Ausgabe: 3/2022
Ein Land am Boden
Meist überschattet von anderen (gewaltsamen) Krisen in der Welt, offenbart der Blick auf die aktuelle Lage im Südsudan ein katastrophales Bild. Das Leben der Menschen ist von Armut, Not und Angst geprägt. Die Wirtschaft liegt am Boden, die Infrastruktur ist völlig unzureichend. Die Jahre des Bürgerkrieges haben die ohnehin schwierige Ausgangslage des Landes weiter verschlechtert und tiefe Spuren hinterlassen. Schätzungsweise 383.000 Menschen kamen im Bürgerkrieg zwischen 2013 und 2020 ums Leben. Armut und Gewalt haben mehr als vier Millionen Südsudanesen in die Flucht getrieben. Mehr als 2,3 Millionen Menschen haben Zuflucht in Nachbarländern gesucht, weitere zwei Millionen leben als Binnenvertriebene im eigenen Land. Laut Vereinten Nationen sind 8,9 Millionen Menschen im Südsudan auf humanitäre Hilfe angewiesen – mehr als zwei Drittel der Bevölkerung. Dürren und Flutkatastrophen sowie die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie haben die Lage zusätzlich verschärft. Auch die Folgen des Krieges in der Ukraine für die Versorgungslage drohen die Nahrungsmittelknappheit zu verschlimmern.
Hinter der Fassade eines fragilen Friedens kommt es zudem nach wie vor zu Gewaltausbrüchen und massiven Menschenrechtsverletzungen. Die Vereinten Nationen berichteten unter anderem von wiederholten Überfällen und Kampfhandlungen im Bundestaat Unity, wo zwischen Februar und April 2022 mindestens 72 Zivilisten ums Leben kamen. Im Bundesstaat Western Equatoria waren 2021 hunderte Menschen bei Kampfhandlungen zwischen oppositionellen und regierungsnahen Milizen getötet und rund 80.000 Menschen in die Flucht getrieben worden. Hilfswerke berichten immer wieder von Angriffen auf ihre Mitarbeiter. Menschenrechtsorganisationen und auch die UN schildern grausamste Menschenrechtsverletzungen: Folter, Exekutionen, sexuelle Gewalt. In diesem Kontext von Frieden zu sprechen, erscheint zynisch.
Der Staat versagt
Dieser katastrophalen Lage gegenüber stehen eine Regierung und eine öffentliche Verwaltung, die kaum in der Lage erscheinen, den immensen Herausforderungen effektiv zu begegnen. Der Staatsapparat ist nur in Teilen funktionsfähig und leidet unter einem enormen Maß an Korruption. Rechtsstaatliche Verfahren sind selten verlässlich, Willkür und Straflosigkeit an der Tagesordnung. Die eng miteinander verwobene politische, wirtschaftliche und militärische Macht im Land unterliegt kaum einer Kontrolle.
Die Liste des Versagens der Regierung ist lang und lässt sich wohl am besten wie folgt zusammenfassen: keine Grundversorgung, kein Frieden, keine Gerechtigkeit. Und damit einhergehend auch: ein eklatanter Mangel an staatlicher Legitimität.
In den Leitlinien der Bundesregierung zur Zusammenarbeit mit fragilen Staaten aus dem Jahr 2017 wird zwischen sechs grundlegenden Fragilitätsprofilen unterschieden. Der Südsudan fällt dabei sehr offensichtlich in die erste Kategorie der „zerfallenden oder dysfunktionalen Staaten mit erheblichen Schwächen in allen Dimensionen, häufig geprägt durch gewaltsame Auseinandersetzungen bis hin zu Bürgerkriegen“. In der Vergangenheit wurde hier oft auch die Kategorie der failed states, also der „gescheiterten“ Staaten angewendet, die aber in der Debatte mehr und mehr abgelöst wurde durch verschiedene Stufen der Fragilität. Das Label failed ist in seiner Absolutheit insofern unpassend, da selbst in den Extrembeispielen dysfunktionaler und zerfallender Staaten wie Syrien, Jemen oder Somalia der Staat gewisse Minimalfunktionen durchaus noch erfüllt. Die drei genannten Beispiele liegen im aktuellen Fragile States Index (Report 2021) übrigens noch vor dem Südsudan, der damit „nur“ noch an vierter Stelle der fragilsten Staaten steht.
Doch wie konnte der Südsudan aus der Unabhängigkeit direkt in die Fragilität driften? Wieso wurde aus der erhofften Erfolgsgeschichte nationaler Selbstbestimmung eine solche Tragödie? Auf der Suche nach Erklärungsfaktoren lohnt sich zunächst ein Blick zurück in die Geschichte der Staatsgründung.
Blutige Vorgeschichte
Die Staatswerdung des Südsudan hat eine blutige Vorgeschichte. Jahrzehnte des Bürgerkrieges zwischen dem marginalisierten Süden und dem dominanten Norden des Sudan hatten Millionen von Menschen das Leben gekostet und für den Süden de facto Entwicklungsstillstand bedeutet.
Die Wurzeln des Konflikts zwischen dem arabisch-muslimisch geprägten Norden und dem christlich dominierten Süden des Sudan reichen bis in die Kolonialzeit zurück, während der die britische Kolonialverwaltung die Trennung und Marginalisierung des Südens im Rahmen eines Divide-and-rule-Ansatzes zementierte. Bereits mit der Unabhängigkeit vom anglo-ägyptischen Kondominium im Jahr 1956 kamen Bestrebungen zur Sezession des Südens auf und führten zum ersten Bürgerkrieg, der bis 1972 andauerte. Ein Waffenstillstandsabkommen, das dem Süden einen gewissen Grad an Autonomie einräumte, hielt elf Jahre. Ab 1983 eskalierte der Konflikt erneut. Vor dem Hintergrund von Ölfunden im Süden hatte der Norden begonnen, schrittweise in die Autonomie einzugreifen. Zudem ließ die Regierung in Khartum für das gesamte Land die Scharia einführen. Es gründeten sich in der Folge die Befreiungsbewegung SPLM (Sudan People’s Liberation Movement) und ihr bewaffneter Arm SPLA (Sudan People’s Liberation Army) unter Führung von Colonel John Garang, dem es gelang, die weitgehende Kontrolle über den Süden zu übernehmen. Aufkeimende Hoffnungen auf einen Friedensprozess Ende der 1980er-Jahre wurden mit der Machtübernahme von Omar al-Baschir in Khartum durch einen Staatsstreich 1989 zunichte gemacht. Es sollte danach über 15 Jahre dauern, bis es schließlich zu einem Friedensabkommen kam. Die lange Zeit des Bürgerkrieges hatte verheerende Folgen: Hungersnöte, Vertreibung und Versklavung sowie eine Gesamtzahl von Todesopfern, die auf über zwei Millionen geschätzt wird.
Friedensabkommen und Unabhängigkeit: Phase der Hoffnung
Aufgrund internationalen Drucks, vor allem seitens der USA, stimmte die Regierung al-Baschirs 2003 Friedensgesprächen mit der SPLA zu, die 2005 zum Abschluss eines Friedensabkommens führten. Dieses sah unter anderem die Schaffung einer autonomen Region unter Verwaltung der SPLM vor, die Nichtanwendung der Scharia im Süden, die Teilung der Einnahmen aus den Ölvorkommen im Südsudan sowie die Einrichtung einer Regierung der nationalen Einheit mit einem von der SPLM gestellten Vizepräsidenten. Nach einer Übergangsphase von sechs Jahren sollte dann ein Referendum über die Unabhängigkeit des Südens entscheiden. John Garang wurde zum Vizepräsidenten ernannt, kam jedoch wenige Wochen später bei einem Hubschrauberabsturz ums Leben. Die Umstände sind bis heute nicht eindeutig geklärt. Im Gegensatz zu Garang trat sein Nachfolger Salva Kiir vehement für die Sezession des Südsudan ein.
Als im Januar 2011 schließlich die Bürger des Südsudan zur Volksabstimmung aufgerufen wurden, stimmten knapp 99 Prozent für die Unabhängigkeit. Dieses überwältigende Votum lässt sich unter anderem mit der tiefen Abneigung gegenüber dem Norden, dem Gefühl der Benachteiligung und dem verbindenden Charakter des gemeinsamen Befreiungskampfes erklären.
In der Bevölkerung löste der Schritt in die Unabhängigkeit große Begeisterung und Hoffnung auf eine bessere Zukunft aus. Auch bei den internationalen Partnern überwogen der Optimismus und das aus heutiger Sicht naive Ziel, den Neuzugang in der Staatengemeinschaft vom Hoffnungsträger zum Musterschüler zu machen. Doch manche Beobachter äußerten schon damals Skepsis vor dem Hintergrund der äußerst schwierigen Ausgangsbedingungen.
Exemplarisch sei an dieser Stelle auf die damalige Einschätzung der Konrad-Adenauer-Stiftung verwiesen:
„Ob sich der Südsudan als funktionierender und unabhängiger Staat etablieren kann, hängt (…) jenseits der Beziehungen zum Nordsudan auch von mehreren Faktoren auf lokaler Ebene ab. Zentrale Spannungsfelder sind unter anderem das Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie, die Entwicklung einer pluralistischen Demokratie mit gestärkten zivilgesellschaftlichen Kräften sowie der Aufbau eines effektiven Staatsapparates. Gegenwärtig existiert eine Konzentration auf Aufgaben der Verteidigung zu Lasten der Schaffung einer korruptionsfreien zivilen Verwaltung, die zur flächendeckenden Bereitstellung von Infrastruktur und Dienstleistungen in der Lage ist. Ein langfristiges Abhängigkeitsverhältnis von der internationalen Staatengemeinschaft ist absehbar.“
Mit Blick auf die ernüchternde Realität elf Jahre nach der Unabhängigkeit lässt sich konstatieren: In keinem der angesprochenen Punkte konnten die notwendigen Fortschritte erzielt werden.
Das „verlorene Jahrzehnt“ nach der Unabhängigkeit
Die Hoffnungen auf Frieden und Stabilität nach dem Schritt in die Unabhängigkeit wurden alsbald bitter enttäuscht. Alte interne Konflikte brachen schnell auf. Ende 2013 eskalierte ein seit Langem schwelender Machtkampf zwischen dem Präsidenten Salva Kiir sowie seinem Stellvertreter Riek Machar und führte zu einem blutigen Bürgerkrieg. Nun standen sich nicht mehr Nord- und Südsudan feindlich gegenüber, sondern zwei politische Lager innerhalb des Südens.
Vordergründiger Ausgangspunkt des Konflikts war eine bewaffnete Auseinandersetzung zwischen den jeweiligen Leibgarden von Kiir und Machar, die eine Spirale der Gewalt auslöste. Der daraus resultierende Bürgerkrieg wurde in erster Linie entlang ethnischer Linien ausgefochten. Die beiden politischen Protagonisten mobilisierten ihre Unterstützung aus ihrer jeweiligen Volkgruppe. Präsident Kiir zählte auf die Volksgruppe der Dinka, der er selbst angehörte und die weitgehend den Regierungstruppen treu blieb. Machar unterdessen mobilisierte Vertreter seiner Ethnie, der Nuer, die in großen Teilen die SPLA verließen und sich zur abtrünnigen SPLA i.O. (in Opposition) zusammenschlossen. Zahlreiche Versuche zur Umsetzung von Friedensabkommen scheiterten zunächst. Ein schließlich im August 2015 geschlossenes Abkommen war schon im Juli 2016 wieder hinfällig, nachdem die eingesetzte Übergangsregierung der nationalen Einheit zerbrochen war. Der damalige UN-Generalsekretär Ban Ki Moon brachte die Frustration der internationalen Gemeinschaft in Anbetracht dieser Entwicklungen auf deutliche Weise zum Ausdruck: Kiir und Machar seien interessengesteuerte Verächter des Menschenrechts. „Sie verhöhnen jedes Versprechen von Frieden. Selten hat ein Land so viele Chancen so schnell verschwendet.“
Im September 2018 gelang schließlich in einem neuen Anlauf die Unterzeichnung des bis heute geltenden Friedensabkommens. In der Zwischenzeit waren die Konfliktdynamiken zunehmend komplexer geworden. Je länger der Krieg andauerte, desto mehr zerfransten die zwei Lager in zahlreiche Splittergruppen und Milizen. Das Abkommen von 2018 wurde schließlich von insgesamt zwölf bewaffneten und politischen Gruppen unterzeichnet. Diese Komplexität und das anhaltende tiefe Misstrauen zwischen Kiir und Machar machen die effektive Umsetzung des Friedensabkommens enorm schwierig. Fristen für im Abkommen festgelegte Meilensteine in Richtung einer nachhaltigen Lösung wurden regelmäßig verpasst. Die Bildung einer neuen inklusiven Übergangsregierung gelang erst im Februar 2020 unter wachsendem internationalen Druck. Seitdem gilt der Krieg zwar als beendet, doch von einem echten Frieden kann kaum die Rede sein. Die Lage bleibt angespannt und volatil. Das Leid der Bevölkerung setzt sich fort. Menschen bleiben auf der Flucht. Immer wieder kommt es punktuell zu Gewalt, zumal sich der Konflikt immer mehr auf die kommunale Ebene verlagert hat und es regelmäßig zu lokal begrenzten Zusammenstößen zwischen verschiedenen Gemeinden und Ethnien kommt.
Zum zehnjährigen Jubiläum der Unabhängigkeit im Juli 2021 gab es vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen wenig bis gar nichts zu feiern. Der südsudanesische Rat der Kirchen brachte die vorherrschende Stimmung in einer öffentlichen Erklärung auf den Punkt: Die Jahre seit der Unabhängigkeit seien eine „verschwendete Dekade“.
Auf dem Weg zu demokratischen Wahlen?
Im Februar 2023 soll die im Friedensabkommen festgehaltene Übergangsperiode enden – nach Durchführung demokratischer Wahlen. Doch die Umsetzung weiterer wichtiger Elemente des Abkommens lässt auf sich warten. Das betrifft unter anderem Fragen des Wiederaufbaus, der ökonomischen und politischen Reformen und der Stärkung der Rechtsstaatlichkeit. Die dringend notwendige Arbeit zur Entwicklung einer neuen Verfassung wurde weitgehend vernachlässigt.
Beiden Seiten wird ein mangelnder Wille zur konsequenten Umsetzung vorgeworfen. Insbesondere Kiirs SPLM sieht sich der Kritik ausgesetzt, sie habe einen Weg eingeschlagen, der dem Grundcharakter des Friedensabkommens widerspreche. Die SPLM i.O. klagt über wiederholte Angriffe auf ihre Stützpunkte durch Regierungstruppen und regierungsnahe Milizen. Kritische Beobachter sehen eine bewusste Strategie Kiirs zur Schwächung der SPLM i.O. und Marginalisierung Machars. Zudem werden anhaltende Menschenrechtsverletzungen, Korruption, Straflosigkeit und ein übermäßig autoritäres Vorgehen gegen kritische Stimmen in Medien und Zivilgesellschaft beklagt.
Der vom UN-Sicherheitsrat mandatierte Expertenrat (Panel of Experts) zur Lage im Südsudan fällte in seinem Bericht vom April 2022 ein vernichtendes Urteil: Im Grunde sei nahezu das gesamte Paket des Friedensabkommens zur „Geisel der politischen Berechnungen der militärischen Eliten des Landes“ verkommen. Diese nutzten „eine Kombination aus Gewalt, Veruntreuung öffentlicher Ressourcen und Patronage“, um ihre eigenen engsten Interessen zu verfolgen.
Um den Zeitplan einhalten zu können, müssten Wahlen spätestens Anfang 2023 durchgeführt werden. Dieses Vorhaben erscheint unter den aktuellen Vorzeichen äußerst unrealistisch. Es fehlt im Grunde in allen Bereichen: Wahlberechtigte Bürger sind nicht systematisch erfasst, zumal sich ein großer Teil von ihnen nach wie vor auf der Flucht befindet. Die notwendigen politischen Reformen zur Regulierung des politischen Wettbewerbs stehen aus, es fehlt an grundlegender Infrastruktur, an Personal und an den notwendigen finanziellen Mitteln zur Vorbereitung und Durchführung der Wahlen. Ohne zügige und intensive Vorbereitungen und massive Unterstützung von außen sind freie und faire Wahlen kaum zu realisieren, Chaos wäre vorprogrammiert. Nicht nur gefährden die anhaltende Volatilität und immer wieder aufkeimende Gewalt den reibungslosen Ablauf von Wahlen – die Wahlen selbst bergen auch das Risiko, zur erneuten flächendeckenden Eskalation des in seiner Grundproblematik nach wie vor ungelösten Konflikts beizutragen. Je näher die geplanten Wahlen und das Ende der Übergangsphase rücken, desto deutlicher treten die bisherigen Versäumnisse zu Tage und desto lauter werden Stimmen, die eine Anpassung des Zeitplans fordern. Und selbst das würde womöglich nicht ausreichen. Es ist generelle Skepsis angebracht. Ohne ein grundlegendes Überdenken der bisherigen Ansätze ist ein nachhaltiger Fortschritt im Sinne des Friedensabkommens schwer vorstellbar.
Suche nach Erklärungen
Die anhaltend ernüchternde Realität im Südsudan wirft die Frage auf: Was ist schiefgelaufen? Wie lässt sich diese Geschichte des Scheiterns erklären? Eine einfache Antwort lässt sich hier nicht geben. Vielmehr geht es um ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren:
- Historisches Erbe und schwierige Entwicklungsvoraussetzungen: Die leidvolle Geschichte des Südsudan hat tiefe Spuren hinterlassen. Jahrzehnte des Konflikts und der Ausbeutung durch den Norden haben jeden Entwicklungsfortschritt im Ansatz erstickt. Am Ende des Bürgerkrieges gegen den Norden galt der Süden des Sudan als die am wenigsten entwickelte Region weltweit. Für den Aufbau eines unabhängigen Staats waren die vorhandenen Grundlagen mehr als dürftig. Abgesehen von den Ölvorkommen verfügte man kaum über nennenswerte eigene Ressourcen. Aufgrund der historischen Marginalisierung mangelte es an grundlegender Infrastruktur, die soziale Versorgung war katastrophal, das Bildungsniveau äußerst niedrig, das für den Aufbau einer funktionierenden staatlichen Verwaltung notwendige qualifizierte Personal kaum vorhanden.
- Mangel an zivilen Strukturen und Prozessen: Die mangelnde Autonomie und die Abhängigkeit von Khartum sowie die jahrzehntelang dominierende Logik des Widerstands und bewaffneten Konflikts führten dazu, dass sich im Südsudan kaum zivile Strukturen entwickelten. Es fehlte an Erfahrungen mit ziviler Konfliktbearbeitung, partizipativen Prozessen und demokratischer Selbstverwaltung. Die permanente Erfahrung von Gewalt und Militarismus ist schwer zu überwinden. Im Schatten der primär für den bewaffneten Kampf entwickelten Strukturen blieb kaum Raum für die Entwicklung pluralistischer Organisationsformen.
- Ethnizität und nationale Identität: Der Südsudan ist ein Vielvölkerstaat, der als Teil des Sudan wie viele Staaten Afrikas zu einem gewissen Grad ein artifizielles Konstrukt der teils willkürlichen Grenzziehung durch die damaligen Kolonialmächte darstellt. Dies wurde zu Zeiten des Krieges gegen den Norden oft übersehen. Die Vorstellung einer verbindenden nationalen Identität speiste sich fast ausschließlich aus dem alles überragenden Kampf um Autonomie und zu einem wesentlich geringeren Teil aus der Religion. Der Konflikt zwischen dem muslimisch geprägten Norden und dem mehrheitlich christlichen Süden überdeckte dabei weitgehend die innerhalb des Südsudan vorhandenen Konfliktlinien. Diese traten dann nach der Unabhängigkeit umso deutlicher zu Tage und führten unter anderem dazu, dass der Machtkampf der Eliten entlang ethnischer Linien eskalieren konnte. Eine positive nationale Identität konnte sich im neuen unabhängigen Staat bisher kaum entwickeln.
- Ressourcenfluch und Rentenökonomie: Südsudans Ölvorkommen wären in der Theorie eine gute Basis, um den jungen Staat nach der Unabhängigkeit überlebensfähig zu machen und das Land zu entwickeln. Doch wie so oft erweist sich das Öl in der Praxis eher als Fluch denn als Segen. Missmanagement und Gier haben dazu geführt, dass weniger das Land als vielmehr eine kleine korrupte Elite von den Einnahmen profitiert. Zudem hat sich in der Kombination aus Öleinnahmen auf der einen und massiven Entwicklungshilfegeldern auf der anderen Seite eine Rentenökonomie entwickelt. Und während die Einnahmen aus dem Ölgeschäft in privaten Taschen landen und die Kriegsökonomie befeuern, werden die notwendigen Ausgaben für Grundversorgung und Entwicklungsvorhaben den internationalen Gebern überlassen.
- Korruption: Die bereits angesprochene Korruption hat im Südsudan Ausmaße angenommen, die den Staatsapparat nahezu konstant an den Rand des Zusammenbruchs treiben. In der neopatrimonialen Kleptokratie versickert so viel Geld, dass es dem Staat nahezu unmöglich ist, seinen grundlegenden Aufgaben nachzukommen. In der Vergangenheit machte Präsident Kiir wiederholt mit seinen Aufforderungen Schlagzeilen, korrupte Regierungsmitglieder und Staatsbeamte mögen unterschlagene Gelder zurückgeben, da die öffentliche Verwaltung kurz vor dem Zusammenbruch stehe.
- Gewaltökonomie: Mit Blick auf das Öl und andere Bodenschätze und im Kontext einer schwachen öffentlichen Ordnung hat sich in langen Jahren des Bürgerkrieges eine lukrative Kriegsökonomie etabliert. Die Bereicherung der Eliten mit Gewaltpotenzial aus diesen Ressourcen hat sich nicht nur zu einem eigenständigen Ziel, sondern zur dominanten Logik des Krieges entwickelt. Leider haben die bisherigen Friedensprozesse keine Lösung zum Durchbrechen dieser Logik geboten. Vielmehr sehen Kritiker in der Gestaltung der Friedensgespräche einen Teil des Problems, denn an den Verhandlungstisch werden primär jene Akteure eingeladen, die über Kriegshandlungen ihr Gewaltpotenzial unter Beweis stellen. Es ist daher auch Teil der unbequemen Wahrheit, dass anstehende und laufende Verhandlungen selbst die Gewaltspirale befeuern können.
- Mangelnde Demobilisierung und Integration der Sicherheitskräfte: Ein zentraler Knackpunkt bleibt die Demobilisierung und Reintegration der verschiedenen Truppen in eine vereinte nationale Armee. Diese sind im Friedensvertrag vorgesehen, aber bis heute kaum gelungen. Zehntausende von Ex-Kombattanten warten darauf, in die Armee eingezogen zu werden. Sie harren zumeist in diversen Militärcamps aus und suchen aus Mangel an Sold und Beschäftigung nach alternativen Überlebensstrategien. Dazu zählen auch Waffenschmuggel und Viehdiebstahl, wodurch die gewaltsame Eskalation lokaler Konflikte befeuert wird.
- Personen statt Institutionen: Es erscheint erstaunlich, dass mit Salva Kiir und Riek Machar auch nach elf Jahren Unabhängigkeit zwei Protagonisten das Geschehen dominieren, die wiederholt ihren mangelnden Willen und ihre Unfähigkeit unter Beweis gestellt haben, das Land zum Wohle der Bevölkerung und im Sinne von Frieden und Entwicklung zu führen. Der Druck von außen hat sie zwar immer wieder zu unliebsamen Kompromissen gezwungen, es aber nicht vermocht, die Fixierung auf ihre jeweilige Person zu überwinden.
- Mangelnde Rechenschaft und Straflosigkeit: Die Schwäche demokratischer Institutionen bedeutet auch, dass es kaum gelingt, die politisch Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Weitgehende Straflosigkeit ist dabei nicht nur mit Blick auf Korruption ein massives Problem, sondern auch mit Blick auf Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen. Dabei wäre eine Aufarbeitung der Kriegsgräuel eine zentrale Voraussetzung für einen nachhaltigen Frieden.
Externe Einflüsse
Neben den oben erwähnten Faktoren stellt sich auch die Frage nach der Rolle externer Akteure. Hier ist zunächst einmal die problematische unmittelbare Nachbarschaft hervorzuheben. Der Südsudan ist umgeben von Ländern, die zum Teil selbst mit Konflikten und Instabilität zu tun haben und sich oft wenig konstruktiv engagierten. Vielmehr unterstützten vor allem der Sudan im Norden und Uganda im Süden zeitweise einseitig Konfliktparteien und trugen so zur Ausweitung und Verlängerung des Bürgerkrieges bei.
Doch nicht nur die Nachbarländer spielen eine wichtige Rolle. Seit seiner Unabhängigkeit steht der Südsudan als jüngster Staat und „Sorgenkind“ im Fokus der internationalen Gemeinschaft. Mit der Unabhängigkeit 2011 beschloss der UN-Sicherheitsrat die Entsendung der Friedensmission UNMISS mit dem Ziel der Konsolidierung von Frieden und Sicherheit im Land sowie der Gewährleistung von stabilen Verhältnissen für die Entwicklung des Landes. Nach Ausbruch des Bürgerkrieges wurden die Prioritäten zugunsten des Schutzes der Zivilbevölkerung, eines Monitorings der Menschenrechtslage, der Unterstützung bei der Leistung humanitärer Hilfe und der Überwachung des Waffenstillstands neu definiert. Der Mission wurde mehrfach vorgeworfen, beim Schutz der Zivilbevölkerung zu versagen. Trotz einer Ausweitung des Mandats und der Truppenstärke (auf aktuell bis zu 17.000 Blauhelm-Soldaten) erfüllt die Mission nach wie vor nicht die Erwartungen. Dennoch kann die Erneuerung des Mandats für ein weiteres Jahr durch den Weltsicherheitsrat im März 2022 als Erfolg angesehen werden.
Auch mit Blick auf das diplomatische Engagement muss sich die internationale Gemeinschaft Kritik gefallen lassen. Nachdem immenser Druck ausgeübt wurde, um eine Unterzeichnung des Friedensabkommens zu erreichen, wurde nicht mit der gleichen Vehemenz die Umsetzung gefördert. Der Südsudan rückte aus dem Fokus, die Vermittlerrolle der Regionalorganisation IGAD (Intergovernmental Authority on Development) wurde vernachlässigt. Problematisch ist auch, dass die Nichtumsetzung zentraler Inhalte des Friedensabkommens bisher kaum Konsequenzen nach sich zog. Ein Waffenembargo konnte nach mehreren gescheiterten Anläufen erst im Juli 2018 verhängt werden. Sanktionsmöglichkeiten, vor allem gegen die für Korruption und Gewalt verantwortlichen Eliten, werden nach wie vor kaum ausgeschöpft.
Das Engagement externer Akteure, allen voran der USA und Chinas, muss natürlich auch im Kontext der geostrategischen Konkurrenz gesehen werden. Doch Versuche, die Krise im Südsudan als „Stellvertreterkrieg“ zu interpretieren, sind fehlgeleitet. Auch China hat – nicht zuletzt mit Blick auf das Ölgeschäft – kein Interesse daran, den Konflikt im Südsudan von außen weiter anzufachen. Der Südsudan ist eines der wenigen Beispiele, in denen China ein Stück vom sonst propagierten Gebot der Nichteinmischung abwich und sich unter anderem aktiv mit Truppen an der UN-Mission beteiligt. Nichtsdestotrotz kann von einem geeinten Auftreten der internationalen Gemeinschaft nicht die Rede sein. Ein Beispiel: Bei der Verlängerung sowohl der UN-Mission als auch des Waffenembargos enthielten sich China und Russland.
Fazit: Die internationalen Partner stehen in der Pflicht
Das Scheitern im Südsudan ist ohne Zweifel in erster Linie auf das Agieren der politischen Elite des Landes zurückzuführen, die – man kann es so deutlich sagen – kontinuierlich Verrat am eigenen Land begeht. Aber es ist gleichzeitig auch ein Scheitern der internationalen Gemeinschaft. Mit viel Euphorie und massiver finanzieller Hilfe – insbesondere seitens der USA – wurde die Unabhängigkeit des Südsudan unterstützt. Viele Probleme, die sich dabei schon frühzeitig abzeichneten, wurden jedoch ignoriert oder unterschätzt. Die historischen Belastungen und die komplexen Dynamiken im Südsudan wurden verkannt. Nicht nur mit Blick auf die verpassten Chancen beim Aufbau demokratischer Strukturen muss sich die internationale Gemeinschaft Kritik gefallen lassen, sondern auch hinsichtlich des Umgangs mit der Krise seit 2013. Zu lange wurden die Konfliktdynamiken unterschätzt und die Spielräume, um über Positivmaßnahmen, diplomatischen Druck und Sanktionen die Entwicklungen zu beeinflussen, nicht voll genutzt.
Es bleibt zum aktuellen Zeitpunkt völlig offen, ob es in absehbarer Zeit gelingen kann, das Blatt im Südsudan zu wenden und stabile Verhältnisse zu schaffen. Nach den vielen Enttäuschungen in der Vergangenheit ist Skepsis geboten. Kritiker werfen seit Langem die Frage auf, ob der Südsudan überhaupt bereit war für die Unabhängigkeit und ob die Eliten, die die Führung des Landes übernahmen, überhaupt fähig und gewillt sind, einen funktionierenden Staat aufzubauen. Doch die Fundamentalkritik, beim unabhängigen Staat Südsudan handele es sich um eine komplette Fehlkonstruktion, hilft in der Krise nicht weiter. Wohl aber die Einsicht, dass mit der bisherigen Strategie und mit der aktuell dominierenden Elite kaum ein friedlicher und demokratischer Staat zu machen ist.
Der gelegentlich vorgetragene Radikalvorschlag einer internationalen „Treuhandregierung“ schießt über das Ziel hinaus und wäre auch nicht umsetzbar. Aber der internationalen Gemeinschaft bleibt letztlich nichts anderes übrig, als sich länger und intensiver vor Ort zu engagieren, um mehr Krieg und Chaos zu verhindern und Entwicklungschancen zu ermöglichen. Ansonsten könnte im schlimmsten Falle der Staat zerfallen, ohne jemals richtig funktioniert zu haben.
Zu den Prioritäten des Engagements muss dabei weiterhin die humanitäre Hilfe zählen, um das anhaltende Leid der Bevölkerung zu lindern, sowie das Engagement im Rahmen der Friedensmission, um das Schweigen der Waffen zu gewährleisten. Darüber hinaus geht es aber auch um politischen Dialog und diplomatischen Druck, um die heimische politische Elite stärker in die Pflicht zu nehmen und nach Möglichkeit den Einfluss der bisherigen Protagonisten sukzessive zurückzudrängen. Das bedeutet auch, dass die fast ausschließliche Fokussierung auf die Lager Kiirs und Machars überwunden werden muss zugunsten eines inklusiveren Prozesses. Eine fortdauernde Konzentration auf eine rein technische Lösung der Machtteilung wird nicht ausreichen. Auch ökonomische Faktoren, die den Gewaltakteuren Anreize bieten, müssen stärker thematisiert werden.
Zu den wichtigen Vorhaben, die es anzugehen gilt, zählen vor allem ein inklusiver nationaler Dialog, eine Aufarbeitung der Gräuel des Krieges, eine Stärkung der Rechtsstaatlichkeit und Strafverfolgung, ein effektives Entwaffnungs- und Demobilisierungsprogramm und eine grundlegende Reform der Sicherheitskräfte, umfassende politische Reformen und die Entwicklung einer neuen demokratischen Verfassung. Die Durchführung demokratischer Wahlen steht hier als Meilenstein aktuell besonders im Fokus. Ohne die entsprechenden logistischen und politischen Weichenstellungen birgt diese aber ein hohes Risiko erneuter Konflikteskalation. Insofern erscheint der Zeitplan bis Anfang 2023 mittlerweile unrealistisch.
So schwierig bis unmöglich die Aufgabe erscheint: Die internationalen Partner, die sich so massiv als Geburtshelfer des Südsudan betätigt haben, stehen in der Pflicht, das Kind aus dem Brunnen zu holen und ihm zu helfen, endlich Laufen zu lernen. Die fundamentalen Fehler beim Weg des Landes in die Unabhängigkeit lassen sich im Nachhinein kaum korrigieren. Aber sie sollten eine Lehre sein für den zukünftigen Umgang mit Autonomie- und Sezessionsbestrebungen in Konfliktregionen und für neue Ansätze beim Aufbau funktionierender Strukturen im Kontext von Fragilität und schwacher Staatlichkeit.
Mathias Kamp ist Referent Östliches Afrika und Multilaterale Themen in der Abteilung Subsahara-Afrika der Konrad-Adenauer-Stiftung.
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