Ausgabe: 2/2021
Brot, Würde, Freiheit – dies waren vor zehn Jahren zentrale Forderungen der vorwiegend jungen Protestierenden in zahlreichen Ländern der arabischen Welt. Die Selbstverbrennung des Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi am 17. Dezember 2010 in der tunesischen Kleinstadt Sidi Bouzid war der Funken, der die vorherrschende Unzufriedenheit mit den gesellschaftlichen Gegebenheiten in gewaltsame Proteste umschlagen ließ. Der damals 27-jährige Bouazizi beklagte Schikanen durch örtliche Behörden, die seinen Gemüsestand konfiszierten und keine Lizenz ausstellten. Die wiederholt empfundene Unrechtbehandlung und Misshandlungen auf der Polizeiwache führten schließlich zur Verzweiflungstat der Selbstentzündung. Diese Tat gilt heute als symbolhafter Ursprung des sogenannten Arabischen Frühlings und verbildlicht die gesellschaftliche Ungleichbehandlung, die grassierende Korruption und die vermeintliche Machtlosigkeit gegenüber staatlicher Willkür.
Infolge der Bestürzung über diese Tat entwickelte sich rasch eine landesweite Protestwelle gegen das autokratische Regime des seit 1987 regierenden Langzeitherrschers Zine el-Abidine Ben Ali. Am 14. Januar 2011 verließ Ben Ali aufgrund zunehmender Massenproteste fluchtartig Tunesien in Richtung Saudi-Arabien. Ausgelöst durch den zügigen Sturz des kleptokratischen Systems in Tunesien protestierten auch unzufriedene Menschen in Ägypten, Libyen, Syrien und anderen Ländern der arabischen Welt gegen ihre Regierungen. Die durch soziale Medien zunehmend koordinierten Protestbewegungen überraschten die Herrscherhäuser der Region und offenbarten zugleich, dass nach Jahrzehnten der Misswirtschaft und sozialen Gängelung Reformen und Wandel unumgänglich waren.
Während die Systeme in Tunesien (Januar 2011) und Ägypten (Februar 2011) stürzten, versanken Syrien und Libyen durch repressive Gewaltanwendung und den Einsatz der Armee in Bürgerkriegen. Doch trotz einer Reihe von Reformen nach den Aufständen von 2011 ließ die Unzufriedenheit in der Region nicht nach und die lediglich kosmetischen Reformversprechen erstickten nicht den Ruf nach grundlegenden strukturellen Veränderungen. 2019 folgte in zahlreichen Ländern der Region eine zweite Protestwelle, darunter die Hirak-Bewegung in Algerien sowie Proteste im Irak, Libanon und Sudan, wo der seit 1993 autoritär regierende Omar al-Baschir gestürzt wurde.
Das ohnehin schwache Wirtschaftswachstum in den Ländern der Region wurde durch den Ausbruch der COVID-19-Pandemie weiter beeinträchtigt: Die Wirtschaft schrumpfte in der Region laut Schätzungen um 5,2 Prozent. Nahezu ein Drittel der jungen Bevölkerung ist ohne Beschäftigung, vor allem in Tunesien und Jordanien bleiben diese Zahlen seit nunmehr einem Jahrzehnt konstant hoch. Die Region Nahost und Nordafrika hat weltweit eine der höchsten Jugendarbeitslosigkeitsquoten. Obgleich die Region von zahlreichen gemeinsamen Herausforderungen geprägt ist, müssen die unterschiedlichen Staatssysteme und variierenden gesellschaftlichen Wirklichkeiten der einzelnen Länder stets berücksichtigt werden.
Inmitten der globalen COVID-19-Pandemie und im Hinblick auf den zehnten Jahrestag des Beginns der Umbrüche in zahlreichen Ländern der arabischen Welt führte das Regionalprogramm Politischer Dialog im Südlichen Mittelmeerraum der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS PolDiMed) in Marokko, Algerien, Tunesien, Libyen, Jordanien und im Libanon eine repräsentative Umfrage durch. Es wurden insgesamt 10.841 Personen im Zeitraum von Oktober bis Dezember 2020 telefonisch befragt. Im Folgenden werden die wesentlichen Ergebnisse der Umfrage einordnend vorgestellt.
Optimismus für eine positive wirtschaftliche Entwicklung überwiegt
Die wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen waren und sind eine zentrale Herausforderung in der Region und führten mitunter zu den Aufständen seit 2011. Während vor zehn Jahren ein Drittel der befragten Bürgerinnen und Bürger in der Region die eigene wirtschaftliche Lage als gut oder sehr gut einschätzte, hat sich diese Perzeption binnen einer Dekade sogar verschlechtert. Heute geben 39 Prozent in Marokko und 26 Prozent der Befragten in Algerien und Libyen an, ihre wirtschaftliche Lage sei gut oder sehr gut. In Tunesien mit drei Prozent und im Libanon mit einem Prozent sind die Werte am geringsten. In Tunesien ist der Wert im Vergleich zu 2011 gar um ein Viertel eingebrochen. Dies lässt auf die Ernüchterung der Bevölkerung schließen, der die Revolution nicht den erhofften Wohlstand und die Schaffung neuer Berufsperspektiven brachte. Für die wirtschaftliche Entwicklung der Region scheint daher von einem verlorenen Jahrzehnt gesprochen werden zu können – vor allem, da weder eine Diversifizierung der Wirtschaft eingeleitet noch tiefgreifende Arbeitsmarktreformen vorgenommen wurden.
Der Libanon befindet sich gar in einer multiplen Krisensituation und wird von einer anhaltenden Finanz- und Wirtschaftskrise geprägt. Hohe (Jugend-)Arbeitslosigkeit, Währungsverfall, Hyperinflation und die grassierende Korruption unter politischen Eliten führen zu einer zunehmenden Resignation der Bevölkerung, die sich auch in den düsteren Wirtschaftsprognosen des Landes widerspiegelt. Die sich seit 2019 verschärfende Finanzkrise führte zu erneuten Protesten und der Forderung nach einem grundlegenden Staatsumbau sowie dem Ende des konfessionell geprägten politischen Systems. Seit dem Ende des Bürgerkriegs 1990 begünstigte dieses System in den Augen vieler Libanesen systematischen Klientelismus und Korruption. Die verheerende Explosion am Hafen von Beirut im Sommer 2020 verfestigte zudem das Bild einer sich selbst bereichernden, skrupellosen Machtelite, der jedes Gefühl für das Gemeinwohl und die gesamtgesellschaftliche Entwicklung abhandengekommen ist.
Einigen Angaben zufolge lebt heute die Hälfte der libanesischen Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze. Entsprechend pessimistisch blicken die Befragten im Libanon auf ihre persönliche wirtschaftliche Zukunft. Nur 14 Prozent blicken hoffnungsvoll auf die kommenden Jahre. Dabei ist bedrückend, dass die jüngere Generation weniger optimistisch in die Zukunft blickt als die Befragten über 30 Jahre. Dies spiegelt sich auch in der hohen Bereitschaft junger Libanesen wider, ihr Land zu verlassen. 53 Prozent der unter 30-jährigen Libanesen geben an, im vergangenen Jahr an Auswanderung gedacht zu haben.
Bis auf den Libanon blicken die Befragten in den Ländern der Region in Bezug auf die persönliche wirtschaftliche Entwicklung aber trotz der globalen Pandemie eher optimistisch in die Zukunft. In Jordanien, Marokko und Libyen geben mehr als 60 Prozent an, die wirtschaftliche Lage des Landes werde sich zukünftig verbessern. In Algerien liegt der Wert mit 59 Prozent deutlich höher als in Tunesien mit nur 47 Prozent. In Jordanien wird insbesondere die Schaffung von Arbeitsplätzen als große Herausforderung wahrgenommen – 30 Prozent der Befragten geben an, dass dies eine Priorität der Regierung werden solle.
Marokko orientiert sich wirtschaftspolitisch seit Jahren stark nach Subsahara-Afrika und hat insbesondere im frankophonen Westafrika neue Absatzmärkte erschlossen. Auch Tunesien möchte verstärkt seine Süd-Süd-Kooperation ausbauen und hofft zugleich durch eine Revitalisierung seiner Wirtschaftsbeziehungen mit Libyen auf eine Erholung der angespannten wirtschaftlichen Situation. In Anbetracht der angespannten Wirtschaftslage in den befragten Ländern der Region mag die eher hoffnungsvoll gestimmte Bewertung der wirtschaftlichen Zukunft überraschen. Sie kann unter anderem mit dem starken Glauben, auch religiös konnotiert, an ein besseres Morgen erklärt werden. Ein Blick auf den Global Competitiveness Index von 2019 offenbart außerdem, dass die Wettbewerbsfähigkeit arabischer Länder höher ist als in anderen Entwicklungsregionen und nur von den beiden Regionen Europa / Nordamerika und Ostasien / Pazifik übertroffen wird. Die Potenziale der Region sind offensichtlich: Die Länder Nordafrikas und der Levante liegen geostrategisch vorteilhaft und profitieren von Exportpartnerschaften mit EU-Staaten. Ferner können die Länder auf eine junge, teils gut ausgebildete Bevölkerung verweisen, die mobilitätswillig und aufstiegshungrig ist. China hat diese Potenziale erkannt und blickt zunehmend interessiert auf die Region.
Demokratische Institutionen geraten ins Wanken
Ein Kernanliegen der arabischen Protestbewegungen war seit Beginn nicht nur das Pochen auf wirtschaftliche Reformen, sondern vor allem der Ruf nach Veränderung der politischen Systeme. Forderungen waren eine erhöhte Rechenschaftspflicht der Regierenden, mehr Transparenz und soziale Gerechtigkeit. Die über Jahrzehnte autoritär geprägte Region wurde im Freedom House-Ranking stets als undemokratisch eingestuft. Seit 2015 ist Tunesien das einzige Land, das als vollständig frei bewertet wird. Allerdings bleiben auch in Tunesien Minderheitenrechte kontrovers diskutiert. Der nur zögerliche und oberflächliche Reformwille in zahlreichen Ländern der Region nach 2011 führte schließlich zu weiteren Protestbewegungen, die 2019 im Umsturz der Regierungen in Algerien und Sudan mündeten. Auch im Libanon sowie in Marokko und Jordanien wurden infolge erneuter Demonstrationen weitere Reformen zugesagt.
Die Führungswechsel erbrachten jedoch nicht immer die erhofften Veränderungen. In Algerien führten anhaltende Proteste 2019 zwar zum Rückzug des 82-jährigen Langzeitpräsidenten Abdelaziz Bouteflika, allerdings war die Wahl seines 74-jährigen Nachfolgers Abdelmadjid Tebboune kein tatsächlicher Generationenwechsel an der Staatsspitze. Nach wie vor lenkt in Algerien ein komplexes System von miteinander verbundenen Politikern aus der Zeit der Unabhängigkeitsbewegung, auch als tiefer Staat bezeichnet, die Geschicke des Landes. Die vorwiegend junge Bevölkerung Algeriens gibt sich mit diesem Zustand allerdings nicht länger zufrieden und drängt auf grundlegende Veränderungen und eine Erneuerung der politischen Klasse. Um den Unmut in der Bevölkerung zu beschwichtigen, wurde im März verkündet, das Parlament aufzulösen und vorgezogene Parlamentswahlen im Juni 2021 abzuhalten.
Eine wesentliche Erkenntnis der regionalen PolDiMed-Umfrage ist, dass in allen Ländern der Region das Vertrauen in Parlamente und Parteien schwach ausgeprägt ist. Besorgniserregend ist die Tendenz, dass immer weniger Bürgerinnen und Bürger Vertrauen in die Handlungsfähigkeit ihrer Regierungen haben. Zwischen 2013 und 2018 sank dieses Vertrauen um mehr als 20 Prozentpunkte. Dieser Trend deutet darauf hin, dass die anfänglichen Hoffnungen auf eine bessere Regierungsführung und mehr Transparenz bei vielen Bürgerinnen und Bürgern als nicht erfüllt wahrgenommen werden.
Das Vertrauen in Parlamente und politische Parteien ist in allen befragten Ländern gering. Da Parteien dort mehrheitlich Personen- und nicht ausgeprägte Programmparteien sind und sich stark an ihren Führungspersönlichkeiten ausrichten, ist ihr Ansehen direkt mit der persönlichen Integrität ihrer handelnden Protagonisten verbunden. Die Bevorzugung persönlicher Karriereambitionen anstelle des Gemeinwohls, genau wie Korruptionsaffären, beschädigen nachhaltig das Vertrauen in Parteien und ihre Rolle in einem parlamentarischen System. Folglich büßen auch die Parlamente in der Region an Vertrauen ein – ob sie eine wichtige Gesetzgebungsrolle einnehmen wie in Tunesien oder ob sie eine geringere Rolle spielen wie in Marokko oder Jordanien.
Abb. 1: Vertrauen oder Misstrauen gegenüber dem Parlament
Mit der Ausnahme von Marokko, wo 56 Prozent die Arbeit des Parlaments positiv bewerten, vertrauen weniger als die Hälfte der Befragten ihren Parlamenten. Auffällig ist besonders, dass in Tunesien und im Libanon je nur 19 Prozent der Umfrageteilnehmer Vertrauen in ihre Parlamente haben – gerade in den beiden Ländern also, in denen im regionalen Vergleich demokratische Elemente noch am stärksten ausgeprägt sind. Im Königreich Jordanien vertrauen nur 37 Prozent dem Parlament und lediglich 23 Prozent politischen Parteien. Dieser Wert deutet darauf hin, dass auch das neue Parlament mit keinem starken Mandat aus den allgemeinen Wahlen vom 10. November 2020 hervorging. Der Umstand, dass 99 der 130 Abgeordneten erstmals einen Parlamentssitz erhielten, lässt Rückschlüsse darauf zu, dass eine Erneuerung der politischen Klasse im Land erwünscht ist. Nur etwa 20 Prozent der Abgeordneten gehören einer politischen Partei an.
In Tunesien, das nach 2011 als demokratisches Vorzeigeland porträtiert wurde, haben lediglich 18 Prozent der Befragten Vertrauen in die Arbeit politischer Parteien. Trotz der Tatsache, dass das Parlament des Landes frei gewählt wurde, genießt die Institution wenig Vertrauen in der Bevölkerung. Ein Grund hierfür könnte die Wahrnehmung einer mangelhaften Bewältigung der wirtschaftlichen Herausforderungen in Verbindung mit einem relativ schwachen Zuspruch für politische Parteien sein. Beobachter argumentieren auch, dass nach der Revolution 2011 die Einführung eines parlamentarischen Systems womöglich zu rasch erfolgte und die Bevölkerung nicht ausreichend über die zentrale Rolle mündiger Bürger und starker Parteien in solch einem System aufgeklärt wurde.
Abb. 2: Vertrauen oder Misstrauen gegenüber politischen Parteien
Zur Zeit der Revolution hatten die tunesischen Bürgerinnen und Bürger große Hoffnungen in ein politisches Mehrparteiensystem gesetzt. Das Ergebnis war jedoch eine politische Stagnation, die nicht die erhofften tiefgreifenden Veränderungen brachte. Dominiert wird das politische Parteiensystem heute von der islamistischen Ennahda-Partei, die stärkste Kraft im Parlament ist – gleichzeitig fehlt eine konsistente und politisch schlagkräftige Opposition. Der ehemalige Juraprofessor Kais Saied wurde im Oktober 2019 als politischer Außenseiter zum Präsidenten gewählt und genießt seitdem zwar hohes Ansehen in der Bevölkerung, jedoch nicht den Rückhalt der politischen Klasse des Landes. Er gerät wiederholt in Konfrontation mit Rached Ghannouchi, dem einflussreichen Parlamentspräsidenten aus den Reihen der Ennahda-Partei.
Während das Vertrauen in die Regierungen der Region unterschiedlich stark ausgeprägt ist, zeigt sich, dass Regierungen dort einen höheren Zuspruch erfahren, wo sie in den Augen der Bevölkerung erfolgreicher bei der Bewältigung der Coronapandemie vorgingen. In Marokko geben 76, in Jordanien 71 und in Algerien 70 Prozent an, ganz oder teilweise ihrer Regierung zu vertrauen. Diese Zustimmungswerte korrespondieren mit den Ergebnissen, wonach 61 Prozent der Befragten in Jordanien, 60 Prozent in Marokko und 50 Prozent in Algerien angeben, die Regierungen hätten gut oder sehr gut auf den Ausbruch der COVID-19-Pandemie reagiert. Obschon oder gerade weil die beiden Monarchien Marokko und Jordanien sowie Algerien im Vergleich zu Tunesien und zum Libanon eine geringere Meinungs- und Pressefreiheit aufweisen, wird in den beiden zuletzt genannten Ländern die Krisenbewältigung der Regierungen und somit das Vertrauen ihnen gegenüber negativer bewertet. In Tunesien geben lediglich 15 Prozent und im Libanon 18 Prozent der Befragten an, dass die Regierungen gut auf die Gesundheitskrise reagierten. In Tunesien war mit 42 und im Libanon mit 26 Prozent entsprechend auch das Vertrauen in die Regierungen am geringsten ausgeprägt. Abermals ist auffällig, dass gerade in den beiden Staaten der Region, die gemeinhin als demokratisch bezeichnet werden, der Zuspruch zu den Regierungen am geringsten ausfällt.
Abb. 3: Vertrauen oder Misstrauen gegenüber der nationalen Regierung
Prinzipiell lässt sich in der Region eine starke Zurückhaltung beim Engagement in politischen Parteien beobachten. Nur 30 Prozent im Libanon, 25 Prozent in Marokko und 20 Prozent in Libyen und Algerien geben an, sich eine Mitarbeit in Parteien vorstellen zu können. In Tunesien ist der Anteil mit nur 16 Prozent der Befragten noch geringer. Dies offenbart die große Skepsis gegenüber der bestehenden Form der Parteiarbeit in den Ländern der Region und offenbart den Bedarf einer grundsätzlichen Diskussion über alternative Formen einer modernen Parteiarbeit sowie die Notwendigkeit von Parteireformen.
Abb. 4: Bewertung des Krisenmanagements der nationalen Regierung in der Coronapandemie
Starkes Zutrauen in Zivilgesellschaft und lokale Mandatsträger
Während das Vertrauen in Parteien und Parlamente schwach ausgeprägt ist, spricht das hohe Vertrauen in zivilgesellschaftliche Gruppierungen für das Entstehen einer aktiven Bürgergesellschaft. In allen von der Umfrage erfassten Ländern, außer im Libanon, genießen zivilgesellschaftliche Gruppierungen ein hohes Ansehen und erhalten Zustimmungswerte von mehr als der Hälfte der Befragten. In Marokko liegt deren Zustimmung mit 76 Prozent am höchsten, im Libanon mit 38 am niedrigsten. In Algerien vertrauen 65, in Tunesien 62 und in Jordanien 51 Prozent nichtstaatlichen Organisationen, wozu auch religiöse Gemeinschaften wie beispielsweise Moscheegemeinden zählen.
Abb. 5: Wohlbefinden mit einem Beitritt zu einer politischen Partei
Die hohen Zustimmungswerte für zivilgesellschaftliche Gruppen und nichtstaatliche Akteure könnten auch Ausdruck der großen Skepsis gegenüber der Handlungsfähigkeit politischer Institutionen und eines grundlegenden Misstrauens gegenüber den politisch Handelnden sein, wie sie oben beschrieben worden sind. Dieses Misstrauen gegenüber der Funktionsfähigkeit staatlicher Einrichtungen könnte zu einer weiteren Vertrauenserosion in grundlegende demokratische Elemente und einer Abkehr von politischer Teilhabe führen. Umso bedeutender ist die hohe Zustimmung für nichtstaatliche Akteure, da diese als wichtige Kooperationspartner staatlicher Einrichtungen fungieren könnten, um somit eine höhere Akzeptanz für staatliches Handeln zu erlangen.
Abb. 6: Vertrauen oder Misstrauen gegenüber zivilgesellschaftlichen Organisationen
Darüber hinaus unterstreichen die Umfrageergebnisse die Bedeutung lokaler Behörden in fragmentierten Gesellschaften. Im Libanon und in Libyen genießen lokale und kommunale Behörden weitaus mehr Vertrauen als nationale Institutionen. Die Übertragung von Befugnissen auf diese Regierungsebene könnte ein wichtiger Beitrag sein, um das Vertrauen in die staatliche Funktionsfähigkeit insgesamt zu stärken. Dies ist insbesondere in Libyen ein möglicher Weg, um nach fast sieben Jahren staatlicher Dysfunktionalität Vertrauen zurückzugewinnen. Libyen, das zuletzt zum Schauplatz eines internationalisierten Stellvertreterkrieges verschiedener Akteure und seit 2014 durch zwei Parallelregierungen verwaltet wurde, befindet sich seit Herbst 2020 auf dem Weg zur Wiederherstellung der nationalen Einheit. Im Februar 2021 wurde auf Vermittlung der Vereinten Nationen eine Einheitsregierung bestimmt, die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen für den 24. Dezember 2021, Libyens Unabhängigkeitstag, vorbereiten soll. Dabei können Stammesvertreter und lokale Mandatsträger einen wichtigen Beitrag leisten, um auf die Aussöhnung der Konfliktparteien und die Wiederherstellung der institutionellen Einheit des Landes hinzuwirken.
Ein neues Ungleichgewicht in den internationalen Beziehungen
Der Einfluss externer Akteure auf die Entwicklungen in der Region ist traditionell groß. Der Sturz des Gaddafi-Regimes in Libyen 2011 wäre ohne die VN-gestützte NATO-Intervention seit März 2011 vermutlich nicht so rasch möglich gewesen. Auch regionale Akteure hatten stets einen großen Einfluss. Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) versuchten frühzeitig, die Königreiche der Region zu stützen und vor Umstürzen zu bewahren. Zu groß war die Furcht, sie selbst könnten in den Sog der Umbrüche gezogen werden.
Die Vereinigten Staaten von Amerika verlagerten seit Präsident Obama ihren Schwerpunkt auf den indopazifischen Raum und zogen sich kontinuierlich aus der arabischen Welt zurück – mit Ausnahme der Golfstaaten, wo die USA bis heute Militärstützpunkte unterhalten. Hingegen verstärkt Russland seit Jahren seine Aktivitäten in der Region und führte zuletzt im Februar 2021 mit der algerischen Marine eine gemeinsame Militärübung im Mittelmeer durch. Auch in Libyen entwickelte sich Russland zum entscheidenden Akteur auf Seiten des selbsterklärten Feldmarschalls Khalifa Haftar und unterstützte 2019 an der Seite Ägyptens und der VAE mit Söldnern der Wagner-Gruppe die militärischen Ambitionen der international nicht anerkannten Regierung in Ostlibyen. Auch in Syrien nimmt Russland als Unterstützer des Assad-Regimes eine zweifelhafte Rolle ein.
Russlands heutiger Aktivismus in der Region wird dennoch von vielen Bürgerinnen und Bürgern in den befragten Ländern geschätzt, womöglich auch, da Russland als global gewichtig und als Gegenspieler zu den USA wahrgenommen wird. In Algerien erhält Russland mit 66 Prozent Zustimmung die höchste Anerkennung, in Jordanien mit nur 22 am wenigsten. Die USA hingegen, die seit dem Einmarsch im Irak 2003 zunehmend an Ansehen einbüßten, erhalten in Marokko mit 49 Prozent die höchsten Zustimmungswerte und im Libanon mit 25 die geringsten. In allen anderen Ländern bewertet nur jeder Dritte die USA positiv.
Abb. 7: Beliebtheit verschiedener Staaten
China hingegen kann sich in der Region zunehmender Zustimmungswerte erfreuen. In Algerien geben 67 Prozent, in Marokko 61 Prozent und in Tunesien 59 Prozent an, ein gutes Bild von dem Land zu haben. Chinas Belt and Road Initiative bindet all diese Länder ein. Zuletzt konnten Russland und China mit der Verteilung ihrer Coronaimpfstoffe zusätzlich in der Region punkten. In Marokko wird seit Ende Januar mit dem chinesischen Impfstoff Sinopharm geimpft. Zudem wird überlegt, in marokkanischen Fabriken den chinesischen Impfstoff für den afrikanischen Kontinent produzieren zu lassen. Tunesien und Algerien impfen mit dem russischen Impfstoff Sputnik V. Dies dürfte mittelfristig auch Auswirkungen auf das Ansehen Russlands und Chinas in der Region haben. Die von der EU unterstützte COVAX-Initiative zur weltweiten Verteilung von Impfstoffen lieferte erst Mitte März 2021 erste Impfstoffe nach Tunesien. Zu diesem Zeitpunkt waren die russischen und chinesischen Impfstoffe bereits seit Wochen im Gebrauch; den Regierungen wird hierfür medial und politisch große Anerkennung geschenkt.
Deutschlands Ansehen in der Region ist groß
Die beiden Länder mit den höchsten Zustimmungswerten in den Ländern der Region sind Deutschland und die Türkei. Die starke Fokussierung der türkischen Außenpolitik auf eine Verbesserung der Beziehungen mit muslimisch geprägten Ländern der arabischen Welt seit dem Amtsantritt Recep Tayyip Erdoğans scheint sich auszuzahlen. 79 Prozent der Befragten in Marokko und Algerien, 65 in Jordanien und 63 in Tunesien verspüren eine hohe oder sehr hohe Anerkennung für die Türkei. In der Bevölkerungsgruppe unter 30 Jahren ist dieses Ansehen besonders stark ausgeprägt. Nur Deutschland wird in der Region teilweise noch positiver wahrgenommen und erzielt Zustimmungswerte von 76 Prozent in Marokko, 73 in Tunesien, 71 in Algerien und 55 in Libyen. Deutschland genießt in der Region traditionell ein hohes Ansehen. Die Wirtschaftsstärke und deutsche Produkte werden in den Ländern der Region ebenso bewundert wie die Willkommenskultur während der Migrationskrise 2015. Ferner ist Deutschland ein wichtiger Partner der Entwicklungszusammenarbeit in den Ländern der Region, die sich seit 2011 von jährlich rund 750 Millionen auf rund 3,4 Milliarden Euro im Jahr 2019 mehr als vervierfachte.
Während also Russland, die Türkei und insbesondere China in der Region zunehmend positiv wahrgenommen werden, geraten langjährige internationale Akteure wie die USA oder Frankreich zunehmend unter Druck. Zwar ist Deutschland das angesehenste Land in der Region, jedoch bleibt abzuwarten, inwiefern dies auch mit der Beliebtheit von Bundeskanzlerin Angela Merkel zusammenhängt. Sie ist die mit Abstand beliebteste europäische Führungspersönlichkeit, allerdings regional übertroffen vom türkischen Präsidenten Erdoğan. Beide haben in die Region betreffenden Fragen entscheidende Führungsstärke bewiesen. Merkel war maßgeblich an der Aufnahme von Flüchtlingen in Deutschland und der EU in den Jahren 2015 und 2016 beteiligt, während Erdoğan sich für die palästinensische Sache einsetzt und sich identitätspolitisch als Beschützer des Islams in der Region präsentiert. Die hohen Zustimmungswerte Deutschlands in den Ländern der Region sollten auch zukünftig proaktiv dafür genutzt werden, entschlossen für Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit einzutreten. Dies erscheint aufgrund der ebenfalls hohen Zustimmungswerte für autoritäre oder illiberale Staaten wie China, Russland und die Türkei besonders angebracht.
Einschätzung und Handlungsempfehlungen
Zehn Jahre nach Beginn der Umbrüche in zahlreichen Ländern der Region lässt sich ein differenziertes Bild von den Stimmungen und Erwartungen vor Ort zeichnen. Die Menschen in den Monarchien Marokko und Jordanien scheinen prinzipiell zufriedener mit den politischen Gegebenheiten und der wirtschaftlichen Situation zu sein als die Befragten in den sich im Demokratisierungsprozess befindlichen parlamentarischen Systemen in Tunesien und im Libanon. Angesichts des teils repressiven Umfelds und der eingeschränkten Meinungsfreiheit in den Monarchien ist allerdings denkbar, dass die geäußerte Meinung nicht in jedem Fall deckungsgleich mit der tatsächlichen Meinung der Befragten ist. Eine Kritik an den Königshäusern bleibt selten ohne persönliche Folgen. Obschon die Meinungs- und Pressefreiheit in Tunesien und im Libanon stark ausgeprägt sind, ist die politische Frustration dort besonders hoch. Das Vertrauen in Parlamente und Parteien ist besorgniserregend gering und im Libanon auch das Zutrauen in zivilgesellschaftliche Gruppierungen schwach. Auch wenn eine mögliche leichte Verzerrung dieser Ergebnisse durch die gewählte Umfragemethode möglich ist, lässt sich doch die ernüchternde Erkenntnis bilanzieren, dass zehn Jahre nach Beginn der Umbrüche, gerade im Ursprungsland Tunesien, eine hohe Frustration über die Ineffektivität der politischen Klasse vorherrscht. Die dringend benötigten Wirtschaftsreformen bleiben in den meisten Staaten aus, was zu großer Skepsis gegenüber der Handlungsfähigkeit politischer Institutionen und einem grundsätzlichen Misstrauen gegenüber den politisch Handelnden führt. Dies bedingt stellenweise auch eine erhöhte Bereitschaft zur Migration.
Die Schaffung von Arbeitsplätzen für die junge Generation, eine Diversifizierung der Wirtschaft, die Stärkung privatwirtschaftlicher Initiativen und das konsequente Vorgehen gegen Korruption und Vetternwirtschaft bleiben zentrale Herausforderungen für die Länder der Region. Nur durch nachhaltige Wirtschaftserfolge scheint das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit staatlicher Institutionen hergestellt werden zu können. Hierfür könnten nichtstaatliche Akteure noch stärker in Gesetzgebungsprozesse eingebunden werden, um deren Vertrauenszuspruch für den politischen Prozess nutzbar zu machen. Der große Zuspruch für China, Russland und die Türkei offenbart, dass autoritäre und illiberale Systeme an Einfluss in der Region gewinnen. Das hohe Ansehen Deutschlands sollte genutzt werden, um weiterhin engagiert für eine freiheitlich-demokratische Grundordnung und die Vorzüge parlamentarischer Systeme zu werben.
Thomas Volk ist Leiter des Regionalprogramms Politischer Dialog im Südlichen Mittelmeerraum der Konrad-Adenauer-Stiftung mit Sitz in Tunis.
Malte Gasseling ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Regionalprogramms Politischer Dialog im Südlichen Mittelmeerraum der Konrad-Adenauer-Stiftung.
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