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Ahmad Masood, Reuters, picture alliance

Auslandsinformationen

Präsidentschaftswahlen in Afghanistan

von Dr. Babak Khalatbari, Tanja Bauer

Fluch oder Segen für die Demokratie des Landes?

Vier Jahrzehnte Auslandsinformationen haben einen Bestand von mehr als 400 Ausgaben entstehen lassen, der so manchen Schatz bereithält. Manche Beiträge zeichnen Entwicklungen vor, die uns Jahre später eingeholt haben, manche Einschätzungen erscheinen heute wie Zeugnisse einer fernen Epoche. Für die vier Ausgaben dieses Jahres bereiten wir jeweils einen Artikel aus den verschiedenen „Ai-Dekaden“ online neu auf. Hier geht es ins Jahr 2009, als sich Hamid Karzai in einer von Betrugsvorwürfen überschatteten Wahl eine zweite Amtszeit als Präsident Afghanistans sicherte.

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Die Ereignisse um die Präsidentschaftswahlen in Afghanistan haben viele Illusionen über den Demokratisierungs- und Wiederaufbauprozess am Hindukusch zunichtegemacht. Massive Wahlfälschungen, gewalttätige Machtdemonstrationen der Taliban und ein sich anbahnender Konflikt zwischen den beiden erfolgreichsten Kandidaten – Amtsinhaber Karzai und seinem Herausforderer Abdullah Abdullah – haben die Zweifel am Zweck des Afghanistaneinsatzes in der deutschen Öffentlichkeit nachdrücklich verstärkt. Allerorten stellt sich die Frage nach den Erfolgsaussichten des deutschen Engagements am Hindukusch. Manche Schlussfolgerungen münden in nicht näher beschriebene Ausstiegsszenarien nach dem Motto „Schnell weg vom Hindukusch“. Jedoch werden bei derartig vollmundigen Ankündigungen mitunter Ursache und Wirkung verwechselt. Diese Art der Diskussion sollte nicht übersehen, dass die NATO-Truppen in Afghanistan nicht nur für Demokratie und für die Gewährleistung von Menschen- und Frauenrechten kämpfen, sondern auch radikal-­islamischen Kräften die Basis entziehen sollen, um Anschläge gegen westliche Staaten zu verhindern. Dies ist nicht in ein paar Jahren zu bewältigen. Es werden Opfer auf allen Seiten zu beklagen sein, bei stetig steigenden Kosten für den Einsatz. So unbefriedigend der gegenwärtige Status quo am Hindukusch auch sein mag, der demokratische Prozess in Afghanistan ist ein Instrument zur Erreichung eines Mindestmaßes an Stabilität. Die Präsidentschaftswahl und die Wahl der Provinzräte stellen bei diesem Mammutprojekt lediglich einen kleinen Streckenabschnitt dar und sollten nicht dazu verwandt werden, die generelle Wegrichtung in Frage zu stellen. Der folgende Beitrag greift diese Debatte auf und fragt nach der Bedeutung der Präsidentschaftswahlen für die weitere Entwicklung Afghanistans: Sind diese Fluch oder Segen für den Demokratisierungsprozess des Landes?

 

Hintergrund: Die politische Lage am Vorabend der Wahlen

Am 17. August 2009 endete die Wahlkampfphase zu den zweiten Präsidentschaftswahlen nach der Vertreibung der Taliban mit zahlreichen Massenkundgebungen der Präsidentschaftskandidaten. Deren Zahl hatte sich bis zu diesem Zeitpunkt von ursprünglich über 40 Kandidaten auf nur noch 30 Bewerber reduziert. Viele Kandidaten verzichteten zugunsten Hamid Karzais auf eine eigene Kandidatur. Einige wenige, wie Nasrullah Arsalai, forderten hingegen ihre Anhänger auf, für Abdullah Abdullah zu stimmen. Abdullah, der 48-jährige Augenarzt aus dem Panjirtal, führte einen effektiven und authentischen Wahlkampf, bei dem er keinerlei Risiken scheute. Sein enthusiastisches Engagement und die von seinem Kampagnenteam etablierte wirkungsvolle Wahlkampfmaschinerie ließen ihn zum Hauptkonkurrenten Karzais werden, wodurch ein politischer Zweikampf um die Gunst der rund 17 Millionen wahlberechtigten Bürger entstand. Auch Karzai führte einen intensiven Wahlkampf, unter Ausnutzung des ihm zur Verfügung stehenden Regierungsapparates. Mit dem Warlord Abdulrashid Dostum, dem Menschenrechtsorganisationen schwerwiegende Kriegsverbrechen vorwerfen, ging Karzai eine strategische Allianz ein, um sich die Stimmen der usbekischen Minderheit Afghanistans zu sichern.

Neben den Zweifeln an der Kompetenz und Integrität vieler Kandidaten breitete sich am Vorabend der Wahlen bei vielen Beobachtern Skepsis bezüglich der technischen Umsetzung der Wahlen aus. Diese begründete sich vor allem mit Fragen nach der Unabhängigkeit der nationalen Wahlkommission, die von Beginn an in dem Ruf stand, im Sinne Karzais zu handeln. Auch wurden Zweifel an der korrekten Zahl der Wahlberechtigten geäußert: Obwohl Bevölkerungsschätzungen von maximal 14 Millionen volljährigen und somit wahlberechtigten Afghanen ausgingen, registrierten sich rund 17 Millionen der ca. 28 Millionen Bürger für die Wahlen. Offensichtlich ließen sich Tausende Wähler mehrmals registrieren. Wahlunterlagen wurden zur Basarware und Clanchefs verkauften die Stimmen ihrer Dörfer im Austausch gegen politische Posten. Auch vor Kuriositäten schreckten die Wahlfälscher nicht zurück. So wurde die US-amerikanische Pop-Sängerin Britney Spears in Kandahar als Wählerin registriert. Im Vorfeld der Wahlen wurde deutlich, dass bei den Wahlen in Afghanistan keine westlichen Maßstäbe angelegt werden konnten. Diesbezüglich wurde der ­NATO-Generalsekretär Rasmussen am deutlichsten, als er Anfang August feststellte, dass „die Wahl nicht die Standards erreichen wird, wie wir sie von Wahlen in unseren Bündnis­nationen erwarten“. Diese Einschätzung war zu großen Teilen auch der instabilen Sicherheitslage geschuldet, die sich bereits Wochen vor dem Wahltermin deutlich verschlechterte. Wenige Tage vor den Wahlen wurde die afghanische Hauptstadt mit rund einem halben Dutzend Raketen beschossen. In den frühen Morgenstunden des 15. August 2009 tötete nahe dem ­NATO-Hauptquartier ein Selbstmordattentäter mit einer Autobombe zehn Personen und verletzte über 100. Drei Tage später beschossen die radikal-­islamischen Taliban den Präsidentenpalast mit Raketen und attackierten einen ­NATO-Konvoi. Zehn Menschen wurden dabei getötet und über 55 verletzt. Die Welle der Gewalt hielt bis zum Wahltermin an.

Neben diesen Terroranschlägen richteten sich die Einschüchterungsversuche der Taliban auch direkt gegen potenzielle Wähler. Auf Flugblättern drohte man jeden Finger, der bei der Stimmabgabe mit Tinte markiert würde, abzuhacken. Der Urnengang verkam so in Afghanistan in einigen Distrikten zur Bürgerpflicht unter Lebensgefahr. Je näher der Wahltermin rückte, desto mehr Gesprächspartner antworteten auf die Frage, ob man trotz der angespannten Sicherheitslage von seinem Stimmrecht Gebrauch machen möchte: „I value my life more than my vote“. Infolgedessen blieben viele der rund 25.500 Wahllokale geschlossen. Rückblickend muss daher festgestellt werden, dass Gewalt und Betrug die zweite Präsidentschaftswahl in Afghanistan bereits im Vorfeld überschatteten.

 

Wahlverlauf und vorläufige Ergebnisse

Die Gewalt des Wahlkampfes setzte sich am Wahltag fort. Nach offiziellen Angaben wurden in 15 der 34 afghanischen Provinzen Angriffe und Anschläge verübt. Neun Zivilisten, neun Polizisten und acht Soldaten kamen bei gewaltsamen Zwischenfällen ums Leben; 25 Soldaten, 14 Polizisten und 13 Unbeteiligte wurden verletzt. Insgesamt kam es am Wahltag zu 73 sicherheitsrelevanten Zwischenfällen.

Am Tag vor dem Urnengang war vom Präsidenten eine Nachrichtensperre für den Wahltag verhängt worden, um die Wähler nicht durch Schreckensmeldungen von der Stimmabgabe abzuhalten. Die bestehenden sicherheitspolitischen Bedenken sowie eine generelle Politikverdrossenheit ließen die Wahlbeteiligung deutlich hinter den Werten von 2004 zurückbleiben. Während vor fünf Jahren die Wahlbeteiligung auf ca. 80 Prozent geschätzt wurde, sank sie im Jahr 2009 auf Werte zwischen 30 und 40 Prozent. Hinzu kamen Widrigkeiten im Wahlverlauf. Diesbezüglich klagte der Kandidat Ramazan Bashardost, er habe die „nicht abwaschbare“ Tinte an seinem Zeigefinger ohne größere Pro­bleme mit einem Bleichmittel entfernen können. Darüber hinaus meldeten einige Wahlbüros, die Stanzmaschinen, mit deren Hilfe benutzte Wahlkarten gekennzeichnet werden sollten, seien nicht funktionstüchtig gewesen. Unterstützer von Präsidentschaftskandidaten blockierten Wahllokale und versagten Konkurrenten das Betreten. Manche Kriegsfürsten ließen die Urnen sogar nach Wahlschluss in ihre Residenzen ­bringen, um sie dort auffüllen zu können.

Die anfänglich weitgehend positive Bewertung der Wahlen war der Tatsache geschuldet, dass trotz dieser widrigen Umstände überhaupt Wahlen stattfinden konnten. Als frei und fair können diese auf Grund der zahlreichen Gewalt­taten nicht bewertet werden. Die bereits vor den Wahlen kursierenden Informationen über Mängel im Wahlablauf wurden in den Wochen nach dem Urnengang durch das Bekanntwerden neuer Details über Wahlmanipulationen im großen Stil in den Schatten gestellt. Nach der Wahl gingen bei der von den Vereinten Nationen unterstützten Wahlbeschwerdekommission (ECC) mehr als 2300 Klagen ein, von denen über 700 als „Kategorie-A-Klagen“ eingestuft wurden und damit potenziell wahlentscheidenden Charakter hatten. Auch EU-Wahlbeobachter äußerten ihren Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Wahlen. So seien in 214 Wahllokalen mehr Stimmen abgegeben worden, als Wähler registriert waren. In 2.451 Lokalen erhielten die siegreichen Kandidaten jeweils 90 Prozent der Stimmen oder gar mehr. Aufgrund dieser Berichte wies die ECC die afghanische Wahlkommission (IEC) zur Überprüfung von Stimmen aus rund 2.500 Wahllokalen an, was etwa zehn Prozent der Stimmen entsprach. Allerdings kündigte die IEC an, lediglich 200.000 Stimmen aus 447 der insgesamt rund 26.000 Wahllokalen bei ihrem vorläufigen Endergebnis nicht berücksichtigen zu wollen.

Die am 16. September 2009 veröffentlichten vorläufigen Wahlergebnisse der IEC sehen Hamid Karzai mit 54,6 Prozent als Gewinner der Wahl. Der zweitplatzierte Abdullah Abdullah erhielt 27,8 Prozent der Stimmen. Doch Karzais Sieg steht auf tönernen Füßen: Sollten bei den für Oktober 2009 erwarteten endgültigen Ergebnissen der Präsidentschaftswahl noch maßgebliche Korrekturen durch die Manipulationsfälle zu erwarten sein, wird eine Stichwahl zwischen den Kandidaten Karzai und Abdullah notwendig werden. Angesichts der Hinweise auf massiven Wahlbetrug hat die afghanische Wahlkommission seit Mitte September mit Vorbereitungen für eine mögliche zweite Wahlrunde begonnen, was eine derartige Entscheidung als durchaus möglich erscheinen lässt. Um Wahlmanipulationen vorzubeugen, werden die rund 17 Millionen Wahlzettel für die mögliche Stichwahl bereits vorsorglich in London gedruckt.

 

Politische Allianzen

Bis vor wenigen Monaten schien es so, als stehe Präsident Karzais politische Karriere kurz vor ihrem Ende. Der afghanische Präsident wurde, da seine Regierung nicht intensiv genug gegen Korruption in den eigenen Reihen vorging, international vehement kritisiert. Außerhalb Kabuls hatte die Regierung faktisch die Kontrolle über das Land verloren. Auf internationaler Ebene wurde allerdings übersehen, dass der afghanische Präsident seit Anfang des Jahres wieder deutlich an Rückhalt in der Bevölkerung gewann. Hamid Karzai erfand sich innerhalb kürzester Zeit neu und überraschte mit einem Zweckbündnis der besonderen Art: Im Wahlkampf präsentierte er seine heterogene Allianz, in der der Tadjike Muhammad Qasim Fahim, ein Ex-Vizepräsident und ehemaliger Verteidigungsminister sowie selbsternannter „Marschall“, den Posten des ersten Vizepräsidenten einnehmen sollte. Fahim war von der Nationalen Front zum Lager Karzais gewechselt, nachdem die Nordallianz nicht ihn, sondern Ex-Außenminister Abdullah Abdullah als Präsidentschaftskandidaten aufgestellt hatte. Als zweiten Vizepräsidenten nominierte Karzai den aus der Minderheit der schiitischen Hazara stammenden Muhammad Karim Khalili. Um die Stimmen der übrigen ethnischen Minderheiten zu sichern, berief Karzai neben dem usbekischen General Abdulrashid Dostum auch die Hazara-Führer Mohammad Mohaqeq und Mohammed Asif Mohseni sowie den Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses, Abdul Rab Rasoul Sayaf, in sein Schattenkabinett. Karzai gelang es jedoch nicht, die Intimfeinde Atta und Dostum daran zu hindern, alte Meinungsverschiedenheiten wieder neu zu beleben. Rund zehn Wochen vor den Wahlen brach Atta aus der Karzai-Koalition aus und wechselte ins Lager Abdullah Abdullahs. Dennoch gelang es Karzai, mit dem ethnisch ausgewogenen präsidialen Dreigestirn die größten Bevölkerungsgruppen Afghanistans anzusprechen. Mit dieser politisch und moralisch fragwürdigen Vereinigung sicherte sich Karzai viele Stimmen der drei größten ethnischen Minderheiten. Welche Probleme diese Vereinigung mit sich bringt, wird sich wohl erst nach der möglichen Stichwahl im Zuge der Regierungsbildung offenbaren.

 

Profil der Kontrahenten

Hamid Karzai ist für viele Menschen das bekannteste Gesicht Afghanistans. Durch das Tragen des im Norden beliebten grauen Qaraquli (Schafsfellmützchen), des grünen Tschapan (Seidenmantel) in Kombination mit den im Süden oft getragenen Kamis (knielanges Hemd) und Partug (dazugehörige Hose) versucht sich Karzai als Symbol der nationalen Einheit darzustellen. Neben seiner markanten Kleidung besticht Hamid Karzai auch durch die Menge seiner Namenszusätze. Diese fielen nach der Konferenz im Dezember 2001 am Petersberg anfänglich recht schmeichelhaft aus. „Sohn der Hoffnung“, so nannte man ihn nach seiner vom Sonderbeauftragten der Vereinten Nation, Lakhdar Brahimi, initiierten Ansprache, in der er beschwörend an die afghanischen Delegierten appellierte. Als frisch gewählter Interimspräsident kürte ihn der damalige Gucci-­Chefdesigner Tom Ford als „schicksten Mann auf dem Planeten“. Doch schon während des Präsidentschaftswahlkampfes im Herbst 2004, bei dem sich Karzai gegen 22 Konkurrenten durchsetzte und 55,4 Prozent aller Stimmen für sich verbuchen konnte, ertönte am Hindukusch erstmals der Schmähruf, er sei lediglich eine „Marionette des Westens“. Die Zäsur in der öffentlichen Wahrnehmung der Person Karzais stellte das Jahr 2005 dar: Die Taliban erstarkten im Süden und Osten des Landes, der Wiederaufbauprozess machte keine weiteren Fortschritte und neben der sich ausweitenden Korruption blühten nur die Schlafmohnfelder, die zu Rekordzeiten bis zu 92 Prozent der weltweiten Opiumproduktion ausmachten. Der Einfluss des afghanischen Präsidenten schien begrenzt, genauso wie die Zeit der Freundlichkeiten. Karzai wurde kurzum nur noch „der Bürgermeister von Kabul“ genannt und oftmals als Sündenbock für die Fehlentwicklungen im Land am Hindukusch abgestraft. Ebenso für negative Schlagzeilen und Zweifel an der Integrität Karzais sorgten die immer wiederkehrenden Meldungen, Karzais Halbbruder Ahmad Wali Karzai sei in den afghanischen Drogenhandel verwickelt. So sollen britische Spezial- einheiten am 22. Juli 2009 mehrere Tonnen Rohopium auf einem Ahmad Wali Karzai gehörenden Grundstück gefunden haben. Hamid Karzai hat stets die Unschuld seines Halbbruders beteuert, dadurch aber an Glaubwürdigkeit im eigenen Land und bei der internationalen Staatengemeinschaft eingebüßt. Dabei ist Karzai aus afghanischer Perspektive kein schlechter Politiker. Vielmehr ist er ein brillanter Stratege und erfahrener Konsensfinder, der dann weitermacht, wenn andere längst aufgeben. Etwas untypisch mutete daher sein diesjähriger Wahlkampf an, in dem Karzai vor allem durch öffentliche Zurückhaltung auffiel trotz eines vermuteten Wahlkampfbudgets von 25 Millionen US-Dollar. So gab er kein offizielles Wahlprogramm heraus, um Ziele und Maßnahmen für seine nächste Amtszeit darzulegen. Ebenso wenig beteiligte er sich an der vom afghanischen TV-Sender Tolo übertragenen Wahlkampfdebatte zwischen seinen Herausforderern Abdullah Abdullah und Ashraf Ghani Ahmadzai. Dies wurde vor allem darauf zurückgeführt, dass Karzai sich nicht den öffentlichen Fragen über die Verfehlungen seiner Politik der letzten fünf Jahre stellen wollte, die de facto nicht die erwartete Verbesserung für das afghanische Volk gebracht hatte. Seine Strategie zur Wählerwerbung schien in der Absicht zu fußen, mit einem ethnisch breit gefächerten Schattenkabinett möglichst viele Wähler anzusprechen.

Den zweiten Platz in der Wahl belegte vorläufigen Wahlergebnissen zufolge Abdullah Abdullah, der von 2001 bis 2006 das Amt des Außenministers bekleidete. Mit seinem paschtunischen Vater und seiner tadjikischen Mutter steht Abdullah für die Multi-Ethnizität des Landes. Die Natio­nale Front entschied sich für den markanten Bartträger als Präsidentschaftskandidaten in der Hoffnung, dass er neben den Stammgebieten im Norden auch im paschtunisch dominierten Süden Wählerstimmen mobilisieren würde. Abdullah warf Karzai medienwirksam vor, Teil des Problems anstatt Teil der Lösung zu sein, wobei er die Korruption als das Hauptproblem Afghanistans identifizierte. Abdullah führte von allen Kandidaten den aktivsten Wahlkampf, der nicht nur mit Plakaten und Onlineauftritten bei YouTube und Facebook begleitet wurde, sondern auch von unzähligen Reisen, Auftritten und Debatten gekennzeichnet war. Als einer von wenigen Kandidaten reiste er nach Kandahar, wo er unter strengem Personenschutz die Menschen aufforderte, sich nicht von den Taliban am Wahlgang hindern zu lassen.

 

Ausblick

Dem Ausgang der Präsidentschaftswahlen in Afghanistan kommt eine hohe politische Bedeutung zu. Im Vorfeld wurden viele Stimmen laut, die mit der Regierungsführung Karzais nicht einverstanden waren. Kritik erntete besonders die Integration ehemaliger Warlords in sein Kabinett, ebenso wie seine immer wieder im Raum stehende mögliche Verbindung zum Opiumgeschäft sowie die unter seiner Herrschaft erneut ausufernde Korruption. Am endgültigen Wahlergebnis wird sich der Unmut der afghanischen Stimmberechtigten ablesen lassen. Sollte am Ende doch noch ein von allen akzeptiertes Wahlergebnis zustande kommen, so kann dies als Erfolg sowohl für die Stabilität Afghanistans als auch für die Afghanistan-Strategie der internationalen Staatengemeinschaft angesehen werden.

Die bekannt gewordenen Manipulationsversuche stellen jedoch das Erreichen eben jener Stabilisierung in Frage. Bewahrheiten sich diese Berichte, könnten die Wahlen genau den gegensätzlichen Effekt, nämlich die politische Destabilisierung des Landes, nach sich ziehen. Die durch die Wahlen hervorgebrachte Regierung kann somit nicht als legitim und als Ausdruck des Wählerwillens gelten. Es ist anzunehmen, dass das afghanische Volk einer durch Manipulation an der Macht gehaltenen Regierung Karzais kein Vertrauen mehr entgegenbringen wird. In jungen, wenig konsolidierten Demokratien wie Afghanistan kann eine solche Abkehr von der herrschenden Regierung leicht zu einer Abkehr vom politischen System und dem demokratischen Prinzip an sich führen. Eine solche Entwicklung wiederum würde den Aufständischen in die Hände spielen: Sie könnten sich die schlechte Regierungsführung zu Nutze machen und, ähnlich wie in den neunziger Jahren zu Zeiten des Bürgerkrieges, als das „kleinere Übel“ oder „letzter Ausweg“ angesehen werden. In diesem Sinne hat sich Mullah Omar auch schon am Ende des Fastenmonats Ramadan im Internet geäußert. Es muss durchaus befürchtet werden, dass eine manipulierte Mehrheit Karzais regierungsfeindlichen Kräften einen Hebel bietet, sich als politische Opposition gegen ein korruptes Regime darzustellen und damit zugleich die Bezeichnung „Terroristen“ abzustreifen.

Vor der einzigen Alternative, der Durchführung von Stich- oder Neuwahlen, schreckt die internationale Gemeinschaft bislang zurück, gelten sie doch als teuer und angesichts der prekären Sicherheits- und Wetterlage im November und Dezember als sehr riskant. Sollten sich die Betrugsvorwürfe gegen Karzai verdichten und sein Stimmenanteil unter die Marke von 50 Prozent sinken, sind Stichwahlen noch in diesem Jahr die einzige Alternative. In Zukunft allerdings müssen die Wahlen sorgfältiger geplant und umgesetzt werden. Diese Erkenntnis sollte bereits hinsichtlich der anstehenden Parlamentswahlen im Jahr 2010 berücksichtigt werden.

Verglichen mit einer Neuwahl erscheint eine Stichwahl zwischen Karzai und Abdullah derzeit als das kleinere Übel. Sie könnte, bei strenger Überwachung der Durchführung, den afghanischen Wahlen zumindest ein Mindestmaß an Legitimation zurückgeben, wie Richard Holbrooke, der UN-Sondergesandte für Afghanistan und Pakistan, bei einer Pressekonferenz bemerkte. Da eine solche Stichwahl aufgrund der klimatischen Bedingungen vor Ende Oktober durchgeführt werden sollte und dies logistisch nicht mehr möglich ist, plädierte die UN-Beschwerdekommission für eine erneute Auszählung von etwa zehn Prozent der Stimmen. Ob dies die Zweifel am Ergebnis der Präsident­schaftswahlen ausräumen kann, ist mehr als fraglich.

Sollte die internationale Staatengemeinschaft letztlich einen Sieg Karzais bestätigen, so wird sie ihn auch als legitimes Staats- und Regierungsoberhaupt anerkennen müssen. In der Praxis wird sie ihm jedoch nicht viel Vertrauen entgegenbringen. Karzai droht in einer zweiten Amtszeit also eine ausgesprochen diffizile Situation. Er verfügt weder über das Vertrauen der Mehrheit seines Volkes noch über das der internationalen Staatengemeinschaft. Gefahr droht zudem von anderer Seite: Die Opposition um Herausforderer Abdullah wird weiter gegen Karzais Herrschaft kämpfen. Darüber hinaus werden andere ehemalige Präsidentschaftskandidaten gegen den Präsidenten arbeiten und versuchen hierfür Unterstützung im Volk zu finden. Aufgrund seiner umfassenden Koalitionsbildung mit starken Akteuren verschiedenster Ethnien wird Karzai zudem besonders auf die Angehörigen aus den eigenen Reihen achten müssen. Zwar bietet ein Kabinett mit der Beteiligung der Usbeken (Dostum), Tadschiken (Fahim) und Hazara (Khalili) auf den ersten Blick ein Bild der nationalen Einheit. Innerlich jedoch brodeln hier jahrzehntelange Rivalitäten, die teilweise noch in der Bürgerkriegszeit wurzeln. Aufgrund einer derartigen Lage können für eine mögliche zweite Amtszeit Karzais schon jetzt drei Szenarien ausgemacht werden, die nicht für eine Stabilisierung des jungen Staates sprechen:

  • Patronagedruck: Karzai hat, wie bereits erwähnt, zahlreichen Personen politische Versprechungen gemacht. Fraglich ist, ob er in der Lage sein wird, diesen Versprechen nachzukommen. Diese Bringschuld gegenüber der Gruppe seiner Unterstützer könnte sein neues Kabinett stark anwachsen lassen und Bürokratie und Vetternwirtschaft beflügeln.
  • Entwestlichung: Karzais Position gegenüber der internationalen Staatengemeinschaft wird in Zukunft stark geschwächt sein, da er die an ihn gestellten Erwartungen bisher bei Weitem verfehlte. Dies könnte ihn dazu bewegen, Verbündete in anderen Regionen der Welt zu suchen. Zwar scheint es derzeit, als versuche Karzai mit allen Mitteln einen solchen Vertrauensverlust zu verhindern, indem er beispielsweise nach dem verhängnisvollen Luftangriff der Bundeswehr auf zwei entführte Tanklaster die Bundesrepublik Deutschland verteidigte und betonte, die deutschen Offiziere und Soldaten seien „Freunde Afghanistans“. Andererseits zeichnete sich bereits vor der Wahl ein gegenseitiges Abrücken voneinander ab. Es gelang Karzai nicht, wie von westlicher Seite gefordert, die Scharia-Rechtsprechung einzudämmen. Vielmehr erhielt die Scharia mit der Verabschiedung des sogenannten Schiiten-­Gesetzes eine deutlich größere soziopolitische Rolle. Karzai unterzeichnete das Gesetz, um sich die Stimmen der vornehmlich schiitischen Hazara zu sichern. Aus dem gleichen Grund verbündete er sich mit den Hazara-Führern Khalili, Mohaqeq und Mohseni, welche als Folge direkten Einfluss auf die Legislative haben werden. Auch eine außenpolitische Neuorientierung in der Bündnispolitik ist denkbar, wie etwa ein Ausbau der indisch-afghanischen Beziehungen. Eine Vertiefung der Beziehungen zum pakistanischen Erzfeind Indien würde von Pakistan äußerst kritisch beurteilt und ist daher wenig wahrscheinlich. Aus afghanischer Sicht vorteilhafter wäre daher eine politische Annäherung an den Iran. Karzai verfügt durch seinen Vizeminister Quasi Fahim sowie die Schiiten Mohageq und Mohseni im Kabinett über beste Kontakte nach Teheran. Sollte Karzai eine solche außenpolitische Umorientierung vornehmen wollen, wäre zu erwarten, dass die neue afghanische Regierung deutlich konservativere Züge tragen wird.
  • Postelektorale Eskalation: Betrachtet man die oben genannten Fakten genauer, so lässt sich erkennen, dass Karzais Regierung an vielen Fronten zu kämpfen haben wird. Noch im Wahlkampf hatten Abdullahs Anhänger angekündigt, im Falle eines manipulierten Wahlsieges von Karzai auf der Straße zu protestieren. Hierbei ist möglich, dass sich viele enttäuschte Wähler den Demonstrationen anschließen werden, um ihrer Unzufrieden­heit Luft zu machen. Berichte über eine Verdopplung der Preise für Kalashnikovs indizieren eine zumindest theoretische Möglichkeit gewalttätiger Konfrontationen. Aber nicht nur vor der Opposition sollte Karzai sich fürchten, auch seine Verbündeten aus den eigenen Reihen könnten sich gegen ihn wenden, falls er gegenüber den Akteuren mit Milizhintergrund die gegebenen Versprechen nicht einhalten kann oder aber zwischen den sehr unterschiedlichen Gruppen der Verdacht der Übervorteilung oder Benachteiligung aufkommt. Dies zeigte sich bereits während des Wahlkampfes, als Unstimmigkeiten zwischen Abdulrashid Dostum und Muhammad Atta dazu führten, dass Atta Karzais Koalition den Rücken kehrte und in das Lager Abdullahs wechselte. Sollte nach der Wahl also der Kampf um die Macht in der Regierung fortschreiten, sind weitere Fragmentierungen, Seitenwechsel und Konfrontationen zu erwarten.

 

Fazit

Die vorläufigen Ergebnisse der Wahlen sprechen Hamid Karzai eine absolute Mehrheit der Stimmen zu, was ihn für eine zweite Amtszeit legitimiert. Allerdings verdichten sich die bereits kurz nach der Wahl laut gewordenen Betrugsvorwürfe gegen Karzai derart, dass sowohl die Wahlbeschwerdekommission als auch die EU öffentlich starke Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Ergebnisses bekunden. Während die afghanische Wahlbehörde IEC von knapp drei Millionen für Karzai abgegebener gültiger Stimmen sprach, zählten EU-Wahlbeobachter nur ungefähr 1,8 Millionen Stimmen, was einem Ergebnis von knapp 42 Prozent für Karzai gleichkommt. Damit wäre eine baldige Stichwahl vonnöten.

Abdullah Abdullah hat in Anbetracht der offensichtlichen Manipulationen bereits nach einer Stichwahl verlangt. Zwar sind auch ihm Fälschungen und Einflussnahmen nachgewiesen worden, doch zum einen bewegen sich diese in weitaus kleineren Dimensionen als bei Karzai, zum anderen ist in der ersten Wahlrunde nur von Bedeutung, ob ein Kandidat die absolute Mehrheit erreicht. Das Ergebnis des ersten Wahlgangs ist insofern für den zweiten ohne Bedeutung. Es liegt nun an den Untersuchungen der Beschwerde­kommission, ob eine zweite Wahlrunde eingesetzt wird oder nicht. Erstes Opfer dieser Frage wurde der US-amerikanische Spitzendiplomat Galbraith, der innerhalb der ­UNAMA einen härteren Kurs gegenüber der ­IEC vertrat und deshalb als stellvertretender Repräsentant des Generalsekretärs der Vereinten Nationen abgezogen wurde.

Sollte Karzai gemäß dem aktuellen Stand der Auszählungen zum Gewinner erklärt werden, würde dies für die afghanische Demokratie in eine falsche Richtung weisen. Bereits jetzt haben die afghanische Regierung, der Westen sowie das politische System der präsidentiellen Demokratie an Glaubwürdigkeit und Vertrauen in den Augen der afghanischen Bevölkerung verloren. Wird Karzai trotz der schwerwiegenden Manipulations­vorwürfe zum Präsidenten ernannt, so wird er mit einem massiven Legitimationsdefizit nicht nur innerhalb der afghanischen Bevölkerung zu kämpfen haben. Die ohnehin an Vertrauen verlierende internationale Schutztruppe könnte dann als Unterstützer eines unrechtmäßigen Regimes gesehen werden. Kurzum, die afghanischen Präsidentschaftswahlen könnten sich mehr als Fluch denn als Segen für den afghanischen Demokratisierungsprozess entpuppen. Sollte die internationale Gemeinschaft auf keine Kurskorrektur drängen und Karzai als siegreichen Kandidaten akzeptieren, drohen die stattgefundenen Wahlen die demokratische Glaubwürdigkeit am Hindukusch eher zu torpedieren als zu stützen. Gemäß einem afghanischen Sprichwort wird ein Gebäude früher oder später einstürzen, wenn der erste Stein falsch gesetzt wurde. Der neue afghanische Präsident wird sich möglicherweise während seiner Amtszeit in der einen oder anderen Krise an dieses Sprichwort erinnern müssen. Der Westen vielleicht auch.

Das Manuskript wurde am 4. Oktober 2009 abgeschlossen.

 


 

Dr. Babak Khalatbari, geboren 1975 in Witten, Studium an den Universitäten Münster, Köln und Kuwait, leitet seit 2005 das Auslandsbüro der Konrad-Adenauer-Stiftung in Kabul, Afghanistan, und seit 2007 das neu gegründete Auslandsbüro in Islamabad, Pakistan.

 


 

Tanja Bauer, geboren 1982 in Saarlouis, hat Politikwissenschaft und Sinologie an der Universität Trier und der University of Sydney studiert. Ihre Magisterarbeit verfasste sie zum Thema „Die Konfliktperzeption Pakistans im Indisch-Pakistanischen Konflikt“.

 


 

Der Artikel erschien ursprünglich in der Ausgabe 10|2009 der Auslandsinformationen.

 


 

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