Ausgabe: Sonderausgabe 2020/2020
Es gibt im Englischen kein Wort für „Geisterfahrer“. Deshalb ist in Amerika auch nicht der Witz von dem Autofahrer geläufig, der im Verkehrsfunk die Warnung hört, dass auf seiner Autobahn ein Geisterfahrer unterwegs ist, und der daraufhin schimpft: „Einer? Tausende!“ Für die Münchner Sicherheitskonferenz war das ein bisschen schade. Denn gern hätte man die Vertreter der Trump-Regierung gefragt, ob sie sich womöglich in dem Autofahrer wiedererkennten. Ob es nicht doch sein könne, dass Amerikas verunsicherte bis verzweifelte Partner in (West-)Europa und anderswo recht haben mit ihren ziemlich einmütigen Warnungen vor einer vom Kurs abgekommenen Nato-Vormacht, die zur tödlichen Gefahr für den Westen mutiert sei. Und nicht die Amerikaner, die in München vom Siegeszug des Westens kündeten.
Stattdessen also eine schlichter formulierte Frage an Mark Esper, den amerikanischen Verteidigungsminister: „Gibt es im transatlan-tischen Verhältnis einen Riss?“ Noch schlichter seine Antwort: „Nein, gar nicht“, sagte Esper dieser Zeitung – und zählte auf, was sich in der Nato gerade alles zum Besseren wende: höhere Verteidigungsausgaben, starke Präsenz im Osten Europas, mehr Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung im Kampf gegen den Terrorismus. Was die militärischen Fähigkeiten angehe, „kommt die Nato zurück“. Und die Stimmung? „Ich sehe eine Allianz, die zusammenwächst.“
Drei Stunden vorher hatte Außenminister Mike Pompeo diese und weitere Entwicklungen zu einer langen Liste amerikanischer Erfolge zusammengefügt. Ein prosperierendes Amerika halte westliche Werte hoch und deren Widersacher in Schach. Nicht nur habe es für 400 Milliarden Dollar zusätzlicher Nato-Ausgaben gesorgt und die Kräfte im Osten des Bündnisgebiets verstärkt. Man habe auch „die Glaubwürdigkeit der Rüstungskontrolle wiederhergestellt“, indem man den INF-Vertrag zur Reduzierung landgestützter Mittelstreckenraketen gekündigt habe, den Russland verletze. Amerika versage Iran die Mittel für dessen Terroraktivitäten und habe die Allianz angeführt, die dem „Islamischen Staat“ sein Territorium nahm. Zudem sei man endlich „aufgewacht“, was Chinas unfaire Handelspraktiken angehe.
Pompeos Refrain lautete: „Der Westen gewinnt.“ Das war Triumphalismus, vor allem aber eine Belehrung für die im Publikum zahlreich vertretenen Trump-Kritiker – und nicht zuletzt für Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Außenminister Heiko Maas. Pompeo nannte zwar keine Namen. Doch als er drei Zitate vortrug, über die er sich „gewundert“ habe, da wusste jeder, dass eines davon aus Steinmeiers Rede vom Vortag kam. Es lautete: „Die Vereinigten Staaten von Amerika erteilen unter der jetzigen Regierung selbst der Idee einer internationalen Gemeinschaft eine Absage.“
Mit der gleichen Mischung aus Herablassung und Entrüstung zitierte Pompeo zudem eine Rede, in welcher die damalige kanadische Außenministerin Chrystia Freeland 2017 gesagt hatte, dass Amerika „seine globale Führungsrolle in Frage stellt“. Und einen Meinungsartikel von Maas und dem französischen Außenminister Jean-Yves Le Drian, die voriges Jahr festgestellt hatten: „Die multilaterale Ordnung steckt in ihrer vielleicht tiefsten Krise.“ Auch in München hatte Maas am Vorabend von Pompeos Auftritt bekräftigt, entscheidend für die gegenwärtige Krisenlage sei der Umstand, „dass sich das Engagement der Verantwortlichen im Weißen Haus für die von den USA geschaffene Weltordnung verändert hat“.
Kaum verhüllt warf Pompeo den Europäern vor, iranischen Islamisten, russischen Revanchisten oder chinesischen Autokraten auf den Leim zu gehen. Kurz blickte der Minister in den Saal voller Sicherheitsfachleute und höhnte: „Ich bin sicher, dass sich viele von Ihnen als Realisten bezeichnen. Lassen Sie mich Ihnen also eine Vorstellung davon geben, wie die Realität aussieht.“ Berichte über den Tod des Westens seien „stark übertrieben“. Denn Amerika habe den Mut, sich für die Souveränität einzusetzen. Sie sei das Fundament unserer „kollektiven Größe“.
Was allerdings nicht heißen sollte, dass die Europäer ihren Umgang mit Russland, Iran oder gar China auf eigene Faust festlegen sollen. In München kam fast kein Amerikaner ohne die dringende Warnung vor einer Beteiligung des chinesischen Konzerns Huawei am Aufbau von 5G-Netzen aus. China würde so nach amerikanischer Auffassung Möglichkeiten zur Bespitzelung, Spionage und Sabotage erlangen. Esper bekräftigte, dass Amerika seine Militärkooperation mit jedem Staat überdenken werde, der Komponenten bei Huawei einkaufe. Das hielt andere Vertreter der Trump-Regierung nicht davon ab, entrüstet den Eindruck zurückzuweisen, Amerika wolle den Partnern drohen.
Amerika will mit Investitionen dazu beitragen, dass westliche Hersteller wie Ericsson oder Samsung schneller konkurrenzfähig mit Huawei werden. Gallig reagieren Washingtoner Regierungsvertreter, wenn man ihnen unterstellt, vor chinesischen „Hintertüren“ in Kommunikationsnetzen vor allem deshalb zu warnen, um eigene Produkte mit eigenen Hintertüren für die eigenen Geheimdienste einzubauen. Das sei schon deshalb infam, weil die amerikanischen Dienste legitime Interessen verfolgten, während China seine Bürger überwache, „um religiöse Minderheiten zu verfolgen“, wie ein hoher Mitarbeiter des Justizministeriums dieser Zeitung sagte.
Die amerikanische Überzeugung, dass Chinas Aufstieg die größte Bedrohung amerikanischer Sicherheit und Huawei-Kommunikationstechnik ein besonders perfides Herrschaftsinstrument der Pekinger Kommunisten sei, ist dabei nicht auf die Trump-Regierung beschränkt. Vielmehr war es Nancy Pelosi, Washingtons oberste Demokratin und härteste Gegenspielerin des Präsidenten, die die schrillste Warnung formulierte: Wenn Huawei im Westen zum Zuge komme, dann liefe das auf „die heimtückischste Aggression“ hinaus, die man sich nur ausmalen könne – schlimmer noch als etwa Russlands Attacken auf die Ukraine. Im Publikum wurde gestaunt, dass Pelosi da auf Trump-Kurs wandelte. Sie aber hatte keine Scheu, die Einigkeit zuzugeben.
Ohnehin ließen die mehr als vierzig nach München gereisten Demokraten und Republikaner aus beiden Kongresskammern kein Interesse erkennen, Amerikas innere Zerrissenheit in Europa vorzuführen. Eine junge Demokratin, erst seit 2018 im Kongress, schwärmte am Samstagabend von der Stimmung in der ganzen Delegation. Kurz nach dem Amtsenthebungsverfahren gegen Präsident Donald Trump gebe es einen richtigen Hunger nach Projekten, die man gemeinsam angehen könne. Das klang dann fast schon nach Pompeo: „Wir gewinnen. Und wir tun das gemeinsam.“ Der Applaus, den der Amerikaner für seine Publikumsschelte bekam, dauerte übrigens mindestens so lang wie der Beifall für Steinmeier am Tag davor.
Andreas Ross ist bei der F.A.Z. verantwortlicher Redakteur für Politik Online und stellvertretender verantwortlicher Redakteur für Nachrichten.
Alle Rechte vorbehalten © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main. Vervielfältigungs- und Nutzungsrechte für F.A.Z.-Inhalte erwerben Sie auf www.faz-rechte.de