Ausgabe: 2/2024
Es war ein Paukenschlag mit Ansage: Ein sogenannter Ausgleichszoll von bis zu 37,6 Prozent wird für Hersteller batterieelektrischer Fahrzeuge (BEV) aus der Volksrepublik China seit dem 5. Juli 2024 in Form von Bankgarantien fällig, wenn sie ihre Autos in die Europäische Union einführen wollen. Ausgleichen sollen diese Zölle den unlauteren Wettbewerbsvorteil, den die Hersteller nach Ansicht der Europäischen Kommission dank chinesischer staatlicher Subventionen genießen. Die Kommission bediente sich damit ihres geoökonomischen Instrumentenkastens, den sie in den vergangenen Jahren unter dem Eindruck einer sich verändernden weltpolitischen Lage großzügig gefüllt hatte.
Die Reaktionen auf die Entscheidung der Kommission waren gemischt: Während bei einer vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW Köln) durchgeführten Befragung mit acht von zehn Firmen eine deutliche Mehrheit der Unternehmen die angekündigten Maßnahmen befürwortete, warnten viele Beobachter vor chinesischen Gegenmaßnahmen und einem Handelskrieg. Kurzfristig hat die europäische Machtdemonstration aber zumindest insofern Erfolg gehabt, dass bereits zehn Tage, nachdem Brüssel die Zölle am 12. Juni 2024 angekündigt hatte, Verhandlungen zwischen der Europäischen Union und China vereinbart wurden, um doch noch eine einvernehmliche Lösung zu finden. Zunächst wird China jedoch mit eigenen Maßnahmen reagieren. Inwieweit der befürchtete Handelskrieg sich dann tatsächlich manifestiert, wird die Zeit zeigen. Einstweilen hat Europa aber allen Unkenrufen zum Trotz Handlungsfähigkeit auf dem geoökonomischen Parkett bewiesen.
Die neue geopolitische Realität
Ende 2019 hatte Ursula von der Leyen noch für Verwunderung gesorgt, als sie zu Beginn ihrer ersten Amtszeit als Kommissionspräsidentin verkündete, eine „geopolitische Kommission“ anführen zu wollen. Globale Machtpolitik sollte fortan auch aus Brüssel heraus betrieben werden und nicht mehr nur in den Hauptstädten von Mitgliedstaaten. Auch wenn seinerzeit noch nicht ganz klar war, was diese Ankündigung in der Praxis konkret bedeutet, hat die neue geopolitische Realität schnell gezeigt, dass die Europäische Union nicht umhinkommt, ihr auswärtiges Handeln stärker an machtpolitischen Interessen auszurichten und dafür womöglich auch ökonomische Instrumente in den Blick zu nehmen.
Hitzig wurde etwa in Deutschland nach Russlands Angriff auf die Ukraine auch ein Gasembargo diskutiert, mit dem eine wichtige russische Einnahmequelle zur Finanzierung des Krieges getroffen werden sollte. Im Kern drehte sich die Debatte dabei um die Abhängigkeit der Energieversorgung in Deutschland von Gasimporten aus Russland. Es stellte sich die Frage: Sind wir überhaupt in der Lage, diesen Trumpf zu spielen? Oder schaden wir uns am Ende selbst mehr als dem Gegenüber? Beendet wurde die Diskussion schließlich durch Russland selbst, das die Gaslieferungen nach Deutschland erst drosselte und schließlich ganz einstellte.
Doch schon vor dem russischen Überfall auf die Ukraine und den damit verbundenen Debatten über Gasabhängigkeiten war die Frage der wirtschaftlichen Resilienz, also der Widerstandsfähigkeit einer Volkswirtschaft, infolge vielfältiger Störungen der Wertschöpfungsketten stärker in das Bewusstsein der Politik und Öffentlichkeit getreten. So haben leere Regale als Folge der Corona-Pandemiebekämpfung sowie Lieferengpässe aufgrund der Blockade des Suezkanals durch die Havarie des Containerschiffes Ever Given im März 2021 die Verwundbarkeit globaler Lieferketten aufgezeigt. In Zeiten, in denen Just-in-time-Produktion mit kleinstmöglicher Lagerhaltung zum Standard geworden war, hatten diese Störungen weitreichende Konsequenzen. Auch in Zukunft wird es immer wieder zu Störungen von Lieferwegen kommen. Die Auswirkungen des Klimawandels fügen dabei nur eine weitere „Fehlerquelle“ hinzu, wie erst kürzlich eine Dürre in Zentralamerika zeigte, die die Kapazität des Panamakanals zeitweise um 40 Prozent reduzierte. Lange Wartezeiten und Umwege mit entsprechenden Verspätungen im Zielhafen waren die Folge.
Messen lassen muss sich die Resilienz einer Volkswirtschaft aber mehr denn je auch an der Reaktionsfähigkeit auf geoökonomische Angriffe, wie das Beispiel des abgedrehten russischen Gashahns im Jahr 2022 zeigt. Ganz neu ist dieses Phänomen zwar nicht, man denke an den Konflikt um Seltene Erden zwischen Japan und China ab 2010. Unbestritten ist jedoch, dass die geopolitischen Spannungen zunehmen und potenzielle Konflikte mit europäischer Beteiligung zumindest wahrscheinlicher werden.
Dabei ist zu bedenken, dass trotz dieser schockartigen Krisen der globale Handel – zumindest vorerst – unbeeindruckt weiterwächst. Es findet mitnichten eine De-Globalisierung statt, wie von manch einem Beobachter noch in der Hochphase des Corona-Schocks prognostiziert wurde. Was jedoch stattfindet, ist eine Neuordnung der Globalisierung, also eine Re-Globalisierung, bei der verschiedene Prozesse parallel zueinander stattfinden: Fragmentierung, Regionalisierung, Diversifizierung.
De-Risking als Gebot der Stunde
Das Schlagwort schlechthin in diesen Zeiten der Re-Globalisierung ist De-Risking. Ursprünglich stammt der Begriff aus der Finanzwelt. Dort beschreibt er das Beenden oder Einschränken von Geschäftsbeziehungen durch Finanzinstitute zu bestimmten Kunden oder Kundengruppen, um Risiken auszuschließen („avoid, rather than manage, risk“). Beim „neuen“ De-Risking im geoökonomischen Kontext geht es zwar auch um das Reduzieren von Risiken in Wirtschaftsbeziehungen, jedoch ohne die Beziehungen ganz abzubrechen.
Abb. 1: Weltweites Volumen des Warenhandels 1948 bis 2023 (in Milliarden US-Dollar)
Quellen: eigene Darstellung nach Statista 2024: Entwicklung der weltweiten Exporte im Warenhandel von 1948 bis 2023 (in Milliarden US-Dollar), 10.04.2024, in: https://ogy.de/ngou [11.07.2024].
Reduziert werden sollen insbesondere Abhängigkeiten in Wertschöpfungsketten, die von Dritten zur Erreichung geopolitischer Ziele ausgenutzt werden könnten. Nun sind Abhängigkeiten im wirtschaftlichen Bereich nicht per se etwas Schlechtes. Ganz im Gegenteil: Das Konzept der globalen Arbeitsteilung beruht eben darauf, dass nicht jede Wirtschaftseinheit die gesamte Wertschöpfungskette in einer Hand hält. Durch Austausch und Spezialisierung entsteht ein Mehrwert für alle Seiten, entsteht eine gewollte Abhängigkeit zum gegenseitigen Nutzen. Es ist davon auszugehen, dass die dezentrale spontane Ordnung dieser vielfältigen Abhängigkeiten durch die Marktakteure effizienter herbeigeführt werden kann, als dies eine zentrale staatliche Koordinierung jemals gewährleisten könnte.
Dennoch kann es zu kritischen und damit potenziell gefährlichen Abhängigkeiten kommen, die ein staatliches Eingreifen erforderlich machen. Die Gefahr erwächst, da in Zeiten zunehmender geopolitischer Fragmentierung andere Staaten Abhängigkeiten ausnutzen könnten, um machtpolitische Interessen zu verfolgen, beispielsweise indem sie schockartige Unterbrechungen von Lieferbeziehungen provozieren. In besonderem Fokus stehen dabei Abhängigkeiten von China. Deutschlands Industrie ist wie keine andere in Europa auf China angewiesen, sowohl aufgrund des Imports von Rohstoffen und Vorprodukten als auch als Absatzmarkt.
Abb. 2: Handelsvolumen weltweit für Dienstleistungen 2005 bis 2022 (in Millionen US-Dollar)
Quellen: eigene Darstellung nach Statista 2023: Entwicklung der weltweiten Exporte von Dienstleistungen im Zeitraum 2005 bis 2022 (in Millionen US-Dollar), 16.08.2023, in: https://ogy.de/wtm7 [11.07.2024].
Auf den ersten Blick wirkt die Abhängigkeit von China nicht allzu groß, vereint die Volksrepublik doch lediglich neun Prozent des deutschen Außenhandels auf sich. Auf den zweiten Blick fallen jedoch Abhängigkeiten ins Auge, die sich über längere Zeiträume verfestigt haben, bei denen ein Ausfall der Lieferbeziehungen weitreichende (nicht nur wirtschaftliche) Folgen hätte und die sich nicht ohne Weiteres substituieren lassen. Diese wirklich kritischen Abhängigkeiten betreffen jedoch viel weniger Importe als gemeinhin angenommen und umfassen insbesondere pharmazeutische Produkte und einige Rohstoffe wie Scandium, Yttrium, Graphit, Germanium und Magnesium.
Wie darauf reagiert werden sollte, wird leidenschaftlich diskutiert. Das sogenannte Nearshoring, bei dem die einzelnen Produktionsschritte geografisch wieder näher zusammenrücken, mag ein nachvollziehbarer Ansatz zu Beginn der oben skizzierten Polykrise gewesen sein, bei der durch die Folgen der Pandemiebekämpfung und die Blockade des Suezkanals Störungen entlang der Lieferketten eher unfallartig und ohne politische Einflussnahme auftraten. Gegen geopolitisch motivierte und mutwillige Störungen hilft ein solcher Ansatz jedoch nicht.
Schnell tauchte daher in der Debatte als Antwort auf diese neue Gefahr das „Friendshoring“ auf, bei dem anstelle der Reduzierung geografischer Distanzen möglichst geringe geopolitische Distanzen eine Lösung darstellen sollen. Doch zur Wahrheit gehört: Eine vermeintlich schöne neue Welt, in der wir nur noch Handel mit gleichgesinnten Wertepartnern treiben, wäre nicht nur sehr klein, sondern auch vom Angebot her sehr begrenzt. Zweckmäßiger erscheint daher eine Mischung aus größerer Lagerhaltung, um kurzfristige Störungen der Lieferketten zu überbrücken, sowie einer stärkeren Diversifizierung von Bezugsquellen, um die Abhängigkeit von einzelnen Ländern mittel- bis langfristig zu reduzieren.
Strukturelle Herausforderungen für Unternehmen
Adressat all solcher Überlegungen sind in einer Sozialen Marktwirtschaft zunächst die Unternehmen. Für sie ist das Bewerten von Risiken in ihren Produktionsprozessen immer eine wichtige Aufgabe. Jede Absicherung gegen Risiken ist jedoch mit Kosten verbunden, ob durch größere Lagerhaltung oder die Diversifizierung von Lieferbeziehungen. Aus betriebswirtschaftlicher Sicht ist wichtig, dass die Kosten für die Absicherung gegen ein bestimmtes Risiko stets in Relation zum potenziellen Schaden stehen. In diesem Sinne funktioniert das De-Risking wie eine klassische Versicherung: Man zahlt eine Prämie (Kosten für das De-Risking), um sich gegen ein Schadensereignis (Störung der Lieferbeziehungen) abzusichern. Problematisch ist hierbei jedoch, dass die Eintrittswahrscheinlichkeit insbesondere bei geopolitischen Risiken nicht berechnet werden kann. Daher kann man sich auf dem freien Markt in der Regel nicht gegen Schäden aufgrund von derart verursachten Betriebsunterbrechungen absichern.
Für Unternehmen ist es somit eine enorme Herausforderung, das richtige Maß an De-Risking zu ermitteln. In einem wettbewerbsintensiven Umfeld ist es nicht verwunderlich, wenn Unternehmen zusätzliche Kosten, die sich unmittelbar auswirken, im Zweifel vermeiden, wenn sie den mittel- bis langfristigen Nutzen nicht mit Sicherheit einschätzen können. Tendenziell ist daher zu erwarten, dass sich Unternehmen weniger gegen geopolitische Risiken absichern, als es gesamtgesellschaftlich geboten wäre. Dies gilt umso mehr, wenn Unternehmen aufgrund von Erfahrungen davon ausgehen, dass sie bei größeren Verwerfungen durch staatliche Unterstützungen aufgefangen werden. Die Kosten werden somit – mitunter politisch gewollt – vom Unternehmen auf die zukünftigen Steuerzahler abgewälzt, die den zusätzlichen Schuldendienst des Staates finanzieren müssen.
Für Unternehmen kommt erschwerend hinzu, dass bei einer monopolartigen Anbieterstruktur eine Diversifizierung der Lieferbeziehungen für einzelne Abnehmer schlicht nicht möglich ist. Insbesondere bei der Weiterverarbeitung strategischer Rohstoffe hat China eine Marktmacht erreicht, zu der noch keine Alternative aufgebaut werden konnte. Die Nachfrage nach Batterie-Rohstoffen für die Energie- und Mobilitätswende sowie für die fortlaufende Digitalisierung der Gesellschaft wird diese Abhängigkeiten noch weiter verschärfen, da China hier der marktdominierende Akteur ist.
Die Diversifizierungsbemühungen deutscher Unternehmen im Sinne eines De-Risking von China ergeben daher ein gemischtes Bild: Zwar sind 2023 nur 37 Prozent der deutschen Unternehmen auf Vorprodukte aus China angewiesen, vor Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine lag der Wert noch bei 46 Prozent. Gleichzeitig hat sich aber auch die Zahl der Unternehmen reduziert, die ihre Abhängigkeit weiter herunterfahren wollen. Stellenweise haben sich Importabhängigkeiten sogar vergrößert, weil beispielsweise in der Chemiebranche manche Vorprodukte wegen der gestiegenen Energiepreise hierzulande gar nicht mehr hergestellt werden. Jürgen Matthes vom IW Köln fasste die Erkenntnisse kürzlich so zusammen: „Auf dieser Basis ist im Jahr 2023 kaum ein strukturelles importseitiges De-Risking zu erkennen, obwohl die gesamten deutschen Einfuhren aus China um fast ein Fünftel gesunken sind.“
Zum Teil hängt die fehlende Sichtbarkeit unternehmerischer Diversifizierungsbemühungen auch damit zusammen, dass im Sinne eines „Local-for-local“-Ansatzes Wertschöpfungsketten zunehmend regional und weniger global gedacht werden. Auf diese Weise soll Vorsorge getroffen werden – sowohl gegen Unterbrechungen von Lieferwegen als auch gegen protektionistische Handelsbeschränkungen, die zunehmend von Staaten als geoökonomisches Machtinstrument genutzt werden. Produkte für den chinesischen Markt werden dann gemäß dieses Ansatzes möglichst gänzlich vor Ort gefertigt, Produkte für den nordamerikanischen Markt wiederum dort und so weiter. Dies führt dazu, dass in der Umstellungsphase vermehrt Investitionen beispielsweise in China erfolgen, um die entsprechenden Wertschöpfungsketten vor Ort aufzubauen. Der Vorstandsvorsitzende von Mercedes-Benz, Ola Källenius, drückte die Prioritätensetzung seines Unternehmens in der jüngeren Vergangenheit pointiert aus, indem er feststellte, dass De-Risking für Mercedes mehr China bedeute und nicht weniger.
Staat: Bitte übernehmen?!
Wenn nun also eine dezentrale Risikominimierung durch die Unternehmen aufgrund struktureller Herausforderungen hinter dem – volkswirtschaftlich gesehen – gesamtgesellschaftlichen Optimum zurückbleibt, scheint eine zentrale staatliche Koordinierung geboten. Und in der Tat kann der Staat durch klug gestaltetes De-Risking das Dilemma für die Unternehmen auflösen und die Wettbewerbsfähigkeit der eigenen Volkswirtschaft langfristig sichern. Entscheidend dafür ist aber, dass die Politik sich der eigenen Möglichkeiten und Limitationen bewusst ist.
Denn auch für politische Entscheidungsträger ist es aufgrund von Informationsdefiziten schwer einzuschätzen, wie weitreichend De-Risking konkret betrieben werden muss, um das gesellschaftlich optimale Maß zu erreichen. Analog zu den Unternehmen, die durch eigene De-Risking-Bemühungen kurzfristig höhere Kosten in Kauf nehmen müssen, droht der Gesellschaft durch zentral koordinierte De-Risking-Maßnahmen zunächst einmal ein Verlust an Wohlstand. Und auch wenn diese kurzfristigen Wohlstandsverluste natürlich etwaigen mittel- bis langfristigen positiven Effekten gegenübergestellt werden müssen, führt die Unsicherheit zu Kalkulationsproblemen. Hinzu kommt, dass staatliche Entscheidungsträger die entstehenden Kosten nicht selbst tragen, sondern sie anderen Akteuren aufbürden – entweder als direkte Kosten in Form von Steuern, Abgaben und zusätzlichem Erfüllungsaufwand oder indirekt über eine höhere Verschuldung. Schnell kann es daher passieren, dass staatlich koordiniertes De-Risking zu weitreichend betrieben wird und die gesamtgesellschaftlichen Kosten somit höher liegen als der potenzielle Schaden, gegen den man sich absichern möchte. Dies sollte die Politik vermeiden.
Denn wir können uns diesen Wohlstandsverlust nicht leisten, unter anderem weil wir als alternde Gesellschaft, in der die Produktivität stagniert, nicht auf liebgewonnene Sozialleistungen verzichten wollen. Darüber hinaus verursacht die notwendige Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft hin zu Klimaneutralität (zumindest kurz- bis mittelfristig) enorme Ausgaben, die auch erwirtschaftet werden müssen.
Trotz aller Hürden und Risiken führt allerdings kein Weg vorbei an der strategischen Nutzung geoökonomischer Instrumente, von denen De-Risking nur ein Baustein ist. Und da weite Teile der Außenwirtschaftspolitik ausschließlich in den Zuständigkeitsbereich der Europäischen Union fallen, obliegt die konkrete Ausgestaltung geoökonomischer Instrumente der europäischen Ebene. Hier wurde jüngst der entsprechende Instrumentenkasten großzügig gefüllt. Mehr als 20 unterschiedliche Werkzeuge und Strategien sind dort zwischenzeitlich zusammengekommen, die sich in drei Kategorien aufteilen lassen:
- Instrumente zur Sicherstellung eines fairen Wettbewerbs mit Drittstaaten, wie beispielsweise die Anti-Subventionsuntersuchung, die nun zu den eingangs erwähnten Ausgleichszöllen für chinesische Elektroautos geführt hat;
- Instrumente der EU zur Verbindung der wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Bereiche: das Anti-Coercion-Instrument gegen wirtschaftlichen Zwang durch Drittstaaten, Screening ausländischer Investitionen in Europa, Exportkontrollen und Screening europäischer Investitionen in Drittstaaten;
- EU-Strategien zur Unterstützung der geoökonomischen Agenda, darunter der Cybersecurity Act, der Market Emergency and Resilience Act, das wissenschaftliche Forschungsrahmenprogramm Horizon, der European Chips Act oder der Net Zero Industry Act.
Diese Auflistung lässt erahnen, wie komplex die Umsetzung einer geoökonomischen Agenda ist. Und es zeigt sich insbesondere eine Tendenz zu einer sehr hohen Regelungsdichte, bei der so manche Vorschrift gleich den Bedarf für die nächste Regulierung schafft. Das Resultat ist im schlimmsten Fall ein politischer Flickenteppich.
Das kleinteilige Potpourri an unterschiedlichen Instrumenten und Strategien, mit denen die Europäische Union geoökonomische Handlungsfähigkeit sicherstellen möchte, wirft die Frage auf: Wann überschreitet der Staat die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit? Die breit gefächerten Zuständigkeiten, die mal bei den Mitgliedstaaten, mal bei der Kommission – dort je nach Maßnahme entweder bei der Generaldirektion Handel (DG Trade), der Generaldirektion Binnenmarkt, Industrie, Unternehmertum und KMU (DG Grow), der Generaldirektion Wettbewerb (DG Comp) – oder dem Europäischen Auswärtigen Dienst (EEAS) liegen, befördern zusätzlich die Gefahr der staatlichen Selbstüberforderung. Gerade weil sich kritische Abhängigkeiten auf wenige Produkte beschränken, erscheinen weniger und dafür passgenauere Instrumente geboten.
Es wäre mehr als nur ein Kollateralschaden, wenn aus zu ambitionierter Regelungsfreude neben den kritischen Abhängigkeiten auch unkritische wirtschaftliche Austauschbeziehungen in Mitleidenschaft gezogen würden. Es nützt wenig, Dumping aus China zu kritisieren, wenn es Produkte betrifft, die sich dort auch ohne staatliche Zuschüsse günstiger produzieren lassen als hierzulande. Ein Wegfall oder auch nur eine künstliche Verteuerung dieser günstigen Importe würde inflationstreibend wirken und die Umsetzung der Energie- und Mobilitätswende weiter verzögern.
Die eigene wirtschaftliche Stärke in den Blick nehmen
Entscheidend für die erfolgreiche Umsetzung einer geoökonomischen Agenda ist in jedem Fall, die europäische und deutsche Wettbewerbsfähigkeit in den Fokus zu rücken. Denn eigene Stärke ist das beste Mittel für mehr Resilienz. Dazu sollten die Innovationsfähigkeit gestärkt und Schwächen bei der Finanzierung von Unternehmensgründungen adressiert werden, beispielsweise durch das Ermöglichen von Investitionen durch öffentlich-rechtliche institutionelle Anleger in Risikokapital und eine steuerliche Besserstellung von unternehmerischen Investitionen in Forschung und Entwicklung.
Weiterhin muss die europäische Handelspolitik wieder funktional gestaltet werden, damit sich unternehmerische Diversifizierung möglichst ungestört entfalten kann. Aktuell ist die europäische Handelspolitik an fast allen Fronten dysfunktional. Dass die Verhandlungen mit Australien scheitern, mit dem MERCOSUR faktisch in einer Sackgasse stecken, die Ratifizierung von CETA und auch ein Abkommen mit den Vereinigten Staaten (erst recht bei einer zweiten Amtszeit Donald Trumps) aktuell nicht absehbar sind, ist schon eine handelspolitische Katastrophe. Dass dies in einer Zeit geschieht, in der eigentlich durch eine stärkere Kooperation mit Gleichgesinnten, sogenannten like-minded countries, Risiken minimiert werden sollen, macht das Scheitern ausgerechnet bei ebenjenen Gleichgesinnten unentschuldbar. Europa droht, den Anschluss an die Welt zu verlieren, das können auch noch so viele geoökonomische Instrumente nicht ausgleichen.
Zu viele handelsferne Themen wurden im Laufe der Zeit mit in die Handelsgespräche aufgenommen, bei denen die Interessen unserer potenziellen Partner so sehr abweichen, dass erfolgreiche Abschlüsse verhindert werden. Und zu wenig sind wir bereit anzuerkennen, dass für viele potenzielle Partner unsere wettbewerbsverzerrend geschützten Agrarmärkte ein großes Ärgernis darstellen. Hier sollte ein Umdenken erfolgen, um Europa für die Zukunft zu wappnen. In jedem Fall sollten die Handelsgespräche weniger umfassend geführt werden, sodass am Ende „EU-only“-Abkommen stehen, bei denen die Zustimmung der Mitgliedstaaten für ein vollständiges Inkrafttreten nicht notwendig ist.
Im Gegensatz zu „EU-only“-Abkommen werden aktuell umfassende Abkommen verhandelt, die nicht nur Bereiche ausschließlicher EU-Zuständigkeit betreffen, sondern auch Zuständigkeitsbereiche der Mitgliedstaaten. Diese sogenannten gemischten Abkommen müssen daher nicht nur auf EU-Ebene, sondern auch von den Mitgliedstaaten selbst ratifiziert werden, damit sie vollständig in Kraft treten können. Dies ist zu einem Bremsklotz für Europa geworden.
Deutschland und die Europäische Union sollten Regulierungen dahingehend prüfen, inwieweit diese mit den Zielen von De-Risking und Diversifizierung harmonieren. Das deutsche Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz und die europäische Lieferkettenrichtlinie (Corporate Sustainability Due Diligence Directive, CSDDD) beispielsweise erschweren Diversifizierung und verfestigen damit die dominante Rolle Chinas. Politik aus einem Guss sieht anders aus.
Es ist richtig und wichtig, dass der Staat Risiken in den Blick nimmt, die unsere Handlungsfähigkeit gefährden könnten. Dabei darf er aber nicht über das Ziel hinausschießen: Wenn immer mehr Details reguliert und unternehmerische Entscheidungen immer stärker gelenkt werden, wird die Funktion des freien Wettbewerbs als Entdeckungsverfahren in Mitleidenschaft gezogen – und damit die größte wirtschaftspolitische Stärke, die wir als freie Gesellschaft zu bieten haben. Unsere Stärke und Innovationsfähigkeit sollten jedoch immer das Maß der Dinge sein. Denn nur durch eigene Stärke können wir sicherstellen, dass Abhängigkeiten gegenseitig wirken und nicht gegen uns eingesetzt werden können.
Gunter Rieck Moncayo ist Referent für Wirtschaft und Handel in der Hauptabteilung Analyse und Beratung der Konrad-Adenauer-Stiftung.
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