Ausgabe: 1/2021
Auf dem ersten Höhepunkt der Coronakrise im März 2020 erhielten zahlreiche Parteien Lateinamerikas Post von der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh). Übermittelt durch die chinesischen Botschafter im jeweiligen Land, forderte die KPCh dazu auf, eine „gemeinsame Erklärung der politischen Parteien“ zu einer „engeren internationalen Zusammenarbeit gegen COVID-19“ zu unterzeichnen. Hinter derartiger scheinbar konstruktiver Rhetorik verbarg der Text sein wahres Anliegen. So bescheinigte er China eine „offene, transparente und verantwortungsvolle“ Rolle in der Pandemie und wies jegliche „Stigmatisierung“ und „diskriminierendes Verhalten“ zurück – im impliziten Bezug auf die internationale Kritik an der chinesischen Informationspolitik. Doch damit nicht genug. Die Krise habe die Schwäche der Global Governance aufgezeigt, weshalb die Weltordnung überdacht werden müsse. Begleitet wurde die Erklärung durch eine diplomatische Offensive der KPCh mit dem Ziel, politische Parteien „in die Lage zu versetzen, Chinas Opfer und seine Beiträge zum globalen Kampf gegen die Pandemie unparteiisch zu beurteilen und die falschen Anschuldigungen weniger politischer Kräfte zurückzuweisen“, wie es die KPCh-Parteizeitung Qiushi (Wahrheitssuche) unzweideutig zusammenfasste. Nach offiziellen Angaben unterzeichneten „über 240 Parteien aus 110 Ländern“ die Erklärung, darunter 40 aus Lateinamerika. Es ist auffällig, dass trotz der ursprünglichen Ankündigung keine vollständige Auflistung der Unterstützerparteien auffindbar ist. Aus verschiedenen Quellen lässt sich erschließen, dass in Lateinamerika unter anderem die peronistische Partido Justicialista sowie die Partido Propuesta Republicana Argentiniens, die Arbeiterpartei Brasiliens, die linke Frente Amplio aus Uruguay sowie die Sozialistische Partei Chiles die Erklärung unterzeichneten. Wenig überraschend feierte Fu Jie, die stellvertretende Direktorin der Abteilung für Lateinamerika und die Karibik der die Partei-Außenpolitik verantwortenden Internationalen Abteilung der KPCh, den verstärkten Austausch als Vertiefung von „Freundschaft, gegenseitigem Verständnis und Unterstützung“ zwischen beiden Seiten. Es ist in diesem Zusammenhang wichtig zu erwähnen, dass im chinesischen Verständnis das Wort „Freundschaft“ immer eine politische Dimension hat und auf eine strategische statt einer persönlichen Beziehung hinweist. Nicht umsonst schärfte Staats- und Parteichef Xi Jinping den Delegierten einer Parteiveranstaltung 2015 ein, sich in der Kunst zu üben, „Freunde zu gewinnen“.
Die Vision: Lateinamerikas Parteien als geostrategische Alliierte
Zur Durchsetzung seines Machtanspruchs baut China Lateinamerika fest in seine geopolitischen Planungen ein. Seit seinem Amtsantritt 2013 besuchte Xi Jinping zwölf Länder Lateinamerikas – und damit mehr, als es die US-Präsidenten Obama und Trump zusammen getan haben. Lateinamerikas Parteien als Fokus chinesischer Außenpolitik sind dabei kein unbekanntes Phänomen. Ende der 1970er und in den 1980er Jahren vollzogen immer mehr lateinamerikanische Parteien den Schwenk von einer Anerkennung Taiwans hin zur Aufnahme von Parteienbeziehungen mit der KPCh. Nichtsdestotrotz hat das chinesisch-lateinamerikanische Parteienbeziehungsgeflecht in den letzten Jahren an Intensität gewonnen – eine Struktur, auf die Peking in der Coronakrise bauen konnte. Laut Angaben der Internationalen Abteilung der KPCh hielten Parteivertreter zwischen 2002 und 2020 mindestens 326 Treffen mit Parteien und Abgeordneten aus Lateinamerika ab. Allein zwischen Januar und Oktober 2020 gab es mindestens 24 formelle Kontakte – meist in digitaler Form.
Im Dezember 2017 forderte Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping bei einem ersten globalen High-Level-Meeting der politischen Parteien in Peking auch vor lateinamerikanischen Parteivertretern ein „neues Modell“ der Parteienbeziehungen, in dem Parteien sich auf ihre „Gemeinsamkeiten“ konzentrieren und sich gegenseitig „respektieren“, statt ihre Differenzen in den Vordergrund zu stellen. Was Lateinamerika angeht, hatte die KPCh bereits 2015 ein „Forum politischer Parteien China-CELAC“ ins Leben gerufen, zu dem auf dem Höhepunkt der sogenannten rosaroten Welle in Lateinamerika Vertreter von 27 meist linken, aber durchaus auch gemäßigten und konservativen Parteien aus der Region nach Peking reisten.
Die stärkere ideologische Affinität zu linksautoritären Parteienzusammenschlüssen wie dem Foro de São Paulo oder der Grupo de Puebla, dem „progressiven“ lateinamerikanischen Parteienbund COPPPAL oder dem lateinamerikanischen Ableger der Sozialistischen Internationale hält die KPCh nicht davon ab, auch zur Christdemokratischen Organisation Amerikas (Organización Demócrata Cristiana de América, ODCA) oder dem Mitte-rechts-Parteienbündnis Unión de los Partidos Latinoamericanos (UPLA) sowie deren Mitgliedsparteien Bande zu knüpfen, die sich nicht zuletzt in Delegationsreisen (s. u.) nach China widerspiegelten.
Lateinamerikas Parteien sind für die KPCh strategische Partner sowohl beim Umsetzen der harten, geostrategischen Ziele der chinesischen Außenpolitik als auch bei der Etablierung wohlwollender und idealisierter China-Narrative. Wichtige Bausteine sind das aggressive Einfordern lateinamerikanischer Unterstützung für die Belt and Road Initiative, welche nicht nur in Lateinamerika gerne als globales Entwicklungsprojekt statt als geostrategisches Machtmodell verkauft wird, sowie für die auf die internationale Isolierung Taiwans abzielende One-China policy. So hielt die KPCh seit 2002 mindestens 38 Treffen mit Vertretern der vier zentralamerikanischen Länder ab, die seit 2007 sukzessive Taiwan die diplomatische Anerkennung entzogen: Costa Rica, die Dominikanische Republik, El Salvador und Panama. Parteienbeziehungen bereiten offizielle politische Schritte häufig vor. So unterhielt die KPCh vor der offiziellen Anerkennung Chinas durch Panama laut dem dortigen chinesischen Botschafter „sehr enge und herzliche Beziehungen“ mit der traditionellen Mitte-links-Partei PRD, welche derzeit die Regierung anführt. Im Kontext von COVID-19 zementierte sich diese Verbindung in einem dreitägigen virtuellen Seminar unter Teilnahme von – nach Angaben der PRD – rund 60 Personen, darunter „höchste Funktionsträger beider Parteien“, der Ankündigung eines baldigen Besuches einer Parteidelegation in China sowie durch chinesische Spenden von Masken und medizinischem Gerät. In Costa Rica gerieten fünf politische Parteien unterschiedlicher Couleur wegen der laut Wahlgesetz verbotenen Annahme eines chinesischen Maskengeschenkes ins Kreuzfeuer der Justiz. In Paraguay, dem letzten südamerikanischen Land, welches diplomatische Beziehungen zu Taiwan unterhält, besteht eine enge Beziehung der KPCh zur linken Partei Frente Guasú, die im April 2020 vorerst erfolglos einen Antrag auf diplomatische Anerkennung Pekings in den paraguayischen Senat einbrachte.
Gerade in der ohnehin stark von informeller Kommunikation geprägten politischen Kultur Lateinamerikas bieten Parteienbeziehungen der KPCh eine Möglichkeit, die Interessen Chinas in einem flexibleren Format voranzutreiben, als dies Regierungsbeziehungen bieten. Eines der jüngsten Beispiele ist der Auftritt des Chefs der Internationalen Abteilung der KPCh, Song Tao, bei einer Videokonferenz mit kommunistischen Parteien Lateinamerikas zu COVID-19. Er ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen, das „Sicherheitsgesetz“ in Hongkong für sakrosankt zu erklären und sich jegliche Einmischung in interne Angelegenheiten Chinas zu verbieten.
Die Verflechtung von Partei- und Staatsführung in China führt in Peking lediglich zu einer rhetorischen Trennlinie zwischen beiden Sphären. Nicht zuletzt deshalb ist jeder Parteikontakt für die KPCh direkt mit massiven politischen und wirtschaftlichen Interessen Chinas verbunden. Dieser evidente Zusammenhang erschließt sich lateinamerikanischen Parteivertretern nicht immer, da sie selbst meist eine strikte Trennung von Partei- und Staatsaktivität gewohnt sind.
Es kommt nicht von ungefähr, dass sich die KPCh mit den autokratischen Staatsparteien Lateinamerikas am wohlsten fühlt. Unterstützung für die Regimes in Kuba oder Venezuela bedeutet immer auch Hilfe für die jeweilige Staatspartei – und umgekehrt. Auch das Ansinnen solcher Kräfte, jegliche demokratische Öffnung und eine Herausforderung des eigenen Machtmonopols zu unterbinden, versteht die KPCh bestens. So überrascht es nicht, dass China der linksautokratischen Sozialistischen Einheitspartei Venezuelas (Partido Socialista Unido de Venezuela, PSUV) 2017 Ausrüstung lieferte, um demokratische Proteste niederzuschlagen. Von autoritären Staatsparteien getragene Regimes sind für die KPCh berechenbarer als demokratisch legitimierte Regierungen wechselnder parteipolitischer Couleur – und damit langfristig besser zur Durchsetzung geopolitischer Machtansprüche geeignet.
Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass China Partei und Staat als Einheit versteht, überrascht es wenig, dass China auch in demokratischen Staaten Lateinamerikas besonders daran interessiert ist, gleichzeitig enge Beziehungen zu den Regierungen und zu den Regierungsparteien zu pflegen. Beispiele hierfür sind die Verbindungen der KPCh zu den Regierungsparteien in den besonders rohstoffreichen Ländern Brasilien (Partido dos Trabalhadores, 2003 – 2016), Ecuador (Alianza País, 2007 – 2017) und Peru (Partido Nacionalista Peruano, 2011 – 2016) sowie zur argentinischen Propuesta Republicana (PRO, 2015 – 2019).
Die Strategie: Opulente Einladungen und diplomatischer Druck
Gegenüber den Parteien Lateinamerikas ist persönliche Diplomatie durch Einladungen nach China das wohl wichtigste Instrument Pekings. Beim High-Level-Meeting der politischen Parteien 2017 kündigte Xi Jinping an, bis 2023 15.000 Parteimitglieder zum „Austausch“ nach China zu bringen. Teilweise werden Parteipolitiker zu verschiedenen Foren und Studienprogrammen eingeladen, oder es werden von der KPCh Delegationsreisen für einzelne Parteien oder Parteienzusammenschlüsse organisiert.
Während sich die Einladungen an Personen aus dem gesamten ideologischen Spektrum richten, sind die Zielpersonen strategisch ausgewählt. Besonders umgarnt werden aktive und ehemalige Mandatsträger, Mitglieder politischer Parteien in Regierung oder Opposition, aktive Parlamentarier und Nachwuchspolitiker, die für eine weitere Karriere prädestiniert erscheinen. Nach Aussage eines Akademikers der chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften sind die Verbindungen so eng, dass lateinamerikanische Parteifunktionäre sogar eingeladen würden, „ihre Ferien in China zu verbringen“. Diese Strategie scheint erfolgversprechend. Bis 2012 hatte China rund 20 politische Führungspersonen eingeladen, die später in ihren Ländern in das Staatspräsidentenamt gewählt wurden. Derartige Reisen, bei denen alle Kosten übernommen werden, haben oft einen hypnotischen Effekt auf die Besucher. Sie fliegen in der Business Class, residieren in Fünf-Sterne-Hotels und werden mit chinesischer Gastfreundschaft verwöhnt. Aber es ist das sogenannte chinesische Wunder, welches die Gäste besonders beeindruckt. Gefiltert durch die Sicht der KPCh erfahren die Gäste die Geschichte der Transition vom Maoismus bis in die heutige Zeit, die kulturellen Monumente, die Geschäftsatmosphäre, die imposante Infrastruktur, die Zahlen der Armutsreduzierung, das Wirtschaftswachstum, die zahlreichen Millionäre und sogar die Aussicht auf eine chinesische Mondlandung. „Sie kaufen mittelmäßige Leute mit Reisen nach China einfach dadurch, dass sie die Wunder des Landes zeigen. Wer das nicht richtig einordnen kann, fällt auf die Knie“, berichtet eine lateinamerikanische Politikerin. Gespräche der Autoren mit weiteren Reiseteilnehmern lassen erkennen, dass es auch das vermittelte Gefühl der eigenen Bedeutsamkeit und Wertschätzung ist, welches lateinamerikanische Politiker in die offenen Arme der KPCh laufen lässt. Diese Erfahrung ist eine willkommene Abwechslung zum oft harten Politikeralltag, den täglichen Anfeindungen daheim oder dem erlebten politischen Bedeutungsverlust der eigenen Person oder Partei. Wenn man dann, wie im Rahmen des zweiten CELAC-China-Parteienforums 2018, die Entwicklung der Stadt Shenzhen in drei Dekaden vom Fischerdorf zur modernen Metropole nähergebracht bekommt, das rund 55 Kilometer lange Brücken- und Tunnelsystem zwischen Hongkong und Macao besichtigen darf sowie in der Sonderwirtschaftszone Zhuhai als Ehrengast begrüßt wird, verfehlt dies seine Wirkung nicht. Ein Teilnehmer dieser Reise berichtet: „Die Chinesen verkauften uns implizit ihr Entwicklungsmodell. Es war gar nicht notwendig, dies explizit zu tun, aber sie vermittelten uns die Botschaft, dass die Dinge umgesetzt werden können, wenn nur der politische Wille vorhanden ist.“
Das bemerkenswerte Netzwerk informeller „Freundschaften“ verschafft der KPCh einen strategischen Schatz in Form loyaler und oft einflussreicher Ansprechpartner in ganz Lateinamerika. Der andauernde Honeymoon der lateinamerikanischen Politik mit China geht dabei mit einem erstaunlichen Unwissen regionaler Eliten gegenüber der Geschichte des Reiches der Mitte, seinem Staatskapitalismus, den Schattenseiten des chinesischen Entwicklungsmodells und allgemein dem Modus Operandi der KPCh einher. Dies gibt der KPCh die Möglichkeit, wohlwollende China-Narrative mit minimaler externer Interferenz bei den Zielpersonen zu platzieren. Mehr als freundschaftlichen Kontakten gleichen die Besuchsprogramme somit Erziehungsreisen. Javier Miranda, der Vorsitzende der uruguayischen Linkskoalition Frente Amplio, bezeichnete seine Reisen als „Lehre, die uns in die Lage versetzt hat, den Aufbau des Volkes zu verstehen“, und ihn zu dem Schluss brachte, dass die KPCh eine „vertrauenswerte Partei“ sei. Die aufgebaute Nähe zwischen der KPCh und der ehemaligen uruguayischen Regierungspartei von 2005 bis 2020 äußerte sich im dreimaligen Besuch Mirandas in China innerhalb von zwei Jahren sowie im Empfang mehrerer chinesischer Delegationen in Montevideo.
Bei dieser Art der Reisediplomatie besteht kein Interesse an einem Austausch, am Aufzeigen verschiedener Blickwinkel auf China, am Kennenlernen des Volkes. Vielmehr werden Gäste von den ausschließlich der KPCh verbundenen Gesprächspartnern intensiv mit dem immergleichen Mantra der „Freundschaft“, des „gegenseitigen Respektes“, der „Schicksalsgemeinschaft der Menschheit“ sowie der Legitimierung und Lobpreisung des chinesischen Staatsmodells bespielt. Es ist das Ziel, so unkritische Multiplikatoren dieser Narrative und Stützpfeiler für Chinas geostrategische Machtambitionen zu gewinnen. Gleichzeitig werden die ausländischen Gäste durch Berichte in den Staatsmedien für die Propaganda des Regimes nach innen instrumentalisiert.
Obwohl die Beziehung zu China bei Weitem nicht zu den Prioritäten der öffentlichen Diskussion in den Ländern Lateinamerikas zählt, zeigen verschiedene Studien, dass die lateinamerikanische Bevölkerung den Enthusiasmus mancher politischer Eliten für das Reich der Mitte nicht teilt. Im Gegenteil stellen Morgenstern und Bohigues aufgrund der Analyse zahlreicher Umfragen heraus, dass viele Lateinamerikaner bisher noch kaum eine festgefügte Meinung zu China haben. Interessant ist dabei, dass laut einer LAPOP-Umfrage 2014 nur 16 Prozent der Befragten das autoritäre chinesische Entwicklungsmodell gutheißen. Weit verbreitet ist auch die Sorge vor einer neuen wirtschaftlichen Abhängigkeit.
Demgegenüber blicken große Teile der parteipolitischen Elite vor allem durch das Prisma der wirtschaftlichen Möglichkeiten nach Peking. Die autoritäre Natur Chinas sowie seine gravierenden Verletzungen von Menschen- und Freiheitsrechten werden kaum problematisiert. Es ist auch bemerkenswert, dass die oft alles andere als vorteilhaften Bedingungen chinesischer Investitionen in Lateinamerika und die Problematik der asymmetrischen Handelsbeziehungen praktisch nicht thematisiert werden. Ferner trägt die – auch emotional – spannungsgeladene Beziehung vieler lateinamerikanischer politischer Eliten zu den USA dazu bei, dass China als willkommene Alternative zur Herstellung einer geostrategischen Balance zum nördlichen Nachbarn willkommen geheißen wird.
Dabei zeigt die KPCh in Lateinamerika immer deutlicher ein Gesicht, das sich von der über Jahre propagierten „Freundschaft“ auf Augenhöhe fundamental unterscheidet. Ein Beispiel dafür ist ein Vorkommnis im Umfeld des APEC-Gipfels 2016 in Lima, als der Abgeordnete der linken Frente Amplio, Marco Arana, öffentlich gegen eine Auszeichnung von Xi Jinping durch das peruanische Parlament protestierte und den „neokolonialen“ Charakter des chinesischen Regimes als Begründung anführte. Laut Marco Arana warf der chinesische Botschafter ihm nicht nur vor, die „Wichtigkeit der chinesischen Investitionen […] nicht adäquat wertzuschätzen“, und forderte ihn auf, sich nicht in interne Angelegenheiten Chinas einzumischen. Er drohte zudem der mit der KPCh seit Jahren eng verbundenen APRA-Partei damit, alle Einladungen für Peruaner nach China sowie Investitionsvorhaben einzustellen, sollte es im Umfeld des Xi-Besuches in Peru zu unangenehmen Vorkommnissen kommen. Die Tatsache, dass der fragliche Kongressabgeordnete und die APRA-Partei politisch entgegengesetzten Lagern angehörten, spielte keine Rolle. Auch der china-kritische sozialistische Abgeordnete im chilenischen Parlament, Jaime Naranjo, klagt über eine „komplizenhafte Stille“ der Parteien Chiles, wenn es um Menschenrechtsverletzungen, den Status Hongkongs oder die wirtschaftlichen Aktivitäten Chinas im Land geht. Dies führt er auf den „ständigen Parlamentariertourismus“ zurück.
Die Versuchung: Ein Entwicklungsmodell ohne Demokratie
Die selbstbewusste und unverhohlene Propagierung des chinesischen Entwicklungsmodells als überlegenes System gegenüber einem pluralistisch-demokratischen Staatswesen tritt immer deutlicher in den Vordergrund der chinesischen Aktivitäten in Lateinamerika. Ein besonders plakatives Beispiel hierfür ist ein im Juni 2020 von der KPCh organisiertes Seminar zur „Überlegenheit der Werte kommunistischer Parteien im Kampf gegen COVID-19“, zu dem Parteien aus verschiedenen Ländern Lateinamerikas eingeladen wurden.
Der fundamentale Zweck internationaler Parteientreffen in China ist es, die eigene Herrschaft und das eigene System durch Propaganda zu legitimieren. Dies geschah etwa beim „Parteiengipfel“ 2017, als demokratische lateinamerikanische Parteien scheinbar keine größeren Probleme damit hatten, eine von der KPCh verfasste Erklärung zu unterzeichnen, in der es heißt: „Wir preisen die enorme Anstrengung und den großartigen Beitrag der KPCh und ihres Führers Xi Jinping, eine Gemeinschaft für eine gemeinsame Zukunft und eine friedliche Welt zu schaffen.“ Beim China-CELAC-Gipfel 2018 versprachen die Teilnehmer aus 58, in der Mehrheit demokratisch zu nennenden Parteien, die „unterschiedlichen Entwicklungswege“ der „politischen Parteien Lateinamerikas und der Karibik sowie der Kommunistischen Partei Chinas“ zu „respektieren“. Bei derartigen Gelegenheiten genießt die chinesische Staatspartei den Auftritt als Partei unter Parteien – auf gleicher Ebene wie etablierte demokratische Kräfte Lateinamerikas.
Seit Kurzem vollzieht die KPCh in ihrer Propaganda in Lateinamerika den Schritt weg von der Gleichrangigkeit verschiedener Systeme zur eigenen Überlegenheit und der Propagierung eines „neuen Entwicklungswegs für andere Entwicklungsländer“. Bei einem hauptsächlich virtuellen Gipfel im September 2020, an dem 200 Vertreter von 70 lateinamerikanischen Parteien teilnahmen, betonte die KPCh die Wichtigkeit für lateinamerikanische Staaten, aus der Erfahrung Chinas bei der Armutsbekämpfung zu lernen. Laut Song Tao, dem Chef der Internationalen Abteilung der KPCh, ist „die Führungsrolle der KPCh die zentrale Garantie“ und die „chinesische Weisheit“ die Antriebsfeder für eine erfolgreiche Armutsbekämpfung, wie er es Anfang Oktober 2020 in einem weiteren Seminar vor politischen Vertretern aus mehr als 100 Entwicklungsländern zum Ausdruck brachte. Die Buchautoren Clive Hamilton und Mareike Ohlberg unterstreichen: „Das Regime will nicht nur weltweite Unterstützung für die Vorstellung, dass die KPCh die einzige Partei ist, die in der Lage ist, China zu regieren, sondern es möchte auch, dass die Welt anerkennt, dass das politische und wirtschaftliche System Chinas der westlichen Demokratie und der liberalen kapitalistischen Wirtschaftsordnung überlegen ist.“
Die Parteienzusammenarbeit Chinas mit Vertretern demokratischer Parteien Lateinamerikas ist nach dieser Logik nichts anderes als der Versuch, die Prozesse demokratischer Willensbildung zu unterwandern. Umso auffälliger ist es, dass auch demokratische Parteivertreter aus vollem Halse in das chinesische Lied einstimmen, wie das argentinische Beispiel belegt. So erklärte der peronistische Abgeordnete und begeisterte China-Reisende José Luis Gioja, das Reich der Mitte sei „auf seine eigene Art und Weise eine Demokratie“. Sein Parteikollege und Staatssekretär im Verteidigungsministerium, Francisco Cafiero, rechtfertigte die Beziehungen seiner Partei zur KPCh im Rahmen eines Parteienaustausches zum Thema Armutsbekämpfung im August 2020 mit den Worten, es sei Strategie seiner Partei, „die Beziehung mit verschiedenen demokratischen Parteien in der Welt“ zu pflegen. Man halte schließlich auch Beziehungen zu den US-Demokraten oder zu anderen Parteien und wolle „niemanden bevorzugen“. Und der ehemalige Parteivorsitzende der Mitte-rechts-Partei PRO, Humberto Schiavoni, pries China in einem Gastbeitrag für die Zeitung Clarín 2016 als „Muster für unsere Entwicklung“. Mitglieder der beiden wichtigsten argentinischen Parteien, denen die genannten Vertreter entstammen, flogen allein zwischen 2016 und 2018 mindestens sieben Mal nach China.
Die jüngere Geschichte Lateinamerikas ist voll von Versuchen einzelner Politiker, die eigene Macht mit undemokratischen Mitteln zu sichern. In manchen Fällen, wie zuletzt in Venezuela oder Nicaragua, führte dies in autoritäre Staatsformen. Oft scheiterte solches Ansinnen aber auch an demokratischen und rechtsstaatlichen Institutionen und einer kritischen Öffentlichkeit. Es ist zu befürchten, dass die chinesische Versuchung eines autoritären Entwicklungsweges ohne Demokratie derartigen Bestrebungen neue Legitimationsgrundlagen geben könnte. Die seit Jahren massiv sinkenden Zustimmungswerte für die Demokratie in den meisten lateinamerikanischen Staaten sind in dieser Hinsicht ein zusätzliches Alarmsignal.
Die Herausforderung: Mit Lateinamerikas Parteien über China reden
China ist längst wichtigster Handelspartner zahlreicher lateinamerikanischer Staaten – mit explosiv gestiegenen Investitionen chinesischer Staatsunternehmen in strategische Wirtschaftszweige. Zwischen 2001 und 2019 investierte China rund 135 Milliarden US-Dollar auf dem Subkontinent. Die globale Machtausweitung Pekings wird von vielen politischen Eliten Lateinamerikas daher nicht nur als unausweichlich angesehen, sondern auch als eine Quelle von Möglichkeiten, die andere ausländische Mächte nur schwerlich bieten können. Die Frage, wie viel Unwissen, Ignoranz oder bewusste Verdrehung der Tatsachen hinter Aussagen wie den oben erwähnten stecken, ist schwer zu beantworten.
Im von kurzen, erratischen politischen Zyklen und schnell aufeinanderfolgenden Wahlen geprägten politischen Alltag Lateinamerikas fehlt den politischen Akteuren weitgehend das Verständnis für die chinesische, lang angelegte globale Machtstrategie. Insbesondere fehlt aber auch das Verständnis dafür, dass diese nicht einfach an den eigenen Landesgrenzen haltmacht, sondern dass die Annahme der chinesischen „Freundschaftsangebote“ die eigene Demokratie und die Institutionen von innen zu unterwandern droht. Insofern sind immer wieder zu hörende Aussagen wie die des erwähnten argentinischen Abgeordneten Gioja, man mische sich nicht in interne Angelegenheiten Chinas ein, da Peking sich ja auch nicht in interne argentinische Angelegenheiten einmische, nicht zutreffend. Daraus folgt auch die scheinbar banale Erkenntnis, dass die Vorstellung, zwischen der KPCh und demokratischen Parteien sei ein Dialog „auf Augenhöhe“ und unter Gleichen möglich, eine gefährliche Illusion bleibt.
Aufgrund der nachgeordneten Bedeutung des China-Themas in der Öffentlichkeit ist es für lateinamerikanische Politiker kaum mit politischen Kosten verbunden, Solidaritätserklärungen zu unterzeichnen oder die Tore für chinesische Investitionen vorbehaltlos zu öffnen. Das Kleingedruckte und die politische Erpressbarkeit, die Politiker damit auf sich nehmen, oder gar die Auswirkungen auf die eigene Demokratie werden in Lateinamerika viel zu wenig diskutiert. Gegenüber China mangelt es auf dem Subkontinent an einer kritischen Öffentlichkeit. Dies steht in eklatantem Gegensatz zur Beziehung mit den Vereinigten Staaten, zu denen ein jahrhundertelanges enges Verhältnis voller Hoch- und Tiefpunkte besteht und deren verschiedene außenpolitische Aktivitäten von der lateinamerikanischen Öffentlichkeit mitunter leidenschaftlich diskutiert werden.
Eine Debatte über das eigene Verhältnis zu China wäre sowohl unter Lateinamerikas Parteien als auch in der Öffentlichkeit dringend notwendig, um einen realistischen und – moralisch und intellektuell – aufrechten Dialog mit der KPCh führen zu können. Da Politiker normalerweise aufmerksam auf die Stimmung im Volk achten, bietet hier das noch wenig festgefügte Chinabild in weiten Teilen der lateinamerikanischen Bevölkerung Möglichkeiten. Wenn beispielsweise Schlagworte wie „Neokolonialismus“ und „Imperialismus“ nicht mehr nur mit den USA identifiziert werden, wäre bereits ein erster wichtiger Schritt für eine objektivere Beschäftigung mit China getan.
Wenn Deutschland und Europa die lateinamerikanischen Staaten als strategische Wertepartner für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte auf Dauer an sich binden wollen, ist ein Dialog mit diesen über die chinesischen Aktivitäten auf dem Subkontinent dringend notwendig. Insbesondere gilt dies für eine gezielte und umfassende Aufklärung der lateinamerikanischen Parteieliten. Der „freundschaftliche“ Austausch zwischen der KPCh und demokratischen Parteien in Lateinamerika muss auch von internationalen in Lateinamerika tätigen Akteuren im Kontext der globalen Systemkonkurrenz zwischen freiheitlicher Demokratie und dem autoritären chinesischen Modell verstanden werden. Es sollte deshalb vermittelt werden, dass es Europa keineswegs gleichgültig ist, wie lateinamerikanische Staaten und insbesondere lateinamerikanische Parteien auf manche Forderungen und Angebote Chinas reagieren.
Wenn Europa in seiner offiziellen und inoffiziellen Diplomatie nicht den auf verschiedenen Ebenen von der KPCh geschickt platzierten China-Narrativen begegnet, überlässt es dieser die Diskurshoheit bei der Propagierung eines neuen antiliberalen und antidemokratischen Entwicklungsmodells. Europa muss deshalb mit Lateinamerika dringend über China sprechen.
Juan Pablo Cardenal ist Buchautor und Journalist. Er war Korrespondent zweier großer spanischer Tageszeitungen in China.
Sebastian Grundberger ist Leiter des Regionalprogramms Parteiendialog und Demokratie in Lateinamerika der Konrad-Adenauer-Stiftung mit Sitz in Montevideo, Uruguay.
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