Ausgabe: 2/2024
Die Bundesregierung strebt im Rahmen ihrer China-Strategie ein wirtschaftliches De-Risking, also eine Reduktion der wirtschaftlichen Abhängigkeiten, von China an. Kernbestandteil dieses Vorhabens ist eine stärkere Diversifizierung der deutschen Wirtschaft – sowohl mit Blick auf Chinas zentrale Bedeutung in den internationalen Lieferketten als auch hinsichtlich der starken Abhängigkeit vieler deutscher Unternehmen vom chinesischen Absatzmarkt.
Von einem De-Coupling, einer vollständigen wirtschaftlichen Abkopplung von China, ist zu- mindest in der deutschen und europäischen Diskussion keine Rede mehr. Die Bundesregierung strebt stattdessen an, „die Wirtschaftsbeziehungen so zu diversifizieren, dass wir an der wirtschaftlichen Entwicklung Chinas weiter teilhaben und gleichzeitig Abhängigkeiten in kritischen Bereichen verringern“. Denn China bleibe „für viele Unternehmen von großer Bedeutung: aufgrund seines Anteils am Weltmarkt, aufgrund seiner Dynamik und Innovationsfähigkeit“.
Wie ein solches De-Risking erfolgreich durchgeführt werden soll, bleibt allerdings weitgehend offen. Klar ist für die Bundesregierung, dass neben der Verbesserung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Deutschland und Europa vor allem „das hohe Potenzial anderer Länder und Regionen besser ausgeschöpft werden“ soll. Doch welche Länder und Regionen verfügen überhaupt über ein solch hohes Potenzial? Wie und wohin sollen deutsche und europäische Unternehmen diversifizieren, um ihre Abhängigkeiten von China zu reduzieren?
Gerade für Deutschland sind diese Fragen nicht einfach zu beantworten. Denn es ist wirtschaftlich so eng mit China verflochten wie kein anderes Land in Europa. Die Volksrepublik ist unser wichtigster Handelspartner, fast ein Drittel des gesamten Handels zwischen China und der EU entfällt auf Deutschland. Damit ist klar, dass eine Diversifizierung weg von China enormer Anstrengungen bedarf – und wirtschaftlicher Partner mit dem nötigen Wachstumspotenzial, um überhaupt als ernsthafte Alternative infrage zu kommen.
Auf der Suche nach geeigneten Partnern richtet sich der Blick von Politik und Wirtschaft häufig auf die aufstrebenden Volkswirtschaften Südostasiens. Das dynamische Wachstum und die relativ großen Märkte der sogenannten Emerging ASEAN (Indonesien, Malaysia, Thailand, Philippinen und Vietnam) bieten eine vermeintlich vielversprechende Alternative zum großen Nachbarn China. Doch ein Blick auf die Wirtschaftsdaten zeigt, dass das Diversifizierungspotenzial mit Blick auf die südostasiatischen Wachstumsstaaten nicht unbegrenzt ist. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Emerging ASEAN für deutsche und europäische Unternehmen nicht attraktiv sein können. Gerade für Unternehmen, die im Rahmen einer China+1-Strategie weiter wirtschaftlich auf China setzen (müssen), aber zusätzlich in andere Standorte und Märkte diversifizieren, um die eigene Abhängigkeit von der Volksrepublik zu reduzieren, bietet die Region einiges an Potenzial. Die Emerging ASEAN können China nicht ersetzen, aber sehr wohl ergänzen.
Enge Verflechtung mit China als Problem
China ist heute die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt und auch nach Jahrzehnten hoher Wachstumsraten noch immer Zugpferd der globalen Wirtschaft. Selbst vor dem Hintergrund der aktuellen wirtschaftlichen Eintrübungen zeigen Prognosen des Internationalen Währungsfonds (IWF), dass die chinesische Wirtschaft in den kommenden fünf Jahren mehr als 20 Prozent zum globalen Wirtschaftswachstum beitragen wird – mehr als jede andere Volkswirtschaft der Welt. Der Anteil anderer aufstrebender asiatischer Staaten wie Indien oder der Emerging ASEAN am globalen Wirtschaftswachstum bleibt dagegen deutlich hinter dem chinesischen zurück. Schwellenländer außerhalb Asiens spielen zudem nur eine untergeordnete Rolle. China wird damit auch in den nächsten Jahren wirtschaftlich von herausragender Bedeutung bleiben. Das gilt besonders für Deutschland und die EU mit ihrem auf weltweitem Handel und offenen Märkten basierenden Wirtschaftsmodell.
China ist der wichtigste Handelspartner der EU. Im Jahr 2022 lag das gesamte Handelsvolumen (Importe und Exporte) zwischen der EU und China bei mehr als 797 Milliarden US-Dollar. Mit den Emerging ASEAN liegt das Handelsvolumen dagegen nur bei knapp 189 Milliarden US-Dollar – und das, obwohl der Wert im Jahr 2000 für China und die Emerging ASEAN mit rund 55 Milliarden US-Dollar fast gleichauf lag (Abb. 1).
Abb. 1: Handelsvolumen der EU in Milliarden US-Dollar
❙ China ❙ Emerging ASEAN Quelle: eigene Berechnung und Darstellung basierend auf Vereinte Nationen 2024: UN Comtrade Database, Trade Data, in: https://bit.ly/48KxlFL [19.06.2024].
Besonders für Deutschland hat die chinesische Wirtschaft eine herausragende Bedeutung. Fast die Hälfte aller europäischen Exporte nach China gehen auf das Konto deutscher Unternehmen. Zwar lag das Außenhandelsvolumen zwischen Deutschland und China 2022 mit 229,5 Milliarden US-Dollar unter dem Rekordwert von 2021 (237,7 Milliarden US-Dollar), aber immer noch mehr als 40 Milliarden US-Dollar über dem Vor-Corona-Wert. Das Außenhandelsvolumen Deutschlands mit den Emerging ASEAN lag 2022 dagegen nur bei 47,8 Milliarden US-Dollar und damit sogar etwas unter dem Wert vor der Pandemie.
Für viele Unternehmen aus Europa wird das Marktumfeld in China allerdings zunehmend schwierig. Die chinesische Regierung will sich mit ihrer „Made-in-China-2025“-Strategie technologisch unabhängiger vom Ausland machen und unterstützt dabei massiv die Wettbewerbsfähigkeit chinesischer Unternehmen in zahlreichen Schlüsselbranchen. Für deutsche und europäische Unternehmen bedeutet das eine wachsende Konkurrenz auf dem chinesischen Markt. Spürbar ist dies bereits im Maschinenbau oder in der Automobilbranche, wo deutsche Unternehmen zuletzt Marktanteile gegenüber chinesischen Unternehmen eingebüßt haben. Diversifizierung ist für europäische Unternehmen mit Blick auf den chinesischen Absatzmarkt damit nicht nur eine Frage der Risikoreduzierung, sondern auch eine wirtschaftlich notwendige Strategie, um langfristig alternative Absatzmärkte mit Wachstumspotenzial für die eigenen Produkte zu erschließen.
Um für die EU als wirkliche Alternative zu China in Betracht zu kommen, müssten die Emerging ASEAN in den kommenden Jahren eine wirtschaftliche Aufholjagd einläuten mit einer deutlich höheren Wachstumsdynamik als China. Nur dann könnten sie dazu beitragen, dass sich europäische Handelsströme in umfangreichem Maße weg von China und hinein in die Region verlagern und sich die enorme Differenz zum Handelsvolumen der EU mit China zumindest signifikant verringern ließe. Doch die Wachstumsprognosen für China und die fünf Emerging-ASEAN-Staaten geben wenig Grund zu dieser Hoffnung.
Der IWF prognostiziert für China 2024 ein Wachstum des BIP von 4,2 Prozent. Damit liegt China etwa gleichauf mit Malaysia (4,3 Prozent) und deutlich über den 3,2 Prozent Wirtschaftswachstum Thailands. Zwar sagt der IWF für China bis 2028 eine abnehmende Wachstumsdynamik voraus, doch Gleiches gilt auch für die wirtschaftliche Entwicklung Malaysias und Thailands. Für Indonesien erwartet der IWF in den kommenden fünf Jahren eine gleichbleibende Wachstumsdynamik von jährlich 5 Prozent. Lediglich für die Philippinen und Vietnam, die beiden Volkswirtschaften mit dem geringsten Pro-Kopf-Einkommen der Emerging ASEAN, prognostiziert der IWF eine dynamischere Entwicklung mit Wachstumszahlen von deutlich mehr als 6 Prozent bis 2028. Doch selbst solche Wachstumsraten sind für Schwellen- und Entwicklungsländer, die zu deutlich stärker entwickelten Volkswirtschaften aufschließen wollen, zu gering. Südkorea, der wahrscheinlich erfolgreichste der ostasiatischen Tigerstaaten, legte in den 1980er-Jahren zweistellige Wachstumsraten vor. China wuchs sogar über Jahrzehnte hinweg im zweistelligen Bereich.
Mit Blick auf die Gesamtwirtschaftsleistung bedeuten die historisch betrachtet moderaten Wachstumszahlen der Emerging ASEAN, dass die Staaten den großen Abstand zu China nicht verkleinern können. Im Gegenteil: China wird seinen Vorsprung in den kommenden Jahren sogar noch ausbauen. China wird sein BIP bis 2028 von 17,7 Billionen US-Dollar (2023) auf voraussichtlich 23,61 Billionen US-Dollar erhöhen, die Emerging ASEAN lediglich von 3,23 Billionen US-Dollar (2023) auf 4,73 Billionen US-Dollar (Abb. 2). Das heißt, dass die chinesische Volkswirtschaft in den nächsten fünf Jahren um mehr wachsen wird, als die gesamte prognostizierte Wirtschaftsleistung der Emerging ASEAN im Jahr 2028 überhaupt betragen wird – Chinas Wirtschaft wächst bis 2028 um eine ganze ASEAN.
Abb. 2: Bruttoinlandsprodukt in Milliarden US-Dollar
Jahre 2021 bis 2028 als Prognose. ❙ China ❙ Emerging ASEAN ❙ andere ASEAN Länder Quelle: eigene Darstellung basierend auf Internationaler Währungsfonds (IWF) 2024: World Economic Outlook Database, in: https://ogy.de/vww4 [19.06.2024].
Die Gefahr der Pseudo-Diversifizierung
Zusätzlich zu den im historischen Vergleich eher moderaten Wachstumsraten der Emerging ASEAN erschwert ein weiterer Faktor eine Diversifizierung der deutschen und europäischen Wirtschaftsbeziehungen von China in die Region. Die ASEAN, als eine der (trotz allem) dynamischsten Wirtschaftsregionen der Welt, zieht auch andere Wirtschaftsmächte an. Japan, Südkorea, Australien, die USA und viele andere bauen ihre Wirtschaftsbeziehungen zu den Volkswirtschaften Südostasiens aus. Doch der schärfste wirtschaftliche Konkurrent für die EU in der Region ist China selbst.
Denn nicht nur für die EU, auch für die Staaten Südostasiens hat China in den vergangenen Jahren wirtschaftlich enorm an Bedeutung gewonnen. Dabei profitiert China von der ASEAN-China Free Trade Area (ACFTA) sowie davon, gemeinsam mit den ASEAN-Staaten Mitglied der Regional Comprehensive Economic Partnership (RCEP) zu sein, der größten Freihandelszone der Welt – anders als die EU, deren Handelsverhandlungen mit den Emerging-ASEAN-Staaten nach dem erfolgreichen Abschluss mit Vietnam im Jahr 2019 ins Stocken geraten sind.
China ist für die Länder der Region inzwischen der mit Abstand wichtigste Wirtschaftspartner. Während sich das Außenhandelsvolumen zwischen der EU und den Emerging ASEAN in den vergangenen Jahren nur relativ langsam entwickelte, hat sich das Volumen zwischen China und den Emerging ASEAN in den vergangenen fünf Jahren nahezu verdoppelt (Abb. 3).
Abb. 3: Handelsvolumen der Emerging ASEAN in Milliarden US-Dollar
❙ China ❙ EU Quelle: eigene Berechnung und Darstellung basierend auf Vereinte Nationen 2024: UN Comtrade Database, Trade Data, in: https://bit.ly/48KxlFL [19.06.2024].
China dominiert mit einem enorm hohen Anteil an allen Vorproduktimporten zudem auch die industriellen Lieferketten in den Emerging ASEAN. Mehr als ein Drittel aller importierten Vorprodukte in Indonesien stammen aus China. In Vietnam liegt der Anteil bei 29,5 Prozent, in Thailand bei 28 Prozent, auf den Philippinen bei 26,9 Prozent und selbst in Malaysia bei stattlichen 17,4 Prozent. Im Vergleich dazu beträgt der Anteil der chinesischen Vorproduktimporte in Deutschland, dem ja insbesondere mit Blick auf seine industrielle Verflechtung eine zu hohe Abhängigkeit von China attestiert wird, gerade einmal 12,4 Prozent. Der hohe Anteil chinesischer Vorproduktimporte in den Emerging ASEAN legt nahe, dass der Aufbau eines Produktionsstandorts in der Region die Abhängigkeit von China nur bedingt reduzieren würde. Deutsche und europäische Unternehmen wären auch in Südostasien möglicherweise auf einen hohen Anteil chinesischer Vorprodukte angewiesen. In einem solchen Fall wäre eine China+1-Strategie am Ende nicht viel mehr als eine Pseudo-Diversifizierung – eine Diversifizierung zwar mit Blick auf die Landkarte, aber nicht mit Blick auf die Liefer- und Wertschöpfungsketten.
Zudem machen protektionistische Regeln in Ländern wie Indonesien und den Philippinen den Zugang zu diesen potenziell riesigen Märkten kostspielig oder in einzelnen Fällen sogar nahezu unmöglich. Hier zeigt sich ein erheblicher Nachteil für europäische Unternehmen aufgrund fehlender Freihandelsabkommen. Staaten wie Australien, Japan, Südkorea oder Indien drohen den Europäern dank ihrer Freihandelsabkommen und regionalen Handelszonen wie RCEP oder CPTPP (Comprehensive and Progressive Agreement for Trans-Pacific Partnership) den Rang abzulaufen. Ganz besonders gilt dies aber für China, das im Zuge von ACFTA und RCEP innerhalb weniger Jahre zum wichtigsten Herkunftsland für Importe der ASEAN avancierte. Allein zwischen 2017 und 2022 wuchsen die chinesischen Exporte in die ASEAN um 70 Prozent. Damit ist China für fast 25 Prozent aller Importe der Region verantwortlich. 80 Prozent der Importe aus China sind Industriegüter – neben Elektronik vor allem Maschinen und Maschinenteile sowie chemische Produkte. Produkte also, mit denen die chinesischen Hersteller deutschen und europäischen Industrieunternehmen direkte Konkurrenz auf dem Weltmarkt und in den Emerging ASEAN machen.
Diversifizierung der deutschen Wirtschaft kommt nur schleppend voran
Trotz aller politischen Appelle bleibt eine Diversifizierung der deutschen Wirtschaft weg von China bisher weitgehend aus. Bewegungen hin zu einem De-Risking der deutschen Unternehmen sind lediglich in sehr geringem Umfang zu beobachten. In einer Studie des Beratungsunternehmens PwC gab zum Beispiel nur ein Prozent der befragten Unternehmen an, seinen Standort in China aufgeben zu wollen. Andere Unternehmensumfragen zeigen zudem, dass eine Mehrheit der deutschen Unternehmen, die auf Vorleistungen aus China angewiesen sind, keine Maßnahmen zur Verringerung ihrer Abhängigkeit von China plant oder die Beschaffung und Investitionen in China sogar noch ausbauen will.
Die deutschen Direktinvestitionen in China sind zudem in den vergangenen Jahren massiv gestiegen. Ihr Bestand in China liegt derzeit rund sechs Mal über dem Wert in den Emerging ASEAN (Abb. 4). Tatsächlich stagnieren die Direktinvestitionsbestände deutscher Unternehmen in den Emerging ASEAN seit einigen Jahren weitgehend. Lediglich in Thailand und Vietnam haben die deutschen Direktinvestitionsbestände in den vergangenen Jahren signifikant zugenommen – in Vietnam liegen diese allerdings insgesamt noch auf einem relativ niedrigen Niveau. In China hingegen sind die deutschen Direktinvestitionsflüsse 2023 mit 11,9 Milliarden Euro sogar noch einmal auf einen neuen Rekordwert gestiegen.
Abb. 4: Deutsche Direktinvestitionsbestände in Milliarden Euro
❙ China ❙ Emerging ASEAN Quelle: eigene Darstellung basierend auf Deutsche Bundesbank 2023: Direktinvestitionsstatistiken, 31.05.2024, in: https://ogy.de/ni5r [26.07.2024].
Für viele deutsche und europäische Unternehmen ist China als Produktionsstandort und riesiger Absatzmarkt derzeit nicht komplett zu ersetzen. Es fehlt an echten Alternativen zur chinesischen Volkswirtschaft. Dennoch gilt es für viele Unternehmen, zusätzlich zum China-Geschäft die eigenen Märkte, Produktionsstandorte und Lieferketten stärker geografisch zu diversifizieren, um eine einseitige Fokussierung und damit Abhängigkeit von der chinesischen Wirtschaft zu vermeiden. Besonders dringlich erscheint eine solche China+1-Strategie neben den politischen Aspekten auch vor dem Hintergrund des sich verschlechternden Marktumfelds in China selbst. Die deutschen und europäischen Unternehmen müssen zunehmend außerhalb von China nach neuen Märkten suchen, um zusätzliches Wachstum zu generieren. Hier können die Emerging ASEAN eine wichtige Rolle spielen.
Das Potenzial der Emerging ASEAN als Produktionsstandorte und Absatzmärkte
Die Emerging ASEAN liegen geografisch an einigen der wichtigsten Handelsrouten der Welt und in unmittelbarer Nähe großer Märkte in der Asien-Pazifik-Region wie Australien und Japan. Zudem sind die Staaten neben dem RCEP auch Mitglieder in einer Reihe weiterer regionaler und bilateraler Freihandelsabkommen. Die Länder bieten sich daher für Unternehmen als regionale Produktionszentren an, von wo aus die Märkte der Region außerhalb Chinas bedient werden könnten. Zudem kommt den Emerging ASEAN selbst mit einer Bevölkerung von rund 596 Millionen Menschen und einer wachsenden, konsumfreudigen Mittelschicht eine immer größere Bedeutung als Absatzmarkt zu. Eine Übersicht über die wirtschaftliche Situation der einzelnen Länder zeigt, dass eine China+1-Strategie mit Blick auf die Emerging ASEAN für deutsche und europäische Unternehmen viele Chancen, aber auch große Herausforderungen mit sich bringen kann.
Malaysia schneidet im regionalen Vergleich über alle Kategorien hinweg am besten ab – und das zumeist mit deutlichem Abstand. Obwohl die malaysischen Löhne im produzierenden Gewerbe knapp ein Drittel unter den chinesischen liegen, verfügt Malaysia mit 24.861 US-Dollar jährlich über eine höhere durchschnittliche Arbeitsproduktivität pro Erwerbstätigem als China. Die malaysische Volkswirtschaft ist gut entwickelt, verfügt über eine technologisch fortschrittliche Industrie, relativ gut ausgebildete und produktive Arbeitskräfte sowie über im regionalen Vergleich sehr solide Rahmenbedingungen für ausländische Unternehmen und Investoren. Auch als Absatzmarkt ist Malaysia aufgrund des relativ hohen Einkommensniveaus interessant. Zwar ist das Land mit rund 34 Millionen Einwohnern vergleichsweise klein, hat bezüglich der Diversifizierungsbemühungen der überwiegend hochtechnologischen europäischen Unternehmen kurzfristig aber wohl am meisten Potenzial.
Langfristig könnte allerdings Vietnam das Land mit dem größten Diversifizierungspotenzial werden. Zwar liegt Vietnam derzeit im regionalen Vergleich in den meisten Kategorien wie etwa Produktivität, Pro-Kopf-Einkommen oder Infrastrukturqualität noch auf den hintersten Plätzen, doch das Land hat in den vergangenen Jahren in fast allen Bereichen deutlich aufgeholt und teilweise sogar Länder wie Indonesien und die Philippinen hinter sich gelassen. Ein großer Vorteil für Vietnam sind seine billigen, aber gut ausgebildeten Arbeitskräfte gepaart mit einer sich rasant verbessernden industriellen Wettbewerbsfähigkeit. Zudem macht das 2019 abgeschlossene Freihandelsabkommen mit der EU Vietnam im Vergleich zu seinen südostasiatischen Nachbarn ohne Abkommen für europäische Unternehmen besonders attraktiv.
Thailand schneidet zwar im regionalen Vergleich mit den anderen Emerging ASEAN in den meisten Kategorien relativ gut ab, doch legt ein genauerer Blick auf die Daten die Vermutung nahe, dass die thailändische Volkswirtschaft zunehmend von der Substanz lebt. Das Wirtschaftswachstum ist mit rund drei Prozent zu gering für ein Schwellenland und zentrale wirtschaftliche Indikatoren wie Produktivität, industrielle Wettbewerbsfähigkeit und Einkommen stagnieren auf niedrigem Niveau. Auch die Rahmenbedingungen für Investoren, etwa das hohe Korruptionsniveau, sind schwierig. Zudem altert und schrumpft die thailändische Bevölkerung bereits. Damit droht Thailand, ein „grows old before it gets rich country“ zu werden.
Indonesien und die Philippinen können vor allem mit dynamischem Wirtschaftswachstum und einem großen und aufgrund der demografischen Entwicklung wachsenden Arbeitskräftereservoir aufwarten. Die Lohnkosten sind in beiden Ländern im regionalen Vergleich zwar sehr niedrig, doch gleichzeitig sind die Arbeitskräfte anders als in Vietnam auch relativ schlecht ausgebildet und damit wenig produktiv. In Rankings wie PISA oder dem Human Capital Index der Weltbank liegen Indonesien und die Philippinen im regionalen Vergleich auf den hinteren Plätzen. Indonesien verfügt mit mehr als 275 Millionen Einwohnern und einer aufgrund von steigenden Einkommen schnell wachsenden Mittelschicht jedoch über einen riesigen Absatzmarkt, der das Land als regionalen Produktionshub für ausländische Unternehmen attraktiv macht. Darüber hinaus ist Indonesien einer der größten Produzenten von Rohstoffen wie Nickel, Kobalt und Kupfer, die im Kontext der globalen Energie- und Mobilitätswende von zentraler Bedeutung sind. Allerdings verfügen beide Länder über vergleichsweise schwierige Rahmenbedingungen. Insbesondere ein hohes Maß an rechtlicher Unsicherheit und Korruption könnte ausländische Investoren abschrecken. Darüber hinaus kommen in den Philippinen und ganz besonders in Indonesien in großem Umfang protektionistische Regeln und Maßnahmen hinzu, wie etwa hohe Zölle, nichttarifäre Handelshemmnisse oder aufwendige Einfuhrbestimmungen und -verfahren.
Die Emerging ASEAN können und müssen im Rahmen der China+1-Strategien von deutschen und europäischen Unternehmen eine zentrale Rolle spielen. Denn aufgrund der weltweit dynamischsten Wachstumsraten und einer wachsenden, jungen und zunehmend kaufkräftigen Bevölkerung bieten die Emerging ASEAN im globalen Vergleich mit anderen Schwellenländern und Wirtschaftsregionen trotz aller Herausforderungen immer noch die besten Bedingungen für eine Diversifizierung von Produktion und Absatzmärkten weg von China.
Handelsverhandlungen der EU mit den Emerging ASEAN
Damit die europäischen Unternehmen die Diversifizierungspotenziale in den Emerging ASEAN wirklich nutzen können, muss die EU endlich die Handelsverhandlungen in der Region abschließen. Während die EU im Jahr 2019 ein Freihandelsabkommen mit Vietnam unterzeichnen konnte, kommen die teils seit Jahren laufenden Verhandlungen mit Indonesien, Malaysia, Thailand und den Philippinen kaum voran. Haupthindernis für erfolgreiche Verhandlungsabschlüsse sind die Bemühungen der EU, im Rahmen der Verhandlungen handelsferne Forderungen, wie etwa weitreichende Arbeits- und Umweltstandards, durchzusetzen. Staaten wie Indonesien lehnen dies ab und werfen der EU Protektionismus unter dem Deckmantel von Klimaschutz und Menschenrechten vor.
Die Staaten Südostasiens haben selbst ein großes Interesse an einer engeren politischen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit der EU, insbesondere auch, um der eigenen steigenden Abhängigkeit von China entgegenzuwirken. In der jährlichen „The-State-of-Southeast-Asia“-Umfrage unter rund 2.000 Experten und Entscheidungsträgern der Region wird die EU noch immer als bevorzugter Partner für eine Absicherung hinsichtlich der Rivalität zwischen den USA und China gesehen. Doch die Umfrage zeigt auch, dass Europas Einfluss in der Region deutlich abnimmt und neben den beiden Großmächten zunehmend Länder wie Japan, Australien und Südkorea eine große Rolle spielen. Wirtschaftlich gewinnen zudem Staaten wie Indien, Katar und die Vereinigten Arabischen Emirate größere Bedeutung.
Aufgrund des weltweit steigenden wirtschaftlichen Interesses an der Region und des ohnehin stagnierenden Handels mit der EU sind die Länder der Emerging ASEAN zunehmend in einer Position, die Handelsverhandlungen mit der EU scheitern zu lassen. Für die EU wäre das ein erheblicher Rückschlag sowohl für die Diversifizierungsbemühungen als auch für den (ohnehin deutlich zurückgehenden) geopolitischen Einfluss Europas in der Region. Denn die EU braucht die Staaten der ASEAN, um ihre ambitionierten Ziele zum Beispiel beim weltweiten Klimaschutz, der Reform der multilateralen Handelsregeln oder dem Schutz freier Handelsrouten zu erreichen.
Die EU sollte die Handelsverhandlungen daher nicht länger mit handelsfremden Forderungen überfrachten und vielmehr solche Fragen, die nicht unmittelbar handelsrelevant sind, von den handelspolitischen Themen entkoppeln. Die EU hat andere Instrumente, um die soziale Entwicklung oder den Klimaschutz in den Emerging-ASEAN-Staaten zu unterstützen. Wichtigstes Instrument ist dabei sicherlich die Global Gateway Initiative, in deren Rahmen die EU in den nächsten Jahren Investitionen von zehn Milliarden Euro in den Bereichen grüne Transformation und nachhaltige Konnektivität in den ASEAN-Ländern plant.
Wichtig ist zudem, dass die Europäische Kommission und auch die Bundesregierung die hiesigen Unternehmen bei ihren Diversifizierungsbemühungen in Südostasien noch stärker unterstützen. Die Einführung von vergünstigten Konditionen durch die Bundesregierung für die Übernahme von Investitionsgarantien in Ländern mit hohem Diversifizierungspotenzial im Oktober 2023 war ein richtiger Schritt in diese Richtung. Darüber hinaus sollte die politische Flankierung des Engagements europäischer Unternehmen in den Emerging ASEAN verstärkt werden. Die Anzahl hochrangiger politischer Besuche aus der EU in den Ländern der ASEAN ist noch deutlich ausbaufähig. Und wie bei vergleichbaren Besuchsreisen nach China oder Indien sollten hochrangige politische Delegationen in der Region auch durch hochrangige Wirtschaftsdelegationen begleitet werden.
Die Emerging ASEAN gewinnen angesichts ihrer dynamischen Wirtschaftsentwicklung und des zunehmenden globalen Interesses an der Region an Selbstbewusstsein. Von der EU erwarten die Staaten eine echte partnerschaftliche Politik. Für sie ist Europa heute nur noch eine Option von vielen und in den Hauptstädten der Region schwindet zunehmend die Geduld mit einer EU, die als moralisch überheblich wahrgenommen wird. Europa braucht die südostasiatischen Schwellenländer, um wirtschaftlich unabhängiger von China zu werden. Die EU sollte deshalb einen pragmatischeren Ansatz wählen. Mit erhobenem Zeigefinger und dem Bestehen auf europäischen Standards wird Europa in der ASEAN nicht erfolgreich sein. Staaten wie China und die USA, aber auch Australien, Japan, Südkorea oder Indien stehen bei den Emerging ASEAN Schlange – und Europa droht zunehmend nach hinten durchgereicht zu werden.
Der vorliegende Beitrag basiert auf einer im Mai 2024 von der Konrad-Adenauer-Stiftung veröffentlichten Studie des Autors: De-Risking, aber wohin? Die Schwellenländer der Emerging ASEAN als Alternative zu China, erreichbar unter https://ogy.de/gvzc.
Dr. Denis Suarsana ist Leiter des Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Indonesien und Timor-Leste.
Für eine vollständige Version dieses Beitrags inkl. Quellenverweisen wählen Sie bitte das PDF-Format.