Ausgabe: 2/2020
Einleitung
Später als in Europa und zunächst mit einer noch zu beherrschenden Anzahl an Fällen erreichte die COVID-19-Krise Ende März 2020 ganz Lateinamerika. Viele Regierungen befürchteten, dass die nationalen Gesundheitssysteme eine Eskalation der Situation noch weniger verkraften würden als in Europa. Deshalb ergriff die Mehrheit der Staaten bereits frühzeitig radikale, freiheitsbeschränkende Maßnahmen, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen. Einige Regierungen riefen den Notstand aus, fast alle verhängten temporäre Ausgangssperren. Auch wenn solche Maßnahmen auf den ersten Blick notwendig erscheinen, besteht die Gefahr, dass sich die Macht in den Händen populistischer oder gar autoritärer Machthaber sammelt, die die Krise bewusst ausnutzen, um eigene politische Ziele zulasten der Demokratie und rechtsstaatlicher Institutionen unkontrolliert voranzutreiben. Bringt die Coronakrise die ohnehin schon vielerorts fragilen Rechtsstaaten in Lateinamerika also noch mehr in Gefahr? Oder könnte sie auch Chancen für eine Rückkehr des Vertrauens in den Rechtsstaat eröffnen?
Ausgangslage: Mangel an Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaat
Machen wir uns die Ausgangslage bewusst: Schon vor Ausbruch der Pandemie hatte es der Rechtsstaat in Lateinamerika nicht unbedingt leicht. Der Kontinent zeichnet sich seit der Kolonialzeit durch eine extreme Schere zwischen Arm und Reich aus. In einigen Staaten und Regionen beeinflussen korrupte Eliten, die Parapolitik und die oft mit dem Drogenhandel verbundene, gewaltbereite organisierte Kriminalität die gesellschaftliche Realität oft stärker als die für alle gleich geltenden parlamentarischen Gesetze. Gesetzeskonformität leidet dort, wo der Staat Gesetze selbst nicht beachtet oder umsetzt. Dazu kommen eine unzureichende Alters- und Gesundheitsvorsorge, oftmals schwache oder ganz fehlende Sozialversicherungssysteme, unzureichende Bildungsmöglichkeiten und Infrastruktur sowie eine frappierende Straflosigkeit. Es wundert also nicht, dass Ende 2019 vielerorts unzufriedene Bürger auf die Straße gingen, um ihrem Ärger in Massenprotesten Luft zu machen. In Chile und Ecuador, aber auch in Kolumbien mündeten die Proteste teilweise in Vandalismus, Plünderungen und Toten. Auch wenn sich die Ursachen der Proteste in der Region nicht über einen Kamm scheren lassen, so ist einer der Gründe sicherlich der systematische und endemische Mangel an Sozial- und Rechtsstaat in Lateinamerika.
Zwar unterscheidet das Virus nicht, wen es befällt oder nicht. Es ist also insofern „gerecht“. Seine Auswirkungen und Folgen treffen arme Bevölkerungsschichten in der Region jedoch ungleich härter. In Extremländern wie Venezuela bestand schon lange vor der Coronakrise eine „komplexe humanitäre Notlage“. 87 Prozent der Bevölkerung des Landes leben in Armut oder extremer Armut und Gesundheitsversorgung ist so gut wie inexistent.War das Land schon vorher in einer tiefen Krise, so wird diese nun durch die Pandemie noch verstärkt. Selbst weniger gebeutelte Länder der Region hatten Grund zu befürchten, dass ihr Gesundheitssystem unter COVID-19 kollabieren wird, ganz zu schweigen von den wirtschaftlichen Folgen. Erste grausige Bilder eines solchen Zusammenbruchs erreichten uns im April 2020 aus der ecuadorianischen Stadt Guayaquil, wo sich Hunderte von Leichen in den Straßen stapelten. Die Beerdigungsinstitute waren völlig überfordert.
Man bedenke darüber hinaus, dass in vielen Ländern des Kontinents mehr als die Hälfte aller Arbeitsverhältnisse informell sind und die Beschäftigten damit keinen Zugang zu den Sozialsystemen haben. Selbst formell Angestellte wurden von ihren – teilweise sogar staatlichen – Arbeitgebern in den letzten Monaten reihenweise in unbezahlten Urlaub geschickt oder gleich ganz entlassen. Die vielerorts versprochene staatliche Hilfe lief nur schleppend an, der Bedarf an Beatmungsgeräten nahm zu. Mitte Mai meldete die Metropolregion Santiago de Chile eine Auslastung von 95 Prozent ihrer Intensivbetten. Dabei ist die Gesundheitsversorgung in Lateinamerika mitunter nicht schlecht. Wer zahlen kann, wird bestens behandelt. Gut ausgestattete Privatkliniken in den reichen Vierteln der Metropolen bilden einen krassen Kontrast zu den prekären, nur spärlich vorhandenen staatlichen Gesundheitseinrichtungen im ländlichen Raum. Mit Ausbruch der Corona-Pandemie kam dementsprechend die Befürchtung auf, dass in der Region die wenigen vorhandenen intensivmedizinischen Plätze nicht nach Alter oder Vorerkrankungen vergeben werden, sondern nach Portemonnaie und Wohnsitz der Patienten. In Brasilien, dem Land mit der größten Anzahl von Infizierten in Lateinamerika, ist dies bereits Realität. Dort werden mehr als die Hälfte aller Coronatests in Privatlabors durchgeführt, allerdings nur gegen Bezahlung.
Schon die Vorbedingungen waren ungleich. In den Armenvierteln Lateinamerikas gibt es oft nur unzureichenden Zugang zu Trinkwasser und sanitären Einrichtungen. „Luxusgüter“, wie Mundschutz und Desinfektionsmittel, sind in Coronavirus-Zeiten kaum verfügbar. Es klingt in den Ohren vieler Mittelloser also wie Hohn, wenn der Staat sie dazu verpflichtet, den ganzen Tag mit der gesamten Familie in beengten Unterkünften zu verweilen, in denen es teilweise kein Licht gibt und es tagsüber unerträglich heiß werden kann. Lieber nehmen diese Menschen eine Infektion mit dem Virus in Kauf und drängen sich in die immer noch überfüllten öffentlichen Transportmittel der Megagroßstädte, um wenigstens noch ein wenig Geld und Lebensmittel zu beschaffen. Das Infektionsrisiko armer Bevölkerungsschichten ist daher nicht nur höher, auch der Zugang zu medizinischer Behandlung ist begrenzter. Man führe sich insbesondere die Situation in lateinamerikanischen Gefängnissen vor Augen. Dort lebt eine hohe Anzahl von Gefangenen auf engstem Raum in teilweise menschenunwürdigen Zuständen. Erste Gefängnisaufstände gab es bereits. Die kolumbianische Regierung reagierte und entließ Kleinkriminelle aus den Gefängnissen. Auch die indirekten Folgen wie Rezessionen und Preisanstiege treffen die Armen schon jetzt härter und werden in den nächsten Monaten, vielleicht sogar Jahren, aller Voraussicht nach mehr Leben kosten als das Virus selbst. Soziale Spannungen scheinen vorprogrammiert.
Notstandsmaßnahmen und Einschränkungen liberaler Freiheitsrechte
Die weltweite Pandemie und die oben aufgezeigten lateinamerikanischen Realitäten, insbesondere defizitäre Gesundheitssysteme, erklären, warum viele Regierungen des Kontinents schon bei geringen Infektionszahlen drastische freiheitsbeschränkende Maßnahmen angeordnet haben. In fast allen lateinamerikanischen Ländern wurden Grenzschließungen, Verbote von öffentlichen Veranstaltungen und Zusammenkünften sowie Ausgangs- und Bewegungssperren verschiedener Ausprägung erlassen. Zudem wurden in mindestens zehn Ländern Ausnahmezustände oder Notstände ausgerufen.
Um effektiv auf extreme Krisensituationen – in der Vergangenheit zumeist Kriege, Militärputsche oder auch terroristische Anschläge – und ihre Folgen zu reagieren, sehen die entsprechenden verfassungsrechtlichen Vorschriften eine Ausweitung der Rechte der Regierung vor. Danach können u. a. bestehende Gesetze temporär außer Kraft gesetzt oder Dekrete mit Gesetzeskraft, ohne Beteiligung des Parlaments, erlassen werden, dies selbstverständlich nur zur Bewältigung der Krise und solange diese andauert. Zur Umsetzung der dekretierten Maßnahmen ist in vielen Verfassungen der Einsatz des Militärs im Inland gestattet. Richtig und verantwortungsvoll angewandt, ist der Zweck der Notstandsklauseln somit, die Demokratie in Krisensituationen zu schützen oder sogar zu stärken.
Wer also sowohl von linkspopulistischer Seite, wie etwa der mexikanische Präsident López Obrador oder der autoritäre Präsident Nicaraguas Daniel Ortega, sowie auch aus dem rechtspopulistischen Lager, so z. B. der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro oder zunächst auch der US-amerikanische Präsident Donald Trump, die Lage verharmlost, der scheint entweder die Wissenschaft zu ignorieren oder verkennt das Ausmaß der Krise. So hat Jair Bolsonaro das Virus als „Grippchen“ abgetan und selbst in Anbetracht rapide ansteigender Fallzahlen keine tiefgreifenden Gesundheitsschutzmaßnahmen angeordnet. Dies hat er mit dem Schutz der Wirtschaft begründet. Auch wenn sicherlich ein Augenmerk auf die Verhältnismäßigkeit der zu treffenden Maßnahmen zu richten ist, so ist ein solches Unterlassen mit den Pflichten des Staates zum Schutz des Lebens und der Gesundheit seiner Bürger und mit rechtsstaatlichen Grundsätzen schlichtweg unvereinbar.
Auf der anderen Seite sind vielerorts materiell-rechtliche Folgen der extremen Notstandsmaßnahmen präzedenzlose Einschränkungen von Freiheitsrechten. Hierzu gehören insbesondere die umfassenden Einschränkungen des Rechts auf Freizügigkeit oder Bewegungsfreiheit – Maßnahmen, die in normalen Zeiten inakzeptabel wären. Einschränkungen der Bewegungsfreiheit ziehen andere Grundrechtseingriffe, wie die De-facto-Außerkraftsetzung der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, mit sich. Darüber hinaus war in vielen lateinamerikanischen Ländern schon in den ersten Tagen der Quarantäne ein extremer Anstieg der Anzeigen wegen häuslicher Gewalt, insbesondere gegenüber Frauen und Kindern, zu verzeichnen. Ganz abgesehen von dem in vielen Verfassungen der Region verbrieften Recht auf Arbeit, das für all diejenigen suspendiert wurde, deren Berufstätigkeit entweder nicht von einer der Ausnahmen erfasst wurde oder die wegen des Charakters ihrer Tätigkeit nicht auf Telearbeit umsteigen können. Wegen Schließung aller nicht lebenswichtigen Unternehmen und öffentlicher Einrichtungen ist zudem auch gerichtlicher Rechtsschutz bis heute in vielen Ländern der Region nur erschwert oder gar nicht mehr zu erreichen.Unterschätzt werden dürfen ferner nicht die psychologischen Folgen, die das teilweise monatelange Alleinsein und die völlige Abgeschiedenheit gerade für ältere Menschen und vulnerable Bevölkerungsgruppen haben kann.
Viele der getroffenen Maßnahmen waren und sind heute immer noch erforderlich, um Schlimmeres zu verhindern. Es sollte aber dennoch auch in Lateinamerika genau auf die Verhältnismäßigkeit der verhängten Maßnahmen und deren rechtliche Grundlage geschaut werden. Das schien die Regierungschefs der Region aber teilweise nur in einem geringen Maße zu interessieren. Einige Extremmaßnahmen wurden etwa einzig mit der Aussage begründet, dass „die Einschränkungen notwendig und unaufschiebbar“ seien. Warum soll ein Kolumbianer wegen strikter Grenzschließungen nicht in sein Land zurückkehren dürfen, während ein Deutscher sehr wohl nach Hause darf? Warum darf ein Peruaner nicht unter Wahrung eines Sicherheitsabstands von zwei Metern allein im Park spazieren gehen? Wie sollen Kinder in abgeschiedenen Dörfern im ländlichen Raum auf virtuelle Schulkurse umsteigen, wenn weder sie noch ihre Lehrer Zugang zu Internet und Computer haben? Auch wenn es eine große Herausforderung für jeden Rechtsstaat darstellt, eine verhältnismäßige, allerseits als „gerecht“ wahrgenommene Abwägung zwischen Gesundheitsschutz und individuellen Freiheiten zu treffen, so erlaubt das in Lateinamerika vielerorts konstitutionalisierte „Grundrecht auf Gesundheit“ eben gerade nicht die grenzenlose Einschränkung anderer Grundrechte. Denn das Gebot der Rechtmäßigkeit gilt auch in Krisenzeit, vielleicht sogar mehr denn je.
Notstandsmaßnahmen als Deckmantel zur Verfestigung und Ausweitung von Macht
In Anbetracht fragiler Rechtsstaaten, schwächelnder Institutionen und Präsidialsysteme, die Machtmonopole in den Händen von caudillos in der Regel schneller zulassen als in Europas parlamentarischen oder semi-präsidentiellen Systemen, besteht darüber hinaus in Lateinamerika eine – gegenüber der westlichen Welt ungleich höhere – Gefahr unrechtmäßiger Ausnutzung von Notstandsmaßnahmen. So warnten die amerikanischen Politikwissenschaftler Levitsky und Ziblatt in ihrem Buch „Wie Demokratien sterben“ schon lange vor der Coronakrise vor „Möchtegern-Autokraten“, die Wirtschaftskrisen, Naturkatastrophen und Sicherheitsbedrohungen zur Rechtfertigung ihrer antidemokratischen Maßnahmen nutzen. Eine der Ironien des Untergangs von Demokratien bestünde darin, „dass häufig ihr Schutz als Vorwand für ihre Aushöhlung angeführt wird“.
Denn ist die Büchse der Pandora erst einmal geöffnet und das Parlament auf legalem Wege ausgeschaltet, bieten erweiterte und insbesondere unkontrollierte präsidentielle Befugnisse in den falschen Händen alle Möglichkeiten zur Festigung von Macht oder zur Durchsetzung von Maßnahmen, denen die Abgeordneten in normalen Zeiten niemals zugestimmt hätten. So hat manch einer auf die Krise vielleicht nur gewartet, um bereits vorformulierte Gesetze schnell und schmerzlos „durchzudrücken“. Hier werden Entscheidungen über Leben und Tod Machthabern anvertraut, die keiner parlamentarischen Kontrolle unterliegen. Nicht umsonst haben Menschenrechtsexperten der Vereinten Nationen vor einer solchen „Machtüberschreitung“ in Anbetracht von COVID-19 nachdrücklich gewarnt. Im schlimmsten Fall sind Ausnahmezustände der Freifahrtschein für Tyrannei und Unrechtsregime. Auch in Lateinamerika weckt das Wort „Notstandsgesetzgebung“ nicht unbedingt positive Erinnerungen. So wurden während der Militärdiktaturen oder autoritären Regime in Brasilien, Argentinien, Chile und Uruguay in den 1970er und 1980er Jahren sowie in Peru in den 1990er Jahren unrechtmäßige Repressalien oft per Notstandsdekret erlassen, dies u. a. zur Bekämpfung von „terroristischen Gefahren“ durch linke Guerillagruppen oder Oppositionelle.
So animierte der Beginn der Coronakrise Lateinamerikas Demagogen dazu, sich in Stellung zu bringen. Allen voran in Venezuela. Das Land ist spätestens seit der Gleichschaltung der Justiz und der Ausschaltung des Parlaments in die Diktatur abgerutscht. Machthaber Nicolás Maduro nutzte die, angeblich in Reaktion auf die Coronakrise angeordnete, totale Abschottung des Landes gezielt dazu, um seine Macht zu zementieren und Oppositionelle noch stärker zu verfolgen. Die Militarisierung schritt weiter voran, angeblich, um die Gesundheit der Bevölkerung zu schützen. Journalisten sowie Ärzte, die im Zusammenhang mit der COVID-19-Krise auf die völlige Dysfunktionalität des venezolanischen Gesundheitssystems hinwiesen, wurden systematisch verfolgt und bedroht. Informationen zur Krise wurden von Beginn an durch die Regierung monopolisiert und der Bevölkerung nur bruchstückhaft und „gefärbt“ übermittelt. Staatliche Hilfen kommen nur denjenigen zugute, die über eine sogenannte Vaterlandskarte (carnet de la patria) verfügen und damit „Linientreue“ bewiesen haben.
Auch anderorts in Lateinamerika ist bis heute eine Militarisierung der öffentlichen Sicherheit und eine Art „Bestrafungspopulismus“ festzustellen. Soldaten wurden eingesetzt, um die Pandemie zu bekämpfen und die Grenzen zu sichern. Selbst Reserveeinheiten wurden mobilisiert. Genauso wie der Polizei und anderen Sicherheitsbehörden wurde dem Militär zudem in vielen Ländern die Überwachung der Einhaltung der Quarantänemaßnahmen übertragen und weitreichende Eingriffskompetenzen für Verhöre und Festnahmen derjenigen zugebilligt, die sich ihren Anordnungen widersetzen. Auch wenn dies gerade von denjenigen, die sich an die Zeit vergangener Militärdiktaturen erinnert fühlen, als psychologische Belastung wahrgenommen wird, ist die Militärpräsenz an sich erst einmal nicht bedenklich. Sie ist im Gegenteil zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung notwendig und daher in vielen Verfassungen der Region für Notstandssituationen ausdrücklich vorgesehen.
Die erweiterten Befugnisse werden aber dann bedenklich, wenn Militär und Polizei die Pandemie mit einem Kriegszustand verwechseln und ihre Machtbefugnisse unverhältnismäßig gegen die eigene Bevölkerung einsetzen. Vorfälle dieser Art gab es schon im Rahmen der Massenproteste in Chile, Kolumbien und Ecuador um den Jahreswechsel 2019/2020. Sie scheinen angesichts schlecht ausgebildeten und unterbezahlten Personals weiterhin vorprogrammiert. Peru zum Beispiel änderte seine Strafgesetze, um das Militär und die nationale Polizei gleich ganz von der strafrechtlichen Verantwortung für Tötungen und Körperverletzungen zu befreien, insoweit diese im Rahmen der Bekämpfung der Coronakrise und zur Erfüllung ihres verfassungsrechtlichen Mandates erfolgen. Die Interamerikanische Menschenrechtskommission äußerte über Twitter, dass diese Regelung gegen Menschenrechte verstößt. Darüber hinaus scheint es zum populistischen Machtinstrument geworden zu sein, für Verletzungen der obligatorischen Quarantänemaßnahmen zur Einschüchterung hohe Geld- oder gar Gefängnisstrafen anzudrohen. So waren nach Medienangaben bereits bis zum Ende März 2020 in Peru über 25.000 Personen wegen Missachtung der obligatorischen Ausgangssperre vorläufig festgenommen worden. Anfang April 2020 waren es über 50.000 Personen. Auch in El Salvador kam es zu ähnlichen massenhaften Festnahmen. Dies wirkt, als ob man mit Kanonen auf Spatzen schießen wolle. Die Festnahmen erscheinen unverhältnismäßig und kontraproduktiv, will man Menschenansammlungen vermeiden. Denn den über 50.000 temporären Gefangenen stehen wohl keine Einzelzellen zur Verfügung. Es wäre den Präsidenten der Region zu raten, zunächst einmal in den zivilen Gehorsam ihrer Bürger zu vertrauen und nicht gleich „den Knüppel aus dem Sack“ zu holen. Denn gerade, wenn sich Militärmacht mit Demagogie paart, wird es für den Rechtsstaat gefährlich.
Ein anderes stetes Ärgernis für Autokraten und Populisten ist die Presse. Denn Meinungs- und Informationsfreiheit beinhaltet auch die Pflicht des Staates zur transparenten und neutralen Aufklärung. Die Coronakrise bietet die perfekte Möglichkeit, diese Rechte ungezügelt weiter einzuschränken. So warnte im April 2020 der Ombudsmann für Menschenrechte in El Salvador, José Apolonio, dass Militär und Polizei in dem zentralamerikanischen Land Informationsmaterial von Journalisten zur Coronakrise zerstört haben, indem diese zur Löschung entsprechender Videos und Fotos gezwungen wurden. Wir erinnern uns, dass Präsident Nayib Bukele erst kurz zuvor das Parlament durch Militärs besetzen ließ, um die Parlamentarier zur Zustimmung zu einem Darlehen zu bewegen. Zudem erklärte er per Twitter, dass er drei im April 2020 von der Verfassungskammer des Obersten Gerichtshofs erlassene Urteile, die die erwähnten Inhaftierungen wegen Nichtbeachtung der Quarantänemaßnahmen als Verstoß gegen die Menschenrechte qualifizierten, nicht anerkennen wolle. Selbst in einem Land wie Kolumbien, das sich generell durch einen einigermaßen stabilen Rechtsstaat auszeichnet, wurde zuletzt behauptet, dass die Presse wegen des Coronavirus förmlich selbst auf der Intensivstation gelandet sei. Mehrere regierungskritische Reporter wurden Anfang April 2020 über Nacht entlassen. Hinzu kommt, dass viele Journalisten wegen der Quarantänemaßnahmen über Monate nicht selbstständig recherchieren oder autonom berichten können. Sie sind auf Regierungsinformationen angewiesen. Die De-facto-Ausschaltung der Presse wurde und wird bis heute teilweise instrumentalisiert, um den wahren Zustand der Krise zu verschleiern. Mehr noch, einige asiatische Länder, allen voran China, haben es vorgemacht, wie man die Pandemie ausnutzen kann, um mithilfe digitaler Medien und Apps ungebremst Informationen von Seiten der Bevölkerung z. B. zu ihrem Gesundheitszustand einzufordern, die sie später zu anderen Zwecken, wie etwa in Wahlkampfkampagnen oder zur anderweitigen Überwachung oder Manipulation der eigenen Bevölkerung, einsetzen könnten. Dabei ist die Meinungsfreiheit und eine transparente Informationspolitik gerade in Fällen sanitärer Notstände unerlässlich, um Leben zu retten. Hätte Chinas Regierung die warnenden Stimmen einiger chinesischer Ärzte, die in Wuhan schon im Dezember 2019 vor den Folgen des Coronavirus warnten, nicht systematisch unterdrückt, wäre der Welt vielleicht einiges erspart geblieben.
In anderen, weniger drastischen Fällen – teilweise sogar in robusten Demokratien – kam die Pandemie nicht ungelegen, um politisch möglicherweise gerade unerwünschte Ereignisse zu verzögern. In Chile, wo die Regierung schon frühzeitig den „Katastrophenzustand“ ausgerufen hatte, wurde das für den 26. April 2020 geplante Verfassungsreferendum auf den 25. Oktober 2020 verschoben. Weitere Massenproteste blieben durch die verhängten Quarantänemaßnahmen aus. Auch das Oberste Wahlgericht in Bolivien hat die für den 3. Mai 2020 geplanten Wahlen ohne Nennung eines neuen Termins nach hinten verschoben. Dies kommt der amtierenden Übergangspräsidentin Jeanine Áñez zugute. Sie kann ihre kürzlich angekündigte Präsidentschaftskandidatur konsolidieren. Denn Kriege und Terroranschläge haben in der Vergangenheit gezeigt, dass die Öffentlichkeit sich unter diesen Umständen „um die Fahne schart“ und Zustimmungsquoten der Regierung in die Höhe schnellen können. Warum sollte das in der Coronakrise für eine Übergangspräsidentin nicht genauso sein?
Folgen für den Rechtsstaat in Lateinamerika
Auch wenn die Voraussetzungen für das Ergreifen von Notstandsmaßnahmen im Fall COVID-19 andere sind als in der Vergangenheit in Kriegszeiten oder zur (vermeintlichen) Bekämpfung terroristischer Gefahren, ist höchste Vorsicht geboten. Natürlich braucht es in diesen außergewöhnlichen Zeiten außerordentliche Maßnahmen. Dies aber demokratisch legitimiert und kontrolliert.
Ein Augenmerk sollte deshalb insbesondere auf die Aufrechterhaltung der Kontrollorgane, speziell der Verfassungsgerichte, sowie auf die Förderung eines kritischen und wachen Geistes von Seiten der Zivilbevölkerung gelegt werden. Denn gerade in Krisenzeiten muss die Demokratie für Fehler doppelt bezahlen. Viele Maßnahmen wurden gerade zu Beginn der Coronakrise unter enormem Zeitdruck erlassen, für die die Machthaber in normalen Zeiten vielleicht Jahre gebraucht hätten. Einige Parlamente wurden temporär lahmgelegt und funktionieren teilweise seit Monaten trotz Ergreifens innovativer Maßnahmen, wie virtueller Sitzungen, nur eingeschränkt. Die Bevölkerung ist abgelenkt und mit der Abwehr und Linderung der persönlichen Folgen der Krise beschäftigt. Die Rechtmäßigkeit der Maßnahmen wurde daher bisher kaum öffentlich diskutiert. Die Zustimmungsraten zu den Notstandsmaßnahmen in Lateinamerika sind (noch) – mit Ausnahme Brasiliens – generell hoch. Wieso sich also einen „Kopf“ über ihre Verhältnismäßigkeit machen?
Sind die Regierungen erst einmal ungestraft davongekommen oder werden politisch für ihr beherztes Durchgreifen sogar gefeiert, besteht die Gefahr, dass sie auch zukünftig bei weniger schwerwiegenden Krisen ungezügelt erhebliche Eingriffe in Freiheitsrechte, insbesondere in die Bewegungsfreiheit, anordnen werden. Eine juristische Aufarbeitung des Geschehenen ist somit unerlässlich. So ist es zu begrüßen, dass das brasilianische Verfassungsgericht ein Dekret von Präsident Jair Bolsonaro, mit dem er den Zugang zu öffentlicher Information in Coronazeiten einschränken wollte, für verfassungswidrig erklärt hat. Ebenso ist es positiv zu bewerten, dass das kolumbianische Verfassungsgericht, eines der prestigeträchtigsten und bedeutendsten in der Region, die erlassenen Krisenmaßnahmen auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüft. Ende Mai 2020 erklärte das Gericht den von Präsident Iván Duque per Dekret erklärten sozialen und wirtschaftlichen Notstand für verfassungsmäßig. Weitere vom Präsidenten unter dem Notstandsregime erlassene Dekrete liegen dem Verfassungsgericht derzeit noch zur Prüfung vor.
Die größte Gefahr für die lateinamerikanischen Rechtsstaaten besteht aber darin, dass Krisenmaßnahmen nach Ende der Krise gar nicht mehr zurückgedreht werden. Denn was nicht gleich zurückgenommen wird, wird zur Gewohnheit. Und so könnten sich Neu-Autokraten der Region ganz schnell in ihre neuen Machtbefugnisse verlieben und sie dann nicht mehr hergeben wollen. So hat die Vergangenheit gezeigt, dass in vielen Fällen im Notstand erlassene Gesetze danach über Jahre Gültigkeit behielten. Wir erinnern uns an in Notstandssituationen in den USA und Frankreich, aber auch in Kolumbien, Chile und Peru erlassene Antiterrorgesetze, die bis heute Gültigkeit haben. Der Ausnahmezustand wird zur Normalität. Liegt die Macht also in den falschen Händen, so können sich Regierende daran machen, nicht nur individuelle Freiheiten einzuschränken, sondern auch das zivile Leben, Politik und Wirtschaft für Jahre unter ihre alleinige Kontrolle zu bringen.
In Lateinamerika werden die rechtspolitischen Folgen, die aus der Coronakrise hervorgehen, also in großem Umfang davon abhängen, wie die Regierungen der Region ihre Macht in Zeiten des Notstands ausüben. Missbrauchen Lateinamerikas Regenten ihre Befugnis zur Zementierung ihrer Macht und zur Durchsetzung egoistischer Ambitionen, sieht es für den Rechtsstaat in Lateinamerika in Zukunft finster aus. Der Glaube an Demokratie und Rechtsstaat würde noch weiter abnehmen. Ungleichheiten blieben bestehen oder würden gar noch verstärkt. Die kurzzeitig unterdrückte Protestwelle würde danach mit noch größerer Wucht ausbrechen.
Wissen die Regierungen ihre Macht jedoch mit Maß auszuüben und ihre Länder mit gutem Führungsstil aus der Krise zu leiten, werden sie nicht nur Wählerstimmen gewinnen, sondern vielleicht auch das lange verloren geglaubte Vertrauen der Bürger in staatliche Institutionen zurückerwerben. Dazu gehört insbesondere auch eine gerichtliche Aufarbeitung der getroffenen Krisenmaßnahmen und ein solides Wappnen der Gesundheitssysteme für künftige Notstände. So besteht in der Krise vielleicht auch eine Chance für mehr sozialen Rechtsstaat, Demokratie und Solidarität in Lateinamerika. Denn eines ist sicher: Die Coronakrise wird die politischen Spielregeln verändern. Lateinamerikas Regierungen haben es in der Hand, die Richtung zu bestimmen.
Dr. Marie-Christine Fuchs, LL.M. ist Leiterin des Rechtsstaatsprogramms Lateinamerika der Konrad-Adenauer-Stiftung mit Sitz in Bogotá.
Redaktionsschluss für den Artikel war der 29. Mai 2020.
Die Autorin dankt Felix Ochtrop, im Februar und März 2020 Praktikant beim Rechtsstaatsprogramm Lateinamerika der Konrad-Adenauer-Stiftung, für seine Unterstützung bei der Vorbereitung und beim Verfassen des Artikels.
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