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Aufstieg, Fall und zurück auf Los

von Lewe Paul, Ashutosh Nagda

Die Entwicklung des Zentrismus in Indien

Die politische Landschaft Indiens hat sich in den vergangenen Jahrzehnten erheblich verändert. Der Aufstieg des Hindu-Nationalismus und die soziale Polarisierung überschatten langjährige zentristische Traditionen und untergraben wichtige Bestandteile der „größten Demokratie der Welt“. Eröffnen die Ergebnisse der Wahlen 2024 eine Chance, zu einem moderateren Ansatz zurückzukehren?

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In den vergangenen zehn Jahren war der weltweit zunehmende Populismus eine dominante Kraft in der Politik und ein bedeutendes Feld der politischen Analyse. In Zeiten wachsender Polarisierung, die durch die verbreitete Nutzung sozialer Medien begünstigt wird, haben es moderate Politikansätze schwer, Wählerwünsche zu erfüllen und die politische Agenda zu bestimmen. Indien ist aus zwei Gründen ein wichtiges Fallbeispiel, um dieses globale Phänomen zu verstehen: Zum einen ist Indien als größte Demokratie und fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt ein zukunftsorientiertes Land, das nach einer einflussreicheren Position im geopolitischen Raum strebt. Der zweite – und noch wichtigere – Grund ist das Erstarken des Rechtspopulismus in Indien, der beinahe unbemerkt gewachsen ist, aber die politische Mitte in letzter Zeit immer stärker in den Hintergrund gedrängt hat.

Der politische Zentrismus ist seit der Unabhängigkeit Indiens im Jahr 1947 ein Grundpfeiler des indischen Staatswesens. Die Pluralität der indischen Gesellschaft, Kultur und Politik verlangte einen ausgleichenden Ansatz bei der Führung des Landes. Die Versöhnung oder Beschwichtigung unterschiedlicher Interessen, ein starker Wohlfahrtsstaat und eine Besinnung auf die eigene, unabhängige Identität sind die wichtigsten Säulen dieser Politik und waren auch ausschlaggebend für Wahlerfolge in Indien.

Der Sieg der hindu-nationalistischen Bharatiya Janata Party (BJP) bei den Parlamentswahlen 2014, als Narendra Modi erstmals Premierminister wurde, veränderte die Statik der zentristischen Politik im Land. Modis BJP bedient sich stark bei zentristischen Stoffen, verleiht ihnen gleichzeitig aber die eigene safrangelbe Färbung des Hindu-Nationalismus. Die Partei präsentiert sich als Plattform für alle Inder, in kulturellen und religiösen Aspekten aber ist sie eindeutig auf die 80 Prozent der Inder ausgerichtet, die der hinduistischen Mehrheit angehören. Der Hindu-Nationalismus verspricht im Grunde die Schaffung eines Staates, der sich den kulturellen und spirituellen Traditionen des Hinduismus verpflichtet fühlt. Je stärker das staatliche System diesen Prinzipien folgt, desto wahrscheinlicher ist es, dass nicht-hinduistische Teile der Bevölkerung an den Rand gedrängt und in ihren Rechten eingeschränkt werden.

Im indischen Kontext kann Populismus verschiedene Formen annehmen, von denen drei in diesem Artikel erörtert werden. Die erste Form ist das Bestreben, unterprivilegierte Gruppen darin zu bestärken, sich gegen eine wahrgenommene soziale und politische Elite aufzulehnen. Die zweite ist die Erzeugung einer polarisierenden Dynamik zwischen verschiedenen sozialen und religiösen Gruppen mit der Absicht, eine „Wir-gegen-die“-Stimmung zu schaffen. Bei der dritten Facette des Populismus werden bestimmten Gruppen der Bevölkerung materielle Vorteile versprochen. Dieser Aspekt kann als einer der Kipppunkte zwischen Zentrismus und Populismus angesehen werden: Wirtschaftliche Wohlfahrtsprogramme wie direkte Geldüberweisungen, der Bau und die Ausstattung von Häusern, der Ausbau von Wasseranschlüssen und die Verteilung von Gasflaschen sind ein zentrales Element indischer Politik, da sie dem Großteil der Bevölkerung zugutekommen. Solche politischen Maßnahmen können jedoch leicht einen populistischen Beigeschmack bekommen, wenn fast alle politischen Parteien versuchen, die Wahlkampfversprechen der anderen Parteien im Bereich der wirtschaftlichen Wohlfahrt zu überbieten oder gezielt bestimmte Gruppen anzusprechen, um schnelle Wahlerfolge zu erzielen.

Indiens Mehrparteiensystem ist so vielfältig wie das Land selbst. Um Sitze in der Lok Sabha, dem Unterhaus des indischen Parlaments, bewarben sich bei den Parlamentswahlen am 4. Juni 2024 sage und schreibe 744 politische Parteien, von denen mehr als 30 bei den vorangegangenen Wahlen 2019 mindestens einen Sitz gewonnen hatten. Unter diesen befinden sich zwei führende Parteien, nämlich der Indian National Congress (INC oder kurz Congress) und die Bharatiya Janata Party, die seit der Unabhängigkeit die meisten Regierungen des Landes angeführt haben.

Indiens Parteiensystem ist so vielfältig wie das Land selbst.

Der INC hat seine Wurzeln im Kampf um die Unabhängigkeit Indiens und ist eng mit Mahatma Gandhi und der Familie Nehru-Gandhi verbunden. Die BJP wiederum ist aus der Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS) hervorgegangen, einer 1925 gegründeten Gruppe, die von der US-amerikanischen Library of Congress als „rechtsgerichtete hindu-nationalistische, paramilitärische und mutmaßlich militante Freiwilligenorganisation“ beschrieben wird. Die meisten anderen der gut 30 Parteien auf der Liste sind eng mit einem oder zwei bestimmten Bundesstaaten verbunden, wie unter anderem die Samajwadi Party (SP) im bevölkerungsreichsten Bundesstaat Uttar Pradesh, die Rashtriya Janata Dal (RJD) in Bihar, die Dravida Munnetra Kazhagam (DMK) in Tamil Nadu und der Trinamool Congress (TMC) in Westbengalen. Diese Parteien verfolgen eine Politik, die auf die lokale Bevölkerung der Bundesstaaten zugeschnitten ist. In Zeiten von Koalitionsregierungen können diese regionalen Parteien auch auf nationaler Ebene den Ausschlag geben.

 

Mit intergrativem Kurs durch die Stürme der Unabhängigkeit

Heute ist die BJP die stärkste politische Kraft in Indien. Das Bild von Premierminister Narendra Modi, oft vor dem Hintergrund der safrangelben Farben und des Lotus-Symbols der BJP, ist im täglichen Leben allgegenwärtig. Und doch ist es der Indian National Congress, wichtigste Oppositionspartei zu Modis BJP, der Indien seit seiner Unabhängigkeit im Jahr 1947 entscheidend geprägt hat. In diesen 77 Jahren stand der INC 54 Jahre lang an der Spitze der Zentralregierung und stellte sechs Premierminister.

Die Partei wurde 1885 gegründet und ist eng mit Mahatma Gandhi und dem Unabhängigkeitskampf verbunden. Zentral war dabei die Fähigkeit des INC, die unterschiedlichen Schichten der indischen Gesellschaft einzubeziehen. Obwohl die meisten Mitglieder des INC der hinduistischen Mehrheit angehörten, war ein breites Spektrum von Religionen, Kasten und wirtschaftlichen Klassen vertreten. Das Bild von einer Partei, die vielen verschiedenen Gruppen eine politische Heimat bietet, wurde auch nach der Unabhängigkeit Indiens im Jahr 1947 aufrechterhalten und der Congress gewann die ersten Parlamentswahlen im Jahr 1952 deutlich. Das übergeordnete Ziel des ersten Premierministers Jawaharlal Nehru war es, die neugeborene Republik durch eine „kollektive Entwicklung“ aus der Armut zu führen: Dämme und Stahlwerke seien die Tempel des neuen Indiens, wurde Nehru zitiert. Von Anfang an verfolgte die vom INC geführte Regierung den Ansatz, alle Bürger anzusprechen.

Das Konzept, für das Nehru stand, wurde später als „Entwicklungsnationalismus“ bekannt. Die Bevölkerung versammelte sich hinter der Idee, gemeinsam eine selbstbestimmte und wohlhabende Nation zu schaffen, und im Laufe von Nehrus drei Amtszeiten als Premierminister entstand die Vorstellung vom INC als Indiens natürlicher Regierungspartei. Der INC verfolgte eine integrative politische Agenda. Er legte Wert auf den Ausgleich unterschiedlicher Interessen und setzte Wohlfahrtsprogramme für benachteiligte Gruppen auf. Für die zentristische Regierung ging es darum, einerseits die Interessen der hinduistischen Mehrheit zu vertreten und die hinduistische Dimension der eigenen Identität zu stärken, andererseits aber Rücksicht zu nehmen auf die Belange der religiösen Minderheiten.

Durch diese ausgleichende Politik erwarb sich Nehru den Ruf, der Architekt eines säkularen indischen Staates zu sein. In Indiens föderalem System mussten indes auch einige ehrgeizige politische Vorhaben zurückgestellt werden, um die Regierungen der Bundesstaaten zu besänftigen. Als Nehru beispielsweise Hindi als alleinige Amtssprache Indiens einführen wollte, war der Widerstand der nicht Hindi sprechenden Staaten so massiv, dass die Zentralregierung einen Kompromiss einging und neben Hindi Englisch als Amtssprache einführte. In der ersten Phase des modernen unabhängigen Indiens verkörperte der INC eine moderate Politik und stellte sich selbst erfolgreich als einzige Partei dar, die in der Lage war, für einen Ausgleich zwischen den verschiedenen Interessen der pluralistischen indischen Gesellschaft zu sorgen.

Das Quotensystem wurde zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu einem bestimmenden Thema der indischen Politik.

Eine Art populistische Wende erlebte die indische Politik dann unter Nehrus Tochter Indira Gandhi. In ihrer ersten Amtszeit als Premierministerin von 1966 bis 1977 mobilisierte sie Unterstützung durch eine linksgerichtete und zuweilen sozialistische Agenda und setzte auf eine stark personalisierte Politik. Als sie während ihrer zweiten Amtszeit von 1980 bis 1984 im Punjab und in Kaschmir mit Sezessionsbewegungen konfrontiert wurde, stellte sie die Aufständischen aus den Reihen der Sikh und Muslime als Bedrohung für die nationale Integrität und sich selbst und ihre Partei als Verteidiger des hinduistischen Glaubens dar. Dieser Politikstil wurde als „Einheitsnationalismus“ bekannt, doch einige Beobachter sind der Ansicht, dass Indira Gandhi in dieser Zeit den Grundstein gelegt hat für einen auf Sicherheit fokussierten, minderheitenfeindlichen Diskurs und einen „Wir-gegen-die“-Populismus, der in den jüngsten BJP-geführten Regierungen abermals zum Vorschein kam.

 

Die BJP fordert den Congress heraus

Das moderate Profil des INC geriet zunehmend unter Druck, da er immer mehr Herausforderungen von innen und außen bewältigen musste. Zu einer stärkeren Erosion der politischen Mitte in Indien führte allerdings der Aufstieg der BJP. Die hindu-nationalistische Partei entstand 1980 als Abspaltung der Janata-Partei. Die tieferen Wurzeln der BJP liegen jedoch in der Bharatiya Jana Sangh (BJS, 1951 bis 1977), die damals als politischer Arm der Rashtriya Swayamsevak Sangh bekannt war. Dieser Ursprung erklärt die enge Verbindung zum Hindu-Nationalismus.

In den Anfangsjahren fand diese Ideologie jedoch keinen großen Anklang in der BJP. Die Partei begann mit einem moderaten Ansatz und stand damit in Kontinuität zur Janata-Partei. Der Versuch, eine alternative gemäßigte Plattform aufzubauen, führte jedoch zu einer schweren Niederlage bei ihrer ersten Teilnahme an Parlamentswahlen 1984, woraufhin die BJP auf einen scharfen hindu-nationalistischen Kurs umschwenkte. Die BJP fand dabei ihr Momentum im Zusammenhang mit der Ram-Janmabhoomi-Bewegung, die den Bau eines Tempels zu Ehren der hinduistischen Gottheit Ram an dem umstrittenen Standort einer Moschee im Bundesstaat Uttar Pradesh anstrebte. Mit dem wachsenden Zuspruch für den Tempel stiegen auch die Erfolge der BJP bei den folgenden nationalen Wahlen, die sie zu einer bedeutenden politischen Kraft im ganzen Land machten.

Zwei wichtige Ereignisse gingen mit der Tempelbewegung einher: die Liberalisierung der indischen Wirtschaft (1991) und die Umsetzung des Berichts der Mandal-Kommission (1992), der die Eingliederung sozial und wirtschaftlich benachteiligter Bevölkerungsgruppen im öffentlichen Dienst und im Bildungswesen durch ein Quotensystem vorsah. Der Vorstoß für das Quotensystem und dessen flächendeckende Umsetzung wurden von vielen regionalen Parteien erfolgreich aufgegriffen, wodurch der durch die „Tempelpolitik“ getragene Aufschwung der BJP zunächst gedämpft wurde. Dies war vor allem im Hindi-Kernland der Fall, das einen Großteil des Nordens des Landes umfasst und die wichtigste Unterstützungsbasis der BJP darstellt. Neben dem Ziel, eine positive soziale Mobilität zu ermöglichen, schuf die Quote unbeabsichtigt neue Wählergruppen und wurde mit Beginn des 21. Jahrhunderts zu einem bestimmenden Thema der indischen Politik. Der Grundgedanke der Quotenpolitik kann durchaus als zentristisch bezeichnet werden, da sie darauf abzielte, einer Reihe von marginalisierten Gruppen – die zusammengenommen einen beträchtlichen Anteil der Bevölkerung ausmachen – die Möglichkeit zu geben, mit der Mehrheit zu konkurrieren. Die Quoten wurden von vielen als Verbesserung angesehen, eröffneten den Populisten jedoch auch zahlreiche Möglichkeiten, die Begünstigten des Systems entweder anzugreifen oder zu verteidigen.

Die ersten Jahre von Modis Amtszeit in Gujarat waren geprägt von Unruhen zwischen Hindus und Muslimen.

Die 1990er-Jahre waren das Jahrzehnt der Koalitionspolitik in Indien. Die Regionalparteien gewannen zunehmend an Bedeutung, während die großen Parteien INC und BJP es nicht schafften, allein zu regieren. Der INC befand sich in diesem Jahrzehnt eindeutig im Niedergang, während die BJP zwar auf dem Vormarsch war, aber noch nicht klar dominierte. Die BJP gewann 1996 die Oberhand über den INC, brauchte aber Bündnispartner, um in den Jahren 1996, 1998 und 1999 die Regierung zu bilden. Die Abhängigkeit der BJP von ihren Bündnispartnern, von denen die meisten ihre hinduistische Mehrheitsideologie ablehnten, zwang die Partei zu einer gemäßigteren Haltung. Nachdem sie ihre ideologische Position abschwächte, gelang es ihr schließlich, von 1999 bis 2004 eine Regierung mit voller Amtszeit zu führen. In diesem Jahrzehnt wurde nicht nur der Aufstieg der Hindutva-Bewegung innerhalb der BJP eingedämmt, die eine Hinduisierung des Staates und all seiner kulturellen und sozialen Bereiche anstrebt, sondern es war auch ein Beispiel dafür, wie die indische Politik wieder zu einem zentristischen Ansatz zurückfinden kann.

Die Ära der Koalitionspolitik setzte sich fort, als der INC die BJP wieder überholte und von 2004 bis 2014 zwei Legislaturperioden lang eine Regierung unter der Bezeichnung United Progressive Alliance (Vereinigte Progressive Allianz, UPA) führte. In dieser Zeit erlebte die BJP einen strukturellen und politischen Niedergang. Die Niederlagen bei den Parlamentswahlen 2004 und 2009 zwangen zwei ihrer führenden Köpfe in den einstweiligen Ruhestand. Das dadurch entstandene Vakuum füllte der damalige Chief Minister (CM) der BJP im Bundesstaat Gujarat, Narendra Modi.

Die ersten Jahre von Modis Amtszeit als CM waren geprägt von den Unruhen zwischen Hindus und Muslimen in Gujarat im Jahr 2002. Obwohl die Unruhen sein Image stark belasteten, gelang es ihm durch Hartnäckigkeit und geschickte politische Manöver, in den Reihen der BJP und des RSS aufzusteigen und den Bundesstaat zwölf Jahre lang zu regieren. Ein polarisierender Populismus war zwar einer der wichtigsten Gründe für Modis Wiederwahl, doch richtete er sein politisches Profil auch ganz bewusst auf die Themen Entwicklung und Fortschritt aus.

Modis Aufstieg in der BJP und im ganzen Land verlief parallel zur sinkenden Zustimmung zur UPA-Regierung, insbesondere in deren zweiter Amtszeit (2009 bis 2014). Finanzskandale, Sorgen um die innere Sicherheit und weitverbreitete Proteste drängten die Regierung in die Enge und ließen den Ruf nach Veränderungen laut werden. In dieser Situation erwies sich Modi als der richtige Mann zur richtigen Zeit: Seine Bilanz in Gujarat und sein öffentliches Auftreten stellten praktisch alle anderen Führungsfiguren in der BJP und in ganz Indien in den Schatten. Modi und die BJP waren sich jedoch darüber im Klaren, dass ihr Aufstieg nicht auf ihre Ideologie, sondern auf ihr Engagement für Entwicklung und ihre allgemeinen Zielsetzungen zurückzuführen war. Daher konzentrierten sie sich in erster Linie auf den Ansatz eines entwicklungsorientierten und aufstrebenden Indiens – nicht allzu weit entfernt von Nehrus ursprünglichen Ideen, aber mit dem deutlichen Unterschied, dass die Ideologie des Hindu-Nationalismus der Partei wieder zum Tragen kam.

Der Hindu-Nationalismus kann als ein Überbau für verschiedene andere Politiken verstanden werden.

 

Das populistische Programm der BJP

Für die Zeit zwischen 2014 und 2024 lässt sich die populistische Politik der BJP unter drei Aspekten betrachten: erstens die aktive Ausrichtung der BJP auf die politisch aufstrebenden marginalisierten Schichten als Angriff auf die politische Elite, die in der Wahrnehmung vieler vom INC dominiert wurde und die den Kontakt zu den einfachen Menschen verloren hatte. Zweitens eine auf bestimmte Wählerschichten angepasste Wohlfahrtspolitik. Und drittens eine soziale und religiöse Polarisierung, die eine klare Trennlinie zieht zwischen hinduistischen und muslimischen Gruppen. Der Hindu-Nationalismus wiederum kann als Überbau verstanden werden, in dem verschiedene andere Politiken ihren Platz finden. Er wird durch die ständige Beschwörung der großen alten Zivilisation Indiens genährt sowie durch eine Verurteilung der Zeiten, in denen das Land unter dem Joch ausländischer Invasoren gestanden habe, zu denen nach dem Verständnis der BJP sowohl die britischen Kolonialherren als auch die muslimischen Moguln gehören. Die Ausdrucksformen des Hindu-Nationalismus sind vor allem sozialer und kultureller Natur, da ihre Befürworter Spannungen zwischen Hindus und Muslimen in allen Bereichen des Lebens schüren – von interreligiösen Ehen über die Auswahl von Lebensmitteln bis hin zu religiösen Praktiken. Sie erreichten im Januar 2024 einen Höhepunkt, als der Bau des lang versprochenen Tempels zu Ehren des Gottes Ram endlich abgeschlossen wurde. Die BJP wollte mit der Einweihung des Tempels die Hindus im ganzen Land dazu bewegen, die Partei bei den nationalen Wahlen zu unterstützen.

Die neue Wohlfahrtspolitik Modis ist kein Erfolgsgarant für die BJP, da sie in allen Bundesstaaten kopiert wird.

Die Unterstützung der BJP kam traditionell aus der reicheren, städtischen Mittelschicht und der oberen Kaste der Bevölkerung. Diese Basis hat für die BJP jedoch nie ausgereicht, um allein die Regierung zu stellen. Seit 2014 versucht die BJP, in der marginalisierten und ländlichen Bevölkerung Fuß zu fassen. Zu den marginalisierten Bevölkerungsgruppen gehören die nicht den oberen Kasten angehörenden Menschen und die Stammesbevölkerung, die seit den 1990er-Jahren durch ihre regionalen Hochburgen und die sie vertretenden politischen Parteien eine starke politische Dynamik entwickelt haben. Aufgrund ihrer historischen Kämpfe gegen die dominante Bevölkerung der oberen Kasten sind sie traditionell keine BJP-Wähler. Die BJP versucht jedoch, dieser Haltung zu begegnen: mit einer Politik, die Aufstiegsmöglichkeiten schafft, und mit dem Hindu-Nationalismus. Erstgenanntes legt den Schwerpunkt auf Ankurbelung des Wirtschaftswachstums und Verbesserung der Lebensbedingungen durch Schaffung von Arbeitsplätzen.

Diese Politik des nationalen und individuellen Aufstiegs wurde mit einer kräftigen Dosis Wohlfahrtsstaat kombiniert – zuvor in erster Linie ein Instrument der politischen Mitte, da sich Wohlfahrtsprogramme an die gesamte Bevölkerung richten. Dieses Instrument kann jedoch auch populistische Züge annehmen, wenn es auf bestimmte Wählergruppen ausgerichtet wird oder so umfassend ist, dass es fast alles andere in den Hintergrund drängt.

Wohlfahrtsprogramme sind in Indien keineswegs neu: Arbeitsplatzgarantien und ein Fokus auf die Bereitstellung öffentlicher Güter wie Gesundheit und Bildung waren stets Thema. Aber unter Modi und seiner BJP hat der Wohlfahrtsgedanke eine neue Wendung genommen. Ihr „New Welfarism“ („neue Wohlfahrtspolitik“) beinhaltet die subventionierte öffentliche Bereitstellung von wesentlichen Gütern und Dienstleistungen, die normalerweise vom Privatsektor erbracht werden, wie Bankkonten, Kochgas, Toiletten, Strom, Wohnraum und neuerdings auch Wasser oder ganz einfach bares Geld. In den vergangenen zehn Jahren hat Modis Regierung den Mechanismus des Direct Benefit Transfer (DBT, „direkter Sozialleistungstransfer“) eingeführt, um mehr als 300 Milliarden Euro an Sozialleistungen an die Bevölkerung zu verteilen. Diese neue Wohlfahrtspolitik, die auf positive Resonanz gestoßen ist, ist jedoch keine Garantie für einen anhaltenden Erfolg Modis und seiner BJP, da sie inzwischen von verschiedenen anderen politischen Parteien in allen indischen Bundesstaaten kopiert wird.

Die BJP hat die Opposition ins Visier genommen, indem sie sie als Teil eines Elitensystems darstellt.

Die Verbindung von Aufstiegsversprechen und Wohltätigkeit ist ein bewusster Versuch, die festgefügten Kasten- und Klassengrenzen zu verwischen und das Bild einer größeren Hindu-Wählerfamilie zu fördern. Durch den im Hintergrund allgegenwärtigen Hindu-Nationalismus kann die BJP ihre traditionellen Wähler aus der städtischen Mittelschicht und den oberen Kasten relativ leicht halten. Diese Bevölkerungsgruppe verlangt nicht nach einer ambitionierten Politik für das tägliche Leben, sondern nach einem übergreifenden Ziel für die Inder, die indische Nation und nicht zuletzt für die Hindus im Allgemeinen. Das Leitmotiv der BJP ist ganz einfach: die Stärkung der Mehrheit, die nach Ansicht der Partei seit Jahrzehnten benachteiligt worden ist. Die BJP hat die Opposition und insbesondere den INC ins Visier genommen, indem sie sie als Teil eines Elitensystems darstellt, das einen „Pseudo-Säkularismus“ fördere, indem es angeblich nur Minderheiten (sprich Muslime) begünstige und die hinduistische Mehrheit im Land vernachlässige.

 

Wird Indien unter Modi 3.0 zu einer moderateren Politik zurückkehren?

Indien hat seit seiner Unabhängigkeit einen weiten Weg zurückgelegt und ein Großteil seines Erfolges ist auch auf eine gemäßigte politische Agenda zurückzuführen, die im Wesentlichen auf wirtschaftlicher Entwicklung beruht. Unter Modis Regierung hat Indien bedeutende wirtschaftliche Fortschritte gemacht, gleichzeitig ist aber im Land auch eine stärkere soziale und politische Polarisierung entstanden.

Das Wechselspiel zwischen einer zentristischen Tradition einerseits und populistischen Vorstößen zu zahllosen Themen andererseits macht die Situation in Indien faszinierend und herausfordernd zugleich. Kaste, Klasse, Religion, Sprachen und Kulturen bilden seit den Anfängen Indiens das Grundgefüge. Dies wird den meisten populistischen Tendenzen im öffentlichen Leben weiterhin einen Nährboden bieten. Die Herausforderung besteht darin, den ausgrenzenden Charakter des Populismus zu bekämpfen, der in den vergangenen zehn Jahren immer deutlicher zutage getreten ist. Der Populismus, der in Indien die Gesellschaft aufgrund religiöser Identitäten polarisiert, Menschen als nationalistisch oder antinational abstempelt, Kritikern der herrschenden Eliten grundlegende Menschenrechte verweigert und die Funktionsweise von Medien, Legislative und Justiz geschwächt hat, muss in Schach gehalten werden, um der Gefahr einer dauerhaften Erosion der Demokratie entgegenzuwirken.

Die Ergebnisse der diesjährigen Parlamentswahlen könnten eine Rückkehr zu einer Politik der Mitte ermöglichen, da die BJP weitaus weniger Mandate erhalten hat als angestrebt. In ihrer dritten Amtszeit in Folge ist sie auf Koalitionspartner mit unterschiedlichen ideologischen Standpunkten angewiesen, um die Regierung zu führen. Daher ist zu erwarten, dass eine geschwächte BJP nicht mehr in der Lage sein wird, ihre Politik im Parlament mit der gleichen Dominanz durchzusetzen, und dass sie in ihren politischen Botschaften einen versöhnlicheren Ton anschlagen wird. Nach einem Wahlkampf, der von einer starken Polarisierung geprägt war, wird die Opposition ihre neu gewonnene Stärke im Parlament nutzen, um die Regierung mit politischen Inhalten he­rauszufordern.

Das vergangene Jahrzehnt war geprägt von einer Diskrepanz zwischen einer erfolgreichen zentristischen Wirtschaftsagenda und einem ausgrenzenden Kurs im sozialen, religiösen und kulturellen Bereich. Während die BJP und ihre Koalitionspartner Indien in die nächste Etappe einer beeindruckenden Entwicklungsgeschichte führen, könnte eine gründlichere Bewertung des gesamten sozialen Gefüges des Landes sehr hilfreich sein. Eine zentrale Aufgabe für die kommenden Generationen wird darin bestehen, die Bedürfnisse und Anliegen der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen in Einklang zu bringen, anstatt eine ideologische Vormachtstellung für eine von ihnen zu beanspruchen.

 

– übersetzt aus dem Englischen –

 


 

Lewe Paul ist Referent für Südasien bei der Konrad-Adenauer-Stiftung.

 


 

Ashutosh Nagda ist Bundeskanzler-Stipendiat der Alexander von Humboldt-Stiftung.

 

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