt schnell an Unterstützung verlieren.

Je heterogener die Gesellschaft wird, desto unverzichtbarer wird die mühsame Konsensfindung unter den Parteien.

Diese fehlenden Strukturen können eine der markanten Schwachstellen von neuen Parteien sein, die kaum Zeit haben, sich zu etablieren und strukturell zu organisieren, bevor sie in Regierungsverantwortung kommen. Das macht sie in Krisen anfälliger als etablierte Parteien. Der Umgang von LREM mit den „Gelbwesten“ hat die strukturellen Probleme deutlich gezeigt. Nicht nur für die Krisenkommunikation kann dies verheerend sein, sondern fehlende horizontale und vertikale Strukturen können auch ein erfolgreiches Politikmachen erschweren. Abseits der Organisation und Struktur fehlt den Neuen oftmals eine Programmatik, die sie nicht nur auf ein einziges Thema beschränkt. Für das mittel- und langfristige Überleben im Parteiensystem reicht dies nicht aus. Gerade für die neuen Parteien, die mit Regierungsverantwortung beauftragt sind, kann dies den Erfolg schnell gefährden und die Zustimmungswerte sinken lassen. Schnell können neue Parteien somit auch wieder ins Abseits geraten.

Zusammenfassend weisen neue Parteien damit überwiegend folgende Merkmale auf:

  • Sie sind ein Krisenphänomen aufgrund von Korruption, Vetternwirtschaft, Intransparenz oder Vertrauensverlust in etablierte Parteien und Institutionen.
  • Sie sind geprägt von einer starken Führungsfigur.
  • Sie bezeichnen sich oftmals als Bewegung statt als Partei und versuchen, sich damit von den etablierten Parteien bewusst abzugrenzen.
  • Sie bestehen oftmals aus Quersteinsteigern und politischen Neulingen.
  • Sie haben eine anfangs schwach ausgeprägte Struktur und Programmatik.
  • Sie erzielen schnelle Wahlerfolge.

 

Folgen für die Etablierten

Was bedeuten diese Entwicklungen für die etablierten Parteien und für die Zukunft der Parteiendemokratie? Wenngleich die neuen Parteien ihre schon längst etablierten Mitbewerber vor neue Herausforderungen stellen, bieten die aktuellen Entwicklungen auch diverse Chancen für die Zukunft der Parteiendemokratie.

Um auch künftig eine bedeutende Rolle zu spielen und für eine unerlässliche Stabilisierung des Parteiensystems zu sorgen, müssen die etablierten Parteien weiter an ihrer Attraktivität arbeiten. Eine Parteiendemokratie ist und bleibt der Erfolgsgarant, um unterschiedliche Meinungen und Positionen einer immer diverser werdenden Gesellschaft abzubilden und zu repräsentieren. Je heterogener die Gesellschaft wird, desto unverzichtbarer wird die von den Parteien geleistete mühsame und konfliktbeladene Konsensfindung. Dies bedeutet aber, dass die Anforderungen steigen. Parteien müssen nicht nur neue Partizipationsmöglichkeiten mit temporären und themenspezifischen Schwerpunkten anbieten, die dem aktuellen politischen Verständnis vieler Menschen entgegenkommen, sondern auch bei der Kommunikation mit den aktuellen Entwicklungen mitgehen. Andernfalls werden sie hier von neuen Parteien abgehängt.

Es entsteht zunehmend der Eindruck, dass zugkräftige Persönlichkeiten das ausschlaggebende Kriterium für den Wahlausgang sind.

Dies setzt voraus, dass notwendige Reformen durchgeführt und überholte Vorstellungen von Parteiarbeit überdacht werden. Bisher ist es in Europa vielen etablierten Parteien noch nicht gelungen, mit den aufgezeigten Entwicklungen mitzuhalten und ein entsprechendes (digitales) Angebot sowohl für ihre Mitglieder als auch für potenzielle Wählerinnen und Wähler zu machen. Stattdessen haben sie notwendige Reformen verpasst, diese nicht beherzt genug in Angriff genommen oder deren Notwendigkeit erst zu spät erkannt. Viele der etablierten Parteien schaffen es nicht, insbesondere junge Menschen anzusprechen und für ihre Arbeit zu gewinnen. Gerade von diesem Misserfolg profitieren die neuen Parteien, die sich als „anders“ ausgeben. Sie können durch ihr scheinbar unkonventionelles Auftreten oftmals junge Leute mobilisieren, die sich abseits der bisherigen Möglichkeiten parteipolitisch engagieren wollen.

In den aktuellen Entwicklungen liegt damit auch eine Chance für etablierte Parteien. Gerade die Digitalisierung und das Bewusstsein für die aufgezeigten Probleme und Entwicklungen eröffnen ein noch nie dagewesenes Potenzial. Innerparteiliche Beteiligung sowie gezielte Angebote für interessierte Nicht-Mitglieder beispielsweise durch parteipolitische Diskussionsforen, Plattformen und Apps, die auch Angebote für Nicht-Mitglieder haben, können das Attraktivitätsniveau auch für etablierte Parteien erhöhen. Schließlich können sie damit sehr viel präsenter wahrgenommen werden als bisher. Wenngleich damit auch Spannungen zwischen interessierten Nicht-Mitgliedern und „alteingesessenen“ Parteimitgliedern einhergehen können, die ihre Mitgliedschaft mit besonderen Rechten einfordern, impliziert ein Angebot für interessierte Nicht-Mitglieder nicht, dass Nicht-Mitglieder den gleichen „Parteistatus“ wie Mitglieder haben. Wenn Parteien aber am Mitgliederprinzip langfristig festhalten wollen, dann werden sie zwangsläufig nicht umhin kommen, erste Angebote für Interessenten zu schaffen, die sich erst in einem zweiten Schritt für eine Mitgliedschaft entscheiden wollen. In Deutschland und Österreich sehen wir bereits, wie digital die etablierten Parteien arbeiten und wie sie sich auch für interessierte Nicht-Mitglieder zunehmend öffnen und interessensspezifische Angebote für ihre Mitglieder machen. Jedoch gibt es gerade im Bereich der Angebote für interessierte Nicht-Mitglieder und Neumitglieder noch großen Spielraum. Wenn es überhaupt spezifische Angebote für Neumitglieder und interessierte Nicht-Mitglieder gibt, haben sich diese bisher überwiegend auf die Teilnahmemöglichkeit an digitalen Veranstaltungen oder auf den Social-Media-Content beschränkt. Die Einbindung, beispielsweise durch gesonderte Bereiche in einer Partei-App oder auf Plattformen, gibt es bei den deutschen und österreichischen Parteien nahezu gar nicht. Dennoch, nicht zuletzt die Coronapandemie hat einen Digitalisierungsschub geleistet, der viele Parteien quasi dazu gezwungen hat, neue Tools und Möglichkeiten der Partizipation wie digitale Workshops und Seminare verstärkt auszuprobieren und zu nutzen und sich damit für die Zukunft zu rüsten – auch digital.

Aber nicht nur in der Parteiarbeit werden sich die etablierten Parteien verändern müssen. Es entsteht zunehmend der Eindruck, dass zugkräftige Persönlichkeiten das ausschlaggebende Kriterium für den Wahlausgang sind. Für die etablierten Parteien heißt dies, frühzeitig den eigenen politischen Nachwuchs zu fördern und die „richtige“ Kandidatenauswahl zu treffen. Mit „richtig“ ist gemeint, dass das Sprichwort „Der Köder muss dem Fisch schmecken. Nicht dem Angler“ immense Bedeutung hat. In der Vergangenheit wurde bei etablierten Parteien zu oft auf junge und neue Gesichter verzichtet. Oftmals wurden diejenigen Personen als Kandidaten gekürt, die zwar in der Partei auf eine breite Zustimmung stießen, aber bei potenziellen Wählerinnen und Wählern entweder unbekannt oder wenig attraktiv waren und diese dementsprechend nicht mobilisieren konnten. Es wird deshalb künftig noch mehr darauf ankommen, Wählerinnen und Wähler aus den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Milieus zu integrieren und Parteien hinsichtlich ihrer Mitglieder zu diversifizieren.

Darüber hinaus muss es bei den etablierten Parteien darum gehen, ihre Problemlösungskompetenz deutlich(er) zu machen – insbesondere in der Krise. Das ist ein zentraler Vorteil, den sie gegenüber neuen Parteien haben. Etablierte Parteien „können Krisenbewältigung“ und bieten gerade in Zeiten von Krisen einen notwendigen Stabilitätsanker. Die etablierten Parteien müssen deswegen zeigen, dass sie gerade aufgrund ihrer langjährigen politischen Erfahrung in der Lage sind, die Probleme der Mehrheit der Bevölkerung zu erkennen und zu lösen. Eine daran gekoppelte Kommunikation ist unerlässlich und wird in einer zunehmend fragmentierten Gesellschaft noch wichtiger sein als bisher. Dies schließt die Nutzung verschiedener Kommunikationskanäle ein. In einem zunehmend fragmentierten und dynamischen Parteiensystem ist es umso wichtiger, dass die etablierten Parteien ihre Anschlussfähigkeit nicht verlieren. Diese bezieht sich auf die Gesellschaft selbst, bedeutet aber auch die Koalitionsfähigkeit mit anderen Parteien.

Anschlussfähigkeit als solche bedeutet jedoch nicht, so zu werden wie die neuen Parteien. Die etablierten Parteien sollten die Entwicklungen für sich jedoch als Chance und als Aufruf verstehen, sich zu fragen, wie die Parteiendemokratie auch in Zukunft für Bürgerinnen und Bürger der Erfolgsgarant bleiben kann. Damit verbunden ist auch der Anspruch, Koalitionsfähigkeiten und -möglichkeiten mit Parteien, die bislang außerhalb der gängigen Koalitionsoptionen lagen, immer wieder aufs Neue zu eruieren. Dass sich die Parteiensysteme aufgrund neuer Parteien und Bewegungen verändern werden, ist unvermeidlich. Sollten jedoch die etablierten Parteien eine Rolle als Stabilitätsanker in den von neuen politischen Akteuren in Unruhe versetzten Parteiensystemen in Europa einnehmen und Lösungen für die verschiedensten Probleme anbieten können, hat die Parteiendemokratie – frei nach dem Motto „stabil, weil beweglich“ – eine Zukunft.

 


 

Franziska Fislage ist Referentin Internationaler Parteiendialog der Konrad-Adenauer-Stiftung.

 


 

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