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Ramzi Boudina, Reuters

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Veraltete Eliten, neues Selbstverständnis

Führerlose Aufstände und die Vertrauenskrise arabischer Autoritäten

Zehn Jahre nach dem Beginn des „Arabischen Frühlings“ bekommt die autokratische Fassade im Nahen Osten und Nordafrika wieder Risse. Der Kampf um eine Alternative zur herrschenden Elite scheitert dabei jedoch am Mangel organisierter politischer Kräfte, die die Wut der Straße in konstruktive politische Beteiligung übersetzen könnten.

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Teile des Nahen Ostens und Nordafrikas befinden sich derzeit in einem pandemiebedingten Schwebezustand. Vor dem Ausbruch der Coronapandemie im Frühjahr 2020 gingen in Beirut, Algier, Khartum und Bagdad wieder über eine Million Menschen auf die Straße und forderten wirtschaftlichen, politischen und sozialen Wandel. Die umfangreichen staatlichen Einschränkungsmaßnahmen im Kampf gegen COVID-19 haben die Proteste zwar vorübergehend heruntergefahren, doch die ihnen zu Grunde liegenden sozioökonomischen und politischen Ursachen bestehen weiter. Zehn Jahre nach dem Ausbruch einer Welle von Massenprotesten gegen Willkür und Unrecht, die in fünf Ländern der Region zum Sturz von Langzeitherrschern führte – wovon drei in Bürgerkriegen, einer in einem autoritären Rückfall und einer in einem demokratischen Übergang endeten –, ist die arabische Welt noch nicht zur Ruhe gekommen.

Die zweite Welle der arabischen Aufstände, die im Dezember 2018 im Sudan begann und sich seither auf Algerien, Irak und Libanon ausdehnte, setzt die Auseinandersetzung zwischen Bevölkerungen und ihren politischen Eliten über die Anforderungen an einen modernen Staat fort. Öffentlichen Institutionen, insbesondere Parlamenten und Parteien, wird nicht vertraut – oft im Zuge einer ausgeprägten Ablehnung organisierter Interessensvertretung im Allgemeinen. Die Proteste – ohne gemeinsame Strategien, Hierarchien oder Ideologien – fokussieren sich in ihren Forderungen vermehrt auf konkrete Fragen der Regierungsführung und ihre Strukturlosigkeit erschwert dabei sowohl deren Umsetzung als auch deren Niederschlagung. Dieser Artikel beleuchtet die Ursachen und Forderungen der neuen Protestwelle, legt die Hintergründe ihrer Führerlosigkeit dar und zieht Schlüsse für die notwendige Wiederannäherung zwischen Bevölkerung und Herrschaft.

 

Eine zweite Protestwelle bricht los

Die unmittelbaren Auslöser der erneuten Protestwelle waren von Land zu Land unterschiedlich. Im Sudan brachte eine Regierungsentscheidung, den Preis für Brot zu verdreifachen, acht Monate zivilen Ungehorsam und Proteste, welche im Umsturz des Machthabers Omar al-Baschir mündeten. Al-Baschir hatte das Land für drei Jahrzehnte autoritär regiert. In Algerien war es die Ankündigung von Präsident Abdelaziz Bouteflika, bei den nächsten Präsidentschaftswahlen für eine fünfte Amtszeit zu kandidieren, die die Massenprotestbewegung Hirak lostrat. Der schwerkranke und kaum in der Öffentlichkeit präsente Bouteflika und seine als le pouvoir (die Macht) bezeichneten Machtzirkel hielten die Zügel des Landes 20 Jahre lang in der Hand. Im Irak trieb die Degradierung des populären Generals Abdel-Wahab al-Saedi, der als Symbolfigur gegen Korruption und Vetternwirtschaft sowie als Held im Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat von der Bevölkerung geschätzt wurde, ab Oktober 2019 die Menschen auf die Straße. Trotz des Siegs gegen die Terrororganisation vor drei Jahren ist das Land tief zerrissen und kann als eines der ölreichsten Länder der Welt nicht für seine Bevölkerung sorgen. Im Libanon weiteten sich Proteste gegen eine geplante Steuer auf Sprachanrufe über Apps wie WhatsApp zur gleichen Zeit zu landesweiten Demonstrationen aus. Inmitten von Armut und Staatsbankrott steckt der Zedernstaat in der tiefsten Krise seit Ende des 15-jährigen Bürgerkriegs vor 30 Jahren.

 

Altbekannte Ursachen …

Diese Funken konnten nur deshalb einen Flächenbrand auslösen, weil es mit den tiefgehenden und seit 2011 weiterhin ungelösten sozioökonomischen Problemen in der Region bereits genügend Zündstoff gab. Mit Ausnahme des Systemwechsels in Tunesien endeten die Proteste vor zehn Jahren entweder, weil die Regime diese mit Gewalt unterdrückten und in Autoritarismus zurückfielen, die Menschen mit materiellen Zusprüchen kooptierten und mit vereinzelten institutionellen Anpassungen besänftigten, oder weil die Öffentlichkeit in manchen arabischen Staaten mit Blick auf die Entwicklungen in Syrien, Libyen und Jemen nicht riskieren wollte, dass ihr eigenes Land in einen Bürgerkrieg abrutscht. Doch auch wenn die Demonstrierenden von den Straßen verschwanden – die Probleme, die sie auf die Straßen gebracht hatten, blieben.

Ein Jahrzehnt später gibt es in vielen Ländern der Region noch immer eine unzureichende staatliche Grundversorgung, hohe Arbeitslosigkeit und Armut – im Libanon lebt fast die Hälfte der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Dazu kommen regionale Währungs- und Wirtschaftskrisen, eine übermäßige Abhängigkeit von (abnehmenden) Einnahmen aus Ölexporten oder ausländischer Entwicklungshilfe, eine toxische Politisierung von Identität und die weitreichende Korruption im öffentlichen Sektor. Insbesondere bei der jungen Bevölkerung führen materielle Entbehrung, Zukunftsangst und mangelndes Vertrauen in die Fähigkeit oder den Willen ihrer Regierungen, diese grundlegenden Probleme zu lösen, zu Verzweiflung und Protest. In regionalen sowie länderspezifischen Umfragen werden Korruption und schlechte Regierungsführung als wesentliche Probleme und Hauptbeweggründe für die Proteste gesehen. 97 Prozent der Jugend in der Levante und Nordafrika schätzen zumindest Teile der politischen Elite als korrupt ein.

 

… neue Forderungen

Die zweite Protestwelle wiederholt daher nicht die Forderungen von 2011, sondern geht darüber hinaus. Mit Protestchören wie „Alle von ihnen bedeutet alle von ihnen“ im Libanon und „Das System muss weg“ in Algerien fordern die Demonstrierenden nicht nur die Absetzung der herrschenden Elitennetzwerke aus Politikern, Geschäftsleuten und Militärs allein, sondern die vollständige Demontage der politischen Strukturen und Wirtschaftssysteme, die sie ernähren. Statt einzelner Spielsteine sollen sich die grundlegenden Spielregeln ändern. Auch wenn Protestierende in Algerien und im Sudan auch nach demokratischen Partizipationsmöglichkeiten streben, so schallen heute bedeutend weniger Rufe nach Demokratie durch die Straßen; Forderungen nach politischen Freiheiten tauchen oft nur am Rande auf.Dies gründet auf der Erkenntnis, dass auch stärkere Wahldemokratien – wie im Irak und Libanon mit der Abhaltung relativ freier und fairer Wahlen – in der öffentlichen Wahrnehmung größtenteils nur der Stärkung korrupter politischer Eliten dienen.

Der Ruf nach ‘aish, hurriya, ‘adala idschtima‘iya – Brot, Freiheit und soziale Gerechtigkeit – erklingt auch heute noch, nur sind die Protestierenden kompromissloser bei ihren Forderungen nach sozioökonomischer Teilhabe. Der Wunsch nach einer Neuordnung des politischen Systems entzündet sich an den alltäglichen sozioökonomischen Lebensrealitäten, die Vorrang vor unmittelbar politischen Zielen zu haben scheinen. Die Protestbewegungen fordern tiefgreifende sozioökonomische Reformen, bessere staatliche Dienstleistungen insbesondere bei der Wasser-, Gesundheits- und Stromversorgung, aber auch bessere Jobmöglichkeiten und Zukunftsperspektiven sowie effektivere Bemühungen zur Korruptionsbekämpfung.

Es ist besonders bemerkenswert, dass die jüngsten Proteste ethnokonfessionelle und identitäre Trennlinien überwanden.

Ein Phänomen, das den für wirksame Reformen notwendigen Zusammenhalt untergräbt und antidemokratische Herrschaft schützt, ist das ethnokonfessionelle gesellschaftliche Ordnungsmodell. Im Irak und im Libanon haben sich infolge despotischer Minderheitenherrschaften und Bürgerkriege politische und rechtliche Mechanismen der ethnokonfessionellen Machtaufteilung etabliert, welche die Vergabe der höchsten politischen Ämter sunnitischen, schiitischen, christlichen oder kurdischen Bevölkerungsteilen zusprechen. Diese institutionalisierte identitäre Spaltung der Gesellschaft begünstigt Vetternwirtschaft (wasta) und Klientelismus. Sie zementiert die Undurchlässigkeit politischer Strukturen und verhindert die Entwicklung eines bürgerorientierten Staatsverständnisses.

Daher ist es besonders bemerkenswert, dass die jüngsten Proteste ethnokonfessionelle und identitäre Trennlinien überwanden. Sowohl in den von Berbern bewohnten Regionen Algeriens als auch in den mehrheitlich arabischen Städten und Gemeinden des Landes war zur Hochzeit des Hirak gleichsam der Ruf zu hören: „Keine Berber, keine Araber, keine Ethnie oder Religion! Wir sind alle Algerier!“ Es ist das erste Mal seit der Unabhängigkeit 1962, dass eine solche Einigkeit in der Forderung nach Wandel besteht. Gleiches war im Sudan zu beobachten, wo das Regime zunächst der ethnischen Gruppe der Fur die Schuld an den Protesten geben wollte, sodass auch in der Hauptstadt Khartum der Ruf „Wir sind alle Darfur“ zu hören war. Im Libanon, der für den Großteil seiner Geschichte durch konfessionelle Spaltungen definiert wurde, schwenkten im Oktober vor zwei Jahren hunderttausende Libanesen jeglicher Konfession die libanesische Flagge mit den Worten „Wir sind alle Libanesen. Auf der Straße sind wir keine Schiiten, Sunniten oder Christen. Wir sind Bürger.“ Auch im Irak konnten sich die Forderungen der Demonstrierenden zu nationalen Anliegen entwickeln und als eine „identitätsstiftende Grundlage“ für eine nationale Identität fungieren. Die Proteste förderten durch ihre gemeinschaftlichen Forderungen nach Aufgabe jeglicher Unterscheidung aufgrund von ethnischer oder religiöser Zugehörigkeit eine einende nationale Identität – zusammengehalten durch die gleichen Nöte und Schicksale.

 

Strukturanpassungen im politischen Aktivismus

Doch die Protagonisten der zweiten Protestwelle haben auch ihr Vorgehen angepasst. Eine Lektion aus 2011 ist, dass Gewalt Regimen die Chance bietet, politische Aufstände als Bürgerkrieg umzudeuten, in aller Härte zu bekämpfen und dadurch jede Hoffnung auf friedlichen Wandel zu ersticken. Obwohl die Demonstrierenden im Sudan, in Algerien und im Irak mit Gewalt und Repression durch staatliche Sicherheitskräfte sowie nichtstaatliche Milizen konfrontiert waren, beharrten sie größtenteils auf einem gewaltfreien Vorgehen – was sowohl die Entfremdung gemäßigter Unterstützer verhinderte als auch breite nationale und internationale Unterstützung einbrachte.

Durch die vergangenen Erfahrungen hat sich auch gezeigt, dass der Sturz eines Herrschers nicht das Ende der politischen Ordnung bedeutet. Im Sudan und in Algerien gingen die Proteste daher auch nach dem Militärputsch gegen Omar al-Baschir und dem Rücktritt von Abdelaziz Bouteflika weiter. Im Irak setzten sich die Proteste nach dem Rücktritt des Premierministers im November 2019 und Reformversprechen der neuen Regierung ebenfalls fort. Zuletzt nahm die Coronapandemie durch staatliche Ausgangssperren und Versammlungsverbote einigen Protesten zwar den Wind aus den Segeln. Doch auch wenn der sichtbare Protest verschwand, so ist er keinesfalls verstummt und brach sich bei gelegentlichen Lockerungen der pandemiebedingten Einschränkungen wieder Bahn. „Wir fürchten den Hunger, nicht das Coronavirus“, fasste es ein libanesischer Demonstrant zusammen.

Führerlose Bewegungen wachsen und gedeihen in den letzten Jahren rund um den Globus.

Besonders bemerkenswert ist jedoch die Führerlosigkeit der Proteste. Denn führerlose Bewegungen lassen sich zurzeit nicht nur im Nahen Osten beobachten. Sie wachsen und gedeihen unter den oben beschriebenen Bedingungen in den letzten Jahren rund um den Globus – von Hongkong und Thailand über Frankreich bis nach Chile. Sie sind Ausdruck einer globalen Macht- und Formverschiebung von institutionalisierten Akteuren zu informellen politischen Bewegungen und Formen des politischen Aktionismus. Einige Beobachter verleitet dieser globale Trend zur Verkündung eines „Zeitalters der führerlosen Revolution“. Diese Bewegungen sind ein Krisenphänomen, richten sich gegen das politische Establishment und grenzen sich von bestehenden Parteien ab. Um ihre Bedeutung im Kontext des Nahen Ostens und Nordafrikas zu verstehen, ist es notwendig, zuerst den Blick auf die politischen Systeme in der Region zu richten.

 

Kompetitiver Autoritarismus und politischer Klientelismus

Das politische Modell in der arabischen Welt wurde lange Zeit als „kompetitiver Autoritarismus“ beschrieben, in dem sich nichtdemokratische Regime (schein)demokratischer Methoden bedienen, um ihre Macht zu sichern. Formaldemokratische Institutionen wie Parlamente und Parteien wurden (und werden) als Mittel zur Legitimierung politischer Autorität eingesetzt, obwohl die politische Elite bei Wahlen routinemäßig staatliche Ressourcen missbrauchte, oppositionellen Kräften die Berichterstattung in den Medien verweigerte, Gegner öffentlich schikanierte oder Wahlergebnisse manipulierte. Überall im Nahen Osten und Nordafrika gibt es mittlerweile Parlamente oder vergleichbare Institutionen und Abgeordnete werden größtenteils in direkten Wahlen mandatiert. Ihr Einfluss auf das Politikgeschäft variiert von Land zu Land, doch die Zeit geschlossener autoritärer Regime ist in den meisten Teilen der Region passé. In den letzten Jahrzehnten dominierten in der Region Ein- oder Zwei-Parteien-Systeme, die den politischen Wettbewerb massiv einschränkten. Heute finden sich in den meisten arabischen Ländern pluralistische Parteiensysteme; im Libanon und Irak mit sich ständig umbenennenden und neu zusammensetzenden Bündnissen aus unübersichtlich vielen Parteien sogar „hyperpluralistische“ Systeme.

Parteien werden aus demokratietheoretischer Perspektive oft als die wichtigsten politischen Organisationen der modernen Welt beschrieben. Sie dienen der Formulierung politischer Programme durch die Artikulation und Bündelung von Bürgerinteressen und der anschließenden Mobilisierung von Wählern hinter einer Agenda. Hierdurch schaffen sie eine Beziehung zwischen Regierung und Bevölkerung und ermöglichen ihren Mitgliedern zusätzlich zur Wahlentscheidung direkte Beteiligungsmöglichkeiten sowie Rechenschaftsforderungen an gewählte Vertreter.

In der arabischen Welt ist diese Verbindung größtenteils klientelistisch, d. h. Wähler stimmen für eine Partei, von der sie sich bestimmte Vorteile erhoffen. In vielen Ländern der Region sind politische Parteien zudem tendenziell schwach organisiert und ideologisch unscharf. Sie dienen nicht der Interessenaggregation und Bürgervertretung, sondern dem persönlichen Nutzen ihrer Mitglieder. Sie sind oft personalistischer Natur, haben eine schwache interne Demokratie und nur beschränkten Einfluss auf politische Entscheidungsfindung. Der Libanon-Direktor von Democracy Reporting International, André Sleiman, beschreibt die Parteien im Libanon als „Banden“, gezeichnet von autokratischen Strukturen, fokussiert auf die eigenen Interessen sowie aufgebaut auf Loyalität und Gehorsam: „Man kann sie nicht reformieren.“

 

Die Vertrauenskrise arabischer Parteien

Diese Einschätzung teilen viele, insbesondere junge Menschen in der Region. Es ist daher nicht überraschend, dass das Vertrauen in öffentliche Institutionen und die Bereitschaft, sich politisch zu engagieren, verschwindend gering sind. In Umfragen geben 61 Prozent der Befragten in der arabischen Welt an, dass ihre Ansichten von keiner bestehenden politischen Gruppe vertreten werden. 71 Prozent der Libanesen misstrauen politischen Parteien und vier von fünf dem Parlament. Im Irak haben sogar nur fünf Prozent der Bevölkerung eine positive Einstellung gegenüber Parteien. Erkennbar ist diese Entfremdung von der politischen Elite auch an der sinkenden Wahlbeteiligung. Als einige Regime vor zehn Jahren nicht auf die Forderungen der Demonstrierenden eingingen, wandten sich diese oft an die Oppositionsführer. Nun hat das Misstrauen alle politischen Führer erreicht.

Im Gegensatz dazu vertreten die informellen Protestbewegungen große Teile der Bevölkerung. In allen vier Ländern genießen die Protestbewegungen breite Unterstützung. Eine überwältigende Mehrheit der Sudanesen (81 Prozent), Algerier (71 Prozent), Libanesen (67 Prozent) und Iraker (82 Prozent) steht hinter den Forderungen der Demonstrierenden; im Sudan gab über ein Drittel der Befragten an, an den Protesten teilgenommen zu haben. Die tiefe Entfremdung zwischen der überwiegend jungen Bevölkerung und den herrschenden Eliten der Länder treibt viele Menschen auf die Straßen. Hier zeigt sich ein großes, nicht umgesetztes politisches Potenzial. Mit dem Wegfall der politischen Parteien bricht ein Schlüsselstück des politischen Systems, der Vermittler zwischen Bevölkerung und Herrschaft, aus der Gleichung – und es kommt zur direkten Konfrontation.

Soziale Bewegungen rücken mehr und mehr in den Mittelpunkt gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse.

Nach den radikalpolitischen Projekten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wie dem arabischen Nationalismus, Panarabismus und Baathismus, dem Erstarken des Islamismus sowie zuletzt den Demokratierufen des „Arabischen Frühlings“, wächst in der Region eine zwar politisch aktivierte, jedoch auch weitgehend desorientierte, fast schon postideologische Generation auf. Politisch zusammengesetzte Regierungen bieten keine Lösung mehr. Es kommt daher der Wunsch nach technokratischer Führung auf, der eher gute Regierungsführung zugetraut wird. In einer regionalen Umfrage der Konrad-Adenauer-Stiftung gaben 40 Prozent der Algerier und 55 Prozent der Libanesen an, Wahlen sollten abgeschafft und Experten zur Regierungsverantwortung gezogen werden. Der Sudan stellt hier einen Prototyp dar, in dem im Nachgang des Militärputsches gegen Diktator al-Baschir 2019 eine dreijährige Übergangsphase unter Führung einer zivilen Technokratenregierung vereinbart wurde. Damit verbunden ist die Hoffnung auf ein Ende der autokratischen „Teile-und-herrsche“-Strategien und der Beginn von administra et impera (verwalte und herrsche). Eine Erschwernis der Bestrebungen von 2011 waren unter anderem politische und ideologische Spaltungen, insbesondere zwischen Islamisten und Säkularisten, die zu einem starken Fokus auf Identitätsfragen führten, weshalb dringendere Angelegenheiten wie sozioökonomische Verbesserungen vernachlässigt wurden. Eine technokratische Übergangslösung kann zwar zu einer mittelfristigen Entspannung beitragen, löst jedoch die Grundproblematik nicht und eröffnet erneut ein Legitimationsvakuum.

Die politischen Nachkriegsprojekte des Nahen Ostens – im Streben nach arabischer Einheit, nationaler Unabhängigkeit, Entkolonialisierung und sozioökonomischer Transformation – liefen oft unter charismatischen Führern und ihren Einparteiensystemen. Heute wird jedoch die Rolle und Bedeutung politischer Parteien als „Torwächter zu den Hebeln und Insignien der Macht“ infrage gestellt, während soziale Bewegungen mehr und mehr in den Mittelpunkt gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse rücken. Diese dienen dabei weniger als politische Gestaltungsakteure, sondern fungieren vermehrt als Watchdogs, als selbsterklärtes Korrektiv und Mahnung gegenüber den Herrschenden. Die Ineffizienz von Parteien und die Unberechenbarkeit staatlicher Repression gegen öffentliches Aufbegehren verändern die Formen von politischem Aktivismus. Bürger wenden sich zunehmend informellen Mechanismen des Protests und Boykotts zu.

 

Hintergründe von Führerlosigkeit

Der Soziologe Asef Bayat sah schon vor den Entwicklungen im Jahr 2011 sozialen Wandel im Nahen Osten in Beziehung zu nonmovements; „kollektive Handlungen nichtkollektiver Akteure“, die Änderungen erwirken, auch wenn diese selten von Ideologie oder erkennbaren Führungs- oder Organisationsstrukturen geleitet werden. Diese nichtstrukturierten Proteste, bezeichnend für autoritäre Systeme, können nach Bayat Wandel erbringen, wo strukturierte Bewegungen scheitern. Führerlosigkeit befördert eine schnelle Reaktions- und hohe Anpassungsfähigkeit, hohe Agilität und Innovationsgeschwindigkeit bei Protestformen und -taktiken, die sich schneller horizontal verbreiten können. Sie führt aber gleichzeitig auch zu einem Strategievakuum und ineffizientem Einsatz von Ressourcen. Wie kam es, dass die jüngste Protestwelle führerlos blieb?

Führungsstrukturen erleichtern es staatlichen Stellen, einzelne Persönlichkeiten ins Visier zu nehmen und zu kooptieren, zu verhaften oder gar hinzurichten.

 

Diversifizierung als organisatorische Herausforderung

 

Viele der jüngsten Proteste hatten ihren Ursprung in führerlosen Ad-hoc-Aufständen, die sich anschließend zu Massenprotesten im ganzen Land ausweiteten. Auch wenn v. a. die Jugend eine entscheidende Triebkraft hinter den Protesten ist, zogen diese eine breite Masse von Bürgern an, die über die Mittelschichten der Hauptstädte hinausging und auch viele Frauen einschloss. Diese Diversifizierung der Protestteilnehmer und die dadurch bedingten unterschiedlich umfangreichen Forderungen erschwerten die Formierung einer einheitlichen Führung. Ein klassisches „Henne-Ei-Dilemma“: Die Uneinigkeit ist einerseits ein Symptom für Führerlosigkeit, erschwert andererseits aber auch erst den Aufbau von Führungsstrukturen. In Algerien führten ideologische Differenzen zu Brüchen innerhalb der Bewegung. Die Vielfalt der Protestbewegungen wurde von einer Stärke zu einer Herausforderung.

 

Die harte Hand des Staates

 

Ein weiterer Grund für die Entwicklung weitgehend führerloser Bewegungen kann in der Reaktion staatlicher Stellen auf die Proteste gesehen werden. Auf Widerstand reagieren staatliche Akteure in (semi-)autoritären Kontexten mit einer Mischung aus Zugeständnissen, Kooptation und Zwang. Die Gewalt gegen Protestierende im Irak und Verhaftungen in Algerien verstärkten durch hervorgerufene Sympathie zwar die Protestmobilisierung, trugen jedoch auch dazu bei, potenzielle Führungsfiguren von der Übernahme von mehr Verantwortung abzuschrecken. Denn Führungsstrukturen erleichtern es staatlichen Stellen, einzelne Persönlichkeiten ins Visier zu nehmen und zu kooptieren, zu verhaften oder gar hinzurichten, wodurch die Bewegung schnell fragmentiert oder unterdrückt werden kann. Führerlose Proteste mit ihrer guerilla-artigen Organisationsform hingegen sind schwieriger zu unterdrücken.

Die Demonstrierenden der zweiten Protestwelle haben verdeutlicht, dass sie nicht verstummen, bis ihre Probleme ernsthaft angegangen werden.

Nichtsdestotrotz waren Kooptierungsversuche von Fürsprechern der Protestbewegung vereinzelt erfolgreich. Einige Protestierende im Irak verließen die Bewegung zur Aufnahme politischer Tätigkeiten. Für einen großen Teil der Demonstrierenden jedoch war das Eintreten in Verhandlungen mit dem Regime einer Teilnahme an dem manipulierten System und damit einer Entscheidung gleichzusetzen, „Teil des Problems“ zu werden – was ebenso vor der Übernahme einer Führungsrolle zurückscheuen ließ. Die Proteste richten sich gegen die wahrgenommene Konzentration von Macht, weshalb viele Teilnehmer ähnlichen Entwicklungen in ihren eigenen Reihen kritisch gegenüberstehen.

 

Die unüblichen Verdächtigen

 

Ähnlich wie 2011 waren die Protagonisten der zweiten Protestwelle nicht etablierte zivilgesellschaftliche Akteure, sondern „unübliche Verdächtige“ ohne große politische Vorerfahrung, die weder glaubten, eine Organisation zu brauchen, noch die richtige Expertise hierfür hatten. Sie hatten keine konkrete politische Vision und keine ausformulierte strategische Agenda für Verhandlungsgespräche mit der Regierung, wofür sie Vertreter gebraucht hätten. So konnten sich im Libanon in der jüngsten Protestwelle keine Führungsfiguren herausbilden und – im Gegensatz zu den Müllprotesten 2015, die maßgeblich von der organisierten Zivilgesellschaft angeführt wurden – noch keine neue, strukturierte Organisation entwickeln, die sich als Bewerber auf der politischen Bühne hätte durchsetzen können. Zwar vereinten sich einige Demonstrierende hinter 2015 entstandenen politischen Bewegungen wie Li Haqqi (für mein Recht) oder bestehenden säkularen Oppositionsparteien, die bestrebt waren, eine Anti-Establishment-Allianz zu formen. Dennoch ergab sich eine diffuse und verstreute Art der „Führung im Kollektiv“ – als „Basisbewegung [größtenteils] außerhalb der Kontrolle politischer Parteien und entstehender zivilgesellschaftlicher Strukturen“.

 

Technologie ermöglicht Führerlosigkeit

 

Hierbei spielten die sozialen Medien – wie bereits 2011 – eine bedeutende Rolle, indem sie den Protestierenden eine dezentrale Kommunikation ermöglichten. Schwierig kontrollierbare Messagingdienste mit Ende-zu-Ende-Verschlüsselung wie Telegram, Twitter zur Verbreitung von Protestaufrufen sowie Facebook-Gruppen für den Austausch von Slogans und Protestrufen machten Anführer, zumindest für die Durchführung von Protestaktionen, obsolet. Im Libanon und im Irak fand die Mobilisierung hauptsächlich über kleine Gruppierungen und soziale Netzwerke statt.

 

Neustrukturierung als Notwendigkeit?

Diese Art der führerlosen Protestorganisation macht eine Umsetzung der Protestziele jedoch schwierig. Ein Hochskalieren dieser Kleingruppen politischer „Amateure“ erfordert Know-how, Organisationserfahrung, Ressourcen und – vor allem – Zeit. Auch braucht es zur erfolgreichen Erzielung politischer Ergebnisse – das zeigen die Gegenrevolutionen und das Versinken in Bürgerkriegen nach 2011 – hochgradig strukturierte und strategisch agierende Organisationen. Die Erfahrungen von 2011, gekoppelt mit dem Überlebensdrang der politischen Elite, zeigen jedoch die Unfähigkeit dieser Protestformen, Jahrzehnte alte und tief verwurzelte Strukturen politischer und wirtschaftlicher Herrschaft zu beenden. Die meisten Staaten konnten die sozialen Bewegungen in ihren Ländern damals ausmanövrieren.

Die Demonstrierenden der zweiten Protestwelle haben verdeutlicht, dass sie nicht verstummen, bis ihre Probleme ernsthaft angegangen werden. Die Proteste sind ein Indiz für die mangelnde Responsivität des Systems gegenüber den Interessen der Bürger. Wie können die ungebündelten Forderungen der Bevölkerung aus dem vorpolitischen Raum in die politische Debatte eingebracht und die Wut der Straße in konstruktive politische Beteiligung und Gestaltungsmacht übersetzt werden? Und wie können sich politische Parteien an diesem Dialog beteiligen?

 

Etablierte Parteien reformieren

Politische Parteien, die über ethnisch-konfessionelle Grenzen hinweg und entlang politischer Überzeugungen mobilisieren, eine nationale Identität fördern und – angefangen auf lokaler Ebene – Vertrauen in ihre Regierungsführungskapazitäten schaffen, könnten eine Chance haben. Sie müssten Reformen des Wirtschaftsmodells vorschlagen und durch Parteiengesetze, die Regeln und Bedingungen für die Neugründung und den Fortbestand politischer Parteien formulieren, eingeschränkt werden. Sie müssten durch innerparteiliche Reformprozesse eine Kultur der Verantwortung entwickeln und das Vertrauen der Bürger in traditionelle Partizipationsmechanismen wie Wahlen und Kandidaturen zurückgewinnen. Experten aus der Region sehen hier bei den etablierten Parteien jedoch kaum eine Chance.

Der irakische Analyst Sajad Jiyad sieht zwar die Möglichkeit, das Vertrauen der eigenen Basis und der traditionellen Wähler zu erhalten. Dieses jedoch von den „entmachteten Massen“ zurückzugewinnen, sei kaum möglich. Hierfür wäre eine ressourcen- und zeitaufwändige Generalüberholung nötig, die von Transparenzinitiativen über interne Umstrukturierungen bis zu Anpassungen der Parlamentsaktivitäten reichen müsste. Die aktuelle sozioökonomische Lage erlaube auch keine Weiterführung des Klientelismusmodells. Auch der libanesische Wissenschaftler André Sleiman sieht bei den etablierten Parteien in Anbetracht der fehlenden internen Demokratie, Redefreiheit und Rechenschaftspflicht keine Chance auf Reform. Das Vertrauen in Parteien als politisches Strukturelement, als Organisationsform, sei jedoch weiterhin vorhanden. In Algerien sind die formalen politischen Institutionen und Parteien aufgrund ihrer Verbundenheit mit dem alten Bouteflika-Regime völlig diskreditiert. Yahia Zoubir sieht daher deren Abrutschen in die Irrelevanz voraus und als Lösungsmöglichkeit eine Auflösung aller Parteien und deren Neuaufbau unter strengeren Regulierungen.

 

Politische Führerlosigkeit überwinden

Der Kampf um einen Gegenentwurf zur herrschenden Elite scheitert vor allem am Mangel alternativer politischer Kräfte, die als glaubwürdig eingestuft werden und sich effizient organisieren können. Der Weg aus der aktuellen Krise scheint also nur durch eine intrinsische Entwicklung programmatischer Organisationen aus den Reihen der Protestierenden heraus möglich. Bei dieser Überwindung der politischen Führerlosigkeit kann die Arbeit internationaler Institutionen vor Ort anschließen.

Unabhängige zivilgesellschaftliche Institute sind für die Entwicklung politischer und sozioökonomischer Lösungsvorschläge unabdingbar.

In vielen Ländern der Region fehlt es an Austauschplattformen für junge Menschen und speziell für zukünftige Führungskräfte im zivilgesellschaftlichen und politischen Bereich, wo politische Gestaltungsideen diskutiert und Organisationsstrukturen hochgezogen werden können. Es fehlen Schulungseinrichtungen, die über die Funktionsweise politischer Prozesse aufklären, die rechtlichen Hintergründe für Partei- und Vereinsgründungen vermitteln, zu Engagement in Gemeinden motivieren sowie Raum für die Auseinandersetzung über Konzepte wie Bürgerschaft, Transparenz und Rechenschaftspflicht schaffen. Auch sollten die Mitarbeiter staatlicher Institutionen in ihrem Verständnis der grundlegenden Aufgaben des Staates, der Mechanismen und Prinzipien guter Regierungsführung, öffentlicher Ordnung und Verwaltung gestärkt werden. Hier bieten sich besonders lokale Akteure wie Gemeindeverwaltungen und deren Bürgermeister an, da auf kommunaler Ebene oft größerer Handlungsspielraum besteht und Ergebnisse besserer Regierungsführung direkt spürbar sind.

Internationale Institutionen können zusätzlich bei der Erweiterung der bislang noch schwachen lokalen Thinktank-Kultur unterstützen. Unabhängige zivilgesellschaftliche Institute sind für die Entwicklung politischer und sozioökonomischer Lösungsvorschläge unabdingbar. Die Schützenhilfe von außen sollte sich dabei allerdings immer an den jeweiligen politischen Möglichkeitsraum anpassen und an konkreten Bedürfnissen orientieren. In vielen Ländern wird ausländische Einmischung sehr kritisch aufgefasst. Hier sollte Europa in einen offenen Erfahrungsaustausch treten – auch um die Protestbewegungen durch eine Einmischung nicht zu diskreditieren.

 

Entwicklung eines modernen Staatsverständnisses

Auch zehn Jahre nach seinem Beginn ist der „Arabische Frühling“ keine abgeschlossene Sache. Er ist ein Prozess, eine sich wandelnde Kultur des Protests und der Einforderung von Verantwortlichkeit, der in vielen Ländern der Region seit 2010/11 zu beobachten ist. Er ist zu einer Referenz der arabischen Jugend geworden, ihren Forderungen weiter Nachdruck zu verleihen. Über all dem steht die Neuaushandlung einer tragfähigen politischen Vereinbarung und die Schaffung eines nachhaltigen Bürger-Staat-Verhältnisses – eine der Hauptmotivationen der Proteste vor zehn Jahren. Die Wahrnehmung dieses Verhältnisses hat sich verändert. In vielen Ländern der Region, auch in denen ohne jüngste Protestausbrüche, fordern Bürger die staatliche Fürsorgepflicht ein.

Der autoritäre Gesellschaftsvertrag der alten Ordnung, basierend auf leistungsbezogenen Formen der Legitimation und dysfunktionalen Rentenökonomien, konnte die Kernkomponenten guter Regierungsführung nicht erfüllen und hat in den Augen großer Bevölkerungsteile ausgedient. Um einen Teil der Spannungen, die sich derzeit zusammenbrauen, abzuschwächen und langfristig Stabilität zu fördern, bedarf es der Konzeptualisierung eines bürgerorientierten, modernen arabischen Staates, der sich auf Rechtsstaatlichkeit, verantwortungsvolles Regierungshandeln und soziale Gerechtigkeit stützt. Hierfür muss das Engagement auf den Straßen in Dialog umgewandelt und als Beteiligung am politischen Prozess kanalisiert werden. Die für dieses Jahr angesetzten Wahlen in mehreren Ländern der Region, darunter auch Parlamentswahlen im Irak Ende 2021, könnten eine Chance hierfür bieten.

Weitere Publikationen und politische Analysen zum zehnjährigen Jubiläum des „Arabischen Frühlings“ finden Sie auf unserer Themenseite: www.kas.de/arab-spring.

 


 

 

Simon Engelkes ist Referent in der Abteilung Naher Osten und Nordafrika der Konrad-Adenauer-Stiftung.

 


 

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