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Auslandsinformationen

Zwischen den Fronten

von Marc Frings

Zur Rolle der palästinensischen Christen

Für die drei monotheistischen Weltreligionen ist das Land zwischen Mittelmeer und Jordan (sowie jenseits dessen gelegene Gebiete) heilig. Während das Judentum in Israel und der Islam in den Palästinensischen Gebieten jeweils die Mehrheitsreligion darstellen, leben Christen auf beiden Seiten der grünen Linie in der Minderheit. Auswanderungswellen, die vor einhundert Jahren einsetzten, sind mit ursächlich dafür, dass die Zahl der Christen in der Region abnimmt. Damit stellt sich ausgerechnet am Ursprungsort des Christentums die Frage, wie es um dessen Präsenz in der Zukunft bestellt ist.

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Der israelisch-palästinensische Konflikt ist zuvorderst als eine geopolitische Rivalität zu verstehen. Israelis und Palästinenser ringen um die gerechte Aufteilung eines Landes, das beide Seiten aus historischen, religiösen oder politischen Gründen für sich reklamieren. Singuläre Ereignisse haben in den letzten Jahren erneut die Frage aufgeworfen, ob die religiöse Dimension verstärkt auf den nationalistischen Charakter dieses Konflikts einwirkt. Die Diskussion flammte im Sommer 2017 erneut auf, als Israel den Zugang zum Tempelberg / Haram al-Sharif einschränkte und es zu tödlichen Zwischenfällen kam. Die Palästinenser in Ost-Jerusalem reagierten darauf mit friedlichem Widerstand im Sinne eines zivilen Ungehorsams. Auffällig war, dass nicht nur Muslime für ihre Gebetsrechte demonstrierten. Auch Christen zeigten sich mit Kreuz und Bibel in den Händen an der Seite von Muslimen. Die Ereignisse dieses Sommers bestätigten das Primat der Politik: Die kollektive Erfahrung mit Besatzung (Westjordanland), Annexion (Ost-Jerusalem) und Blockade (Gaza) veranlassen palästinensische Christen wie Muslime, eine nationale Perspektive einzunehmen, die zugleich identitätsförderndes Potenzial hat.

Für die Christen ist dies mit besonderen Herausforderungen verknüpft. Betrachtet man ihre Anpassungsstrategien genauer, gibt sich ein Dreieck mit den Eckpunkten (christliche) Religion, (palästinensische) Befreiung und übergeordnete (arabische) Nationenzugehörigkeit zu erkennen, in dem sich die christliche Seite zu positionieren sucht. Dies führt in der Alltagsgestaltung zu einer von Widersprüchen und Pragmatismus geprägten Inkohärenz.

Obgleich Christen im Nahen Osten bereits seit Langem stigmatisiert werden, ist daran zu erinnern, dass es der Islam war, der im siebten Jahrhundert in die Region exportiert wurde und – als Kalif Omar Ibn al-Khattib im Jahre 637 Palästina eroberte – dem Christentum seinen Rang als dominierende Religion erfolgreich streitig machte. Christen lebten schon immer an den heiligen Stätten. Sie waren es, die mit den aufkommenden Regimen – zunächst dem expandierenden Kalifat, später den Machthabenden in Konstantinopel und London – über ihren Status als religiöse Minderheit verhandeln mussten.

Bis zum Ende des Osmanischen Reichs vergingen fast 900 Jahre, in denen Christen anderen Religionsgemeinschaften nicht gleichgestellt waren. So galt zur osmanischen Zeit das Millet-System, welches Juden und Christen Minderheitenrechte und -schutz zusicherte. Zugleich mussten Christen Restriktionen erdulden, wie etwa das Missionierungsverbot sowie die Pflicht, Kirchenneubauten durch das Kalifat genehmigen zu lassen. Erst mit der Einrichtung des britischen Mandats über die ehemalige osmanische Provinz Palästina erhielten sie dieselben Rechte wie Andersgläubige – eine Folge des durch den Völkerbund im Juli 1922 ratifizierten Mandatsauftrags.

Zu Verschiebungen in den Machtstrukturen mit teils deutlichen Implikationen für religiöse Minderheiten kam es sodann im 20. Jahrhundert. Zu nennen wären ein muslimisch geprägter Nationalismus, die Staatsgründung Israels 1948, ein aufkeimender Islamismus im gesamten Nahen Osten und zuletzt der Zerfall staatlicher Gewaltmonopole, wie er heute in Syrien und im Irak zu beobachten ist.

Wie viele Christen leben noch in der Region?

In den Ländern des Vorderen Orients, inklusive der Türkei, Israels und Zyperns, leben heute annähernd 14,5 Millionen orientalische Christen. In Israel sind etwa 120.000 bis 150.000 und in den Palästinensischen Gebieten (inklusive Ost-Jerusalem) circa 47.000 Bewohner christliche Glaubensanhänger. Palästinensische Christen verteilen sich auf sämtliche Denominationen, wobei orthodoxe Glaubensanhänger in der Mehrheit sind.

Die Zahlen sind unter Vorbehalt zu betrachten, da durchaus unterschiedliche statistische Angaben kursieren. Vor allem über die Zahl der nicht-palästinensischen Christen in Israel herrscht Unklarheit; das lateinische Patriarchat beziffert diese Gruppe auf etwa 165.000. Auf palästinensischer Seite wurde 2017 eine Volkszählung durchgeführt, deren Resultate am 28. März 2018 vorgestellt wurden. Demnach beziffert das Palästinensische Statistikbüro die Zahl der Christen in Gaza, Ost-Jerusalem und dem Westjordanland auf 46.850. Bei einem Vergleich der Werte (siehe Tabelle 1) lassen sich nur bedingt Trends ableiten, weil das Palästinensische Statistikbüro 2007 nur eingeschränkten Zugang zu den palästinensischen Stadtteilen Ost-Jerusalems erhielt und somit die Zahl der Bewohner und ihrer konfessionellen Zugehörigkeit schätzen musste.

Während Christen ihre Heimat verlassen, wachsen die anderen Religionsgruppen. Statistisch gesehen kommen auf eine palästinensische Christin in Israel 2,18 Kinder, auf eine ultraorthodoxe jüdische Mutter indes 6,5 auf eine säkulare Jüdin 2,88 und auf eine muslimische Mutter kommen 3,84 Kinder. Nur nicht-religiöse Familien wachsen in noch geringerem Umfang als Christen. In den Palästinensischen Gebieten liegt die Geburtenrate bei 4,4. Folglich sinkt der entsprechende Anteil an der Gesellschaft aufgrund der Geburtenverteilung derzeit schnell – in Israel sind es zwei Prozent und in Palästina noch ein Prozent.

Autochthone und eingewanderte Christen in Israel: Die Kontakte untereinander sind begrenzt

Christen leben dies- und jenseits der grünen Linie, wobei ihre jeweiligen Lebenswirklichkeiten im jüdisch geprägten Israel und im muslimisch dominierten Palästina bisweilen unterschiedlich sind. In Israel leben Christen inmitten eines sie marginalisierenden jüdischen Nationalismus, eines zunehmend muslimisch geprägten arabischen Nationalismus sowie einer wachsenden evangelikalen Bewegung. Die jüngsten Einwanderungswellen stellen für die autochthonen Christen eine zusätzliche Herausforderung dar: mit dem Ende des Kalten Krieges setzte ein Zuzug nicht-arabischer Christen nach Israel ein, der bis heute anhält. Die neuen Christen stammen aus der ehemaligen Sowjetunion (Christen, die mit ihren jüdischen Ehepartnern eingewandert sind), Afrika (Asylsuchende) und Asien (Arbeitsmigranten). Diese Einwanderer unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht von den palästinensischen Christen im Staat Israel, die für sich genommen eine homogene Gruppe mit hohem politischen Organisationsgrad und einem geografischen Fokus auf den Norden des Landes bilden. Dies versetzt sie in die Lage, nicht nur ihren Minderheitenstatus in Israel zu behaupten, sondern auch ihren nationalen Anspruch zu artikulieren. Als autochthone Christen sind sie eng mit ihrer Heimat verbunden. Ihnen gegenüber stehen Christen, denen identitätsstiftende Merkmale fehlen (siehe Tabelle 2). Einige Quellen gehen davon aus, dass diese Einwanderer unter der Gesamtheit israelischer Christen bereits heute die Mehrheit bilden.

Diese Christen werden zusammenfassend und in Abgrenzung zu ihren palästinensischen (arabisch sprechenden) Glaubensbrüdern als „hebräisch sprechende Christen“ bezeichnet. Politisch treten sie nicht in Erscheinung, da sie vorwiegend um Assimilierung bemüht sind. Sie leben in jüdischen Nachbarschaften und durchlaufen ein Bildungssystem, das ihre christliche Identität nicht thematisiert. Die autochthone Gruppe nimmt zwar ebenso wie diejenige der eingewanderten Christen eine Minderheitenrolle ein, jedoch sehen beide Seiten hierin keinerlei Grund für eine beidseitige Vernetzung.

Christen in Palästina: eine Minderheit mit Eigenprofil

Laut israelischer und palästinensischer Verfassung (Grundgesetze) kommt allen Gläubigen das Recht der Religionsausübung, an welchem Ort auch immer, zu. Für die Palästinensischen Gebiete gilt dies auch für den Gazastreifen, der seit nahezu elf Jahren unter der Kontrolle der Hamas steht. Die islamistische Organisation hat ihre Herrschaft genutzt, um mittels eigener Gesetze und Verordnungen dieses Gebiet rechtlich nach eigenen Vorstellungen umzugestalten. Unter den zwei Millionen Einwohnern finden sich etwa 1.100 Christen, von denen fast zwei Drittel angeben, sich nicht oder nur teilweise sicher zu fühlen. Konkrete Übergriffe gegen Christen wurden bislang nicht bekannt. Auch Menschenrechtsorganisationen betonen, dass sie keinerlei Einschränkungen der Religionsfreiheit im Gazastreifen beobachten. Somit ist davon auszugehen, dass die Hamas die christliche Präsenz nutzt, um sich als Schützerin der Religionsfreiheit zu inszenieren, während sie auf allen anderen Ebenen eine Islamisierung des öffentlichen Raums forciert.

Anders als in Israel, wo der jüdische Charakter staatskonstituierende Bedeutung hat, bemühen sich die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) und die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) um einen religionsinklusiven Diskurs: „Ein Palästina ohne Christen kennen wir nicht“, so eine offizielle Stimme. In ihren Reihen fanden sich immer auch Christen. Beispiele für die nationale Ausrichtung gab es bereits in den Anfängen des palästinensischen Widerstands, als man die „Muslimisch-Christliche Vereinigung“ für den Kampf gegen das britische Mandat gründete. 1968 wurde die „Volksfront zur Befreiung Palästinas“ (PFLP) von George Habash gegründet, einem griechisch-orthodoxen Palästinenser, der in den 1960er und 1970er Jahren linksterroristische Strategien propagierte und erstmals die Entführung von Flugzeugen der zivilen Luftfahrt als Terrorinstrument forderte.

Ihren prominenten Platz im öffentlichen Raum danken die Christen vor allem institutionellen Arrangements. Artikel 4 des palästinensischen Grundgesetzes benennt zwar den Islam als offizielle Religion, jedoch stehen auch andere Religionen unter dem Schutz der Autonomiebehörde. Das „Präsidentenkomitee für Kirchenangelegenheiten“ ist Präsident Mahmud Abbas mit Blick auf die Lage der Christen unmittelbar berichtspflichtig. Damit soll unterstrichen werden, dass der politischen Führung das Schicksal der Christen durchaus ein Anliegen ist. Nur wenige arabische Regierungen verfügen über ein vergleichbares Vertretungsgremium für religiöse Minderheiten. Zusätzliches Profil erhalten die Christen durch ein Quotensystem, das ihnen eine Mehrheit in zehn Gemeinderäten des Westjordanlandes zusichert. Auch auf exekutiver und legislativer Ebene hat sich ein Quotensystem zur Abbildung der gesamten palästinensischen Gesellschaft etabliert: Im Palästinensischen Legislativrat sind sechs von 132 Sitzen für Christen reserviert.

Mehr als einhundert Jahre Emigration: Warum verlassen Christen ihre Heimat?

Die Gründe christlicher Auswanderung fügen sich heute in die globalen Trends von Migrationsbewegungen ein: das Streben nach einem besseren, von Aufstiegsmöglichkeiten geprägten Leben bewegt viele Auswanderungswillige. Hinzu kommen spezifische ortsbedingte Faktoren: dank des Besuchs von Missionarsschulen stiegen Christen früh in die urbane Mittelschicht auf und waren daher schon historisch bedingt prädestiniert für ein Leben im Ausland. Gute christliche Schulen legten von Beginn an ihre Schwerpunkte auf die Vermittlung von Fremdsprachen und einen positiven Blick auf den Westen.

Unter palästinensischen Christen (und anderen Gruppen) setzten Migrationsbewegungen Mitte des 19. Jahrhunderts ein und erlebten ab 1908 eine Intensivierung, als die Osmanen die Wehrpflicht für Christen einführten. In der Folge waren es vor allem junge Männer, die vor dem osmanischen Armeedienst flohen und in der Hoffnung auf Wohlstand ihre Heimat verließen. Hauptdestinationen waren Nord- und Südamerika, wobei insbesondere Lateinamerika nach wie vor ein beliebtes Ziel für palästinensische Auswanderer ist – so etwa Chile, wo heute 500.000 Palästinenser leben.

Eine zweite Migrationswelle hatte politische und militärische Ursachen. Der erste israelisch-arabische Krieg 1948/1949 führte dazu, dass etwa 700.000 Palästinenser aus Israel flohen oder von dort vertrieben wurden. 50.000 Christen flohen in den Kriegswirren; West-Jerusalem, Haifa, Jaffa und Lod verloren so die Mehrheit ihrer christlichen Bewohner. Zwischen 1948 und 1967 setzte sich der Migrationsstrom in Form einer dritten Auswanderungswelle fort. Gut ausgebildete Christen folgten dem Ruf aus Jordanien und den Golf-Staaten nach qualifizierten Fachkräften. Unter der jordanischen Herrschaft über das Westjordanland und Ost-Jerusalem nahm der politische Druck zu, in dessen Folge Palästinenser intern emigrierten und sich östlich des Jordans – im heutigen Jordanien – niederließen. Zu einem neuerlichen Anstieg (vierte Welle) christlicher Migration kam es bedingt durch die prekäre Lage nach dem Sechstagekrieg (1967), der den Palästinensern die israelische Besatzung des Westjordanlandes und Gazas sowie die spätere Annexion Ost-Jerusalems bescherte. Weitere Teile der Gesellschaft reagierten schließlich resigniert auf das Scheitern des Osloer Friedensprozesses und den Ausbruch der zweiten Intifada ab Herbst 2000, sodass eine fünfte Migrationswelle Palästinenser in die Diaspora trieb.

Während das bereits beschriebene Quotensystem das Ziel der palästinensischen Führung in Ramallah widerspiegelt, religiösen Minderheiten Mitsprachemöglichkeiten einzuräumen, verändert sich derzeit das gesellschaftliche Klima. Stärker als früher werden sich Christen heute ihrer Minderheitenrolle bewusst und sehen sich in einem Abhängigkeitsverhältnis zu den religiösen Mehrheitsgesellschaften. Die Angst vor politischer Veränderung zu ihren Ungunsten fördert mitunter das Gefühl, im Ausland sicherer zu sein als in ihrer palästinensischen Heimat. Und schließlich tragen Kultur, öffentlicher Diskurs und Erziehungskonzepte dazu bei, dass Christen sich nicht als Teil des palästinensischen Gemeinwesens fühlen. Wer bleibt, hat die Wahl zwischen verschiedenen Anpassungsstrategien – Assimilation an das jeweilige Umfeld, Verschleierung der eigenen Identität, Dialog mit anderen Gesellschaftsgruppen oder Rückzug ins innere Exil.

Trends und Herausforderungen

Die für die Christen – im Sinne einer (Über-)Lebensstrategie – charakteristische Inkohärenz wird durch politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Trends ständig neu herausgefordert. Palästinensische Christen sehen sich zwei Fronten gegenüber: in Palästina bedroht sie die Islamisierung, während sie in Israel auf einen jüdischen Fundamentalismus treffen, der von national-religiösen jüdischen Splittergruppen und jüdischen Rechtsextremisten vertreten wird. Sogenannte „Preisschildattacken“ gegen Palästinenser und Christen sollen die israelische Regierung daran erinnern, dass Zugeständnisse an nicht-jüdische Gruppen unerwünscht sind.

Ein konkretes Resultat der Politisierung der Christen aus jüngerer Vergangenheit ist das Kairos-Palästina-Dokument von 2009, das dessen Autorinnen und Autoren als christliche Reaktion auf die israelische Militärbesatzung sehen. Bekanntester Ko-Autor ist der ehemalige lateinische Patriarch Michel Sabbah, der während seiner Amtszeit (1987 bis 2008) zu einer der wichtigsten Stimmen der orientalischen Christen wurde. Als erster Palästinenser in der Position des lateinischen Patriarchen nutzte er seine prominente Stellung, um gezielt auf die politischen Missstände seines Volks hinzuweisen.

Das Kairos-Palästina-Dokument steht unter der Überschrift „Schrei nach Hoffnung“ und zielt darauf ab, einen positiven und konstruktiven Blick auf die Zukunft von Palästinensern und Israelis zu fördern. Verfasst wurde es von lokalen Christen in arabischer Sprache, um primär Palästinenser zu erreichen. In derart deutlicher und organisierter Form hatten ortsansässige orientalische Christen bislang keinerlei Stellung zum israelisch-palästinensischen Konflikt bezogen. Der Text geht über eine Zustandsbeschreibung hinaus und beinhaltet konkrete Handlungsempfehlungen, wie etwa die Unterstützung eines gewaltfreien Widerstands. Als theologische Fundierung dient der Verweis auf das Hohelied der Liebe (1 Kor 13,1–13), dessen Kerngedanken – Glaube, Liebe, Hoffnung – auf die Gegenwart übertragen und als Gliederungsmuster angewendet werden. Die Initiatoren von Kairos verstehen Liebe in diesem Zusammenhang als Auftrag, die moralische Kraft des Judentums zu reaktivieren. Damit hat sich die Gruppe durchaus angreifbar gemacht, weil sie letztere derzeit im Widerspruch zur israelischen Militärbesatzung verortet. Angesichts der weltweiten Beachtung des Dokuments, nicht zuletzt auch aufgrund der Positionierung bei Boykottkampagnen gegen Israel, gilt die Initiative aus Sicht der Initiatoren als großer Erfolg.

Michel Sabbah beschreibt die Kirche im israelisch-palästinensischen Konflikt als einen Akteur, der die Botschaft Jesu verkörpere und zur Versöhnung zwischen beiden Seiten beitragen solle. Die Kommission für Frieden und Gerechtigkeit des lateinischen Patriarchats bezieht deutlich Stellung, wenn sie verlautbaren lässt: „In beiden Gesellschaften (in Israel und Palästina) ist das Leben der Palästinenser weit davon entfernt, normal zu sein. Und normal zu handeln, als ob die Dinge normal wären, ignoriert die Verletzung der Grundrechte der Menschen.“ Damit stellt sich die katholische Kirche auf die Seite jener, die „normale Beziehungen“ mit Israel kritisch sehen, solange die Besatzung anhält.

Während ihre Repräsentanten die Öffentlichkeit suchen, wählen die Kirchenmitglieder oftmals den entgegengesetzten Weg – von einer selbstgewählten Ghettoisierung ist bereits die Rede. Neue Nachbarschaften entstehen, teils mit institutioneller Förderung, um Christen den fußläufigen Zugang zu Kirche und Schule zu ermöglichen. Derart geschlossene, abseits traditioneller christlicher Viertel gelegene Wohnkomplexe vertiefen die Kluft zu den Muslimen. In Ost-Jerusalem, wo es an Arbeit mangelt und Wohnraum teuer ist, wird dieses Phänomen besonders häufig beschrieben. Dies ist insofern schmerzhaft, als im Ostteil der Stadt zentrale Stätten des Christentums – so etwa die Grabeskirche, die Via Dolorosa und der Ölberg – liegen.

Wer gehen kann, der geht: empirische Befunde für Abwanderungstrends

In einem gemeinsamen Projekt haben die Konrad-Adenauer-Stiftung in Ramallah und DIYAR (Bethlehem) empirische Befunde zu den Migrationsursachen unter Christen und Muslimen in den Palästinensischen Gebieten vorgelegt. Demnach tendieren Christen und Muslime in der Regel zu einer ähnlichen Betrachtung politischer und gesellschaftlicher Entwicklungen. So etwa empfinden beide Seiten die Religionsfreiheit als gegeben, während das Sicherheitsgefühl vor allem vom Wohnort und von der Religion abhängt (siehe Abb. 1).

Der Konflikt mit Israel (45 Prozent der Christen / 60 Prozent der Muslime) und die wirtschaftliche Lage (16 Prozent der Christen / zwölf Prozent der Muslime) werden am häufigsten als verunsichernde Faktoren genannt. Religiösen Extremismus bezeichnen ausschließlich Christen in Gaza als Unsicherheitsfaktor (25 Prozent).

62 Prozent der Christen und 92 Prozent der Muslime sind davon überzeugt, der Zionismus verfolge das Ziel, Christen und Muslime aus dem historischen Palästina zu vertreiben. Konkret gibt eine Mehrheit (65 Prozent der Christen / 52 Prozent der Muslime) an, ihre Bewegungsfreiheit sei eingeschränkt. Für Christen wiegt besonders schwer, dass die israelische Sperranlage heute zwischen der Bethlehemer Geburtskirche und der Jerusalemer Grabeskirche verläuft.

Betrachtet man Migrationstendenzen genauer, fällt auf, dass 23 Prozent der befragten Christen, aber nur zwölf Prozent der Muslime Familienangehörige haben, die im vorausgegangenen Jahr ausgewandert sind. Migration wird somit zu einem Massenphänomen, da 49,5 Prozent der 12,7 Millionen Palästinenser weder in den Palästinensischen Gebieten noch in Israel leben. Somit ist anzunehmen, dass vermutlich jeder Palästinenser jemanden mit persönlicher Migrationserfahrung kennt. Der Umstand, dass doppelt so viele Christen wie Muslime Migration in ihrem unmittelbaren Familienumfeld erlebt haben, lässt antizipieren, dass ihr Anteil in der Gesellschaft weiter abnehmen wird.

Die zurückgebliebenen Angehörigen geben an, wirtschaftliche Ursachen seien für 72 Prozent der Christen und 59 Prozent der Muslime der Hauptgrund für deren Emigration gewesen. Politische (zwölf Prozent der Christen / 18 Prozent der Muslime) und soziale oder religiöse Faktoren (neun Prozent der Christen / 17 Prozent der Muslime) spielten dagegen eine nachgeordnete Rolle. Die primär nationale Perspektive wird durch einen weiteren Wert bestätigt: 63 Prozent der Christen und sogar 89 Prozent der Muslime sind der Meinung, israelische Aktionen beeinflussen ihre Präsenz im Heiligen Land und tragen zur Abwanderung bei.

28 Prozent der befragten Christen und 24 Prozent der Muslime geben an, eine Emigration zu erwägen. Der Anteil der Auswanderungswilligen könnte sich bei zunehmenden Spannungen im Nahen und Mittleren Osten noch erhöhen. 27 Prozent der Christen und 20 Prozent der Muslime geben an, die regionale Lage erhöhe noch ihren Emigrationswunsch.

Die nachgeordnete Relevanz von Religion und Religionszugehörigkeit spiegelt sich nicht nur unter den Auswanderungswilligen wider, sondern auch innerhalb der Gruppe jener, die in ihrer palästinensischen Heimat bleiben wollen – nur zwei Prozent der Christen geben an, aus religiösen Gründen nicht auswandern zu wollen. Die Furcht, irgendwann gäbe es keine „lebenden christlichen Steine“ mehr, um das religiöse Erbe zu schützen, ist somit nicht konstitutiv für Migrationsabwägungen. Im Gegenteil ist die gefühlte Verbindung mit dem Land (41 Prozent der Christen / 49 Prozent der Muslime) oder der Familie (34 Prozent der Christen / 36 Prozent der Muslime) zu verwurzelt, um eine Auswanderung anzustreben.

Trotz der seit dem Amtsantritt von Präsident Donald Trump beobachteten Spannungen zwischen Washington und Ramallah wünscht sich eine Mehrheit der Auswanderungswilligen ein neues Leben in den Vereinigten Staaten (43 Prozent der Christen / 25 Prozent der Muslime), während kein europäisches Land als bevorzugte Destination genannt wird. Erst eine Addierung aller genannten europäischen Länder zeigt, dass der Kontinent mit 26 Prozent (Christen) und 49 Prozent (Muslime) sich den Werten der USA nähert. Dass Europa aus lokaler Sicht eher als pro-palästinensisch und die USA als pro-israelisch wahrgenommen werden, macht sich somit nicht unmittelbar bemerkbar.

Zur Zukunft der Christen in den Palästinensischen Gebieten

Als der US-amerikanische Präsident Donald Trump im Dezember 2017 Jerusalem als Hauptstadt Israels anerkannte, empörte sich die arabische und muslimische Welt. Sprecher des Protests verwiesen nicht nur auf die erschwerten Voraussetzungen für künftige Friedensgespräche, sollten die USA einseitig Position in dieser Endstatusfrage beziehen. Auch wurde auf die religiöse Bedeutung der Stadt Jerusalem für den Islam verwiesen. Gleichsam rückt seitdem das christliche Jerusalem vermehrt in den Diskurs. Sämtliche Kirchenoberhäupter wandten sich im Vorfeld an den US-Präsidenten und warben für versöhnliche Schritte.

Palästinensische Christen führen in ihrer Heimat eine Nischenexistenz. Ihr Alltag spielt sich zwischen der Klaustrophobie selbstgewählter Ghettos und der Weite der Diaspora ab, in der heute mehr Palästinenser als in den Palästinensischen Gebieten leben. Um diesen Trend umzukehren, sind Anstrengungen vonnöten. Dazu gehört, dem christlichen Erbe der palästinensischen Geschichte vermehrt zu Geltung zu verhelfen. Schulbücher sollten beispielsweise eine pluralistische Gesellschaft abbilden. Schon heute lässt sich unter Christen die Sorge vernehmen, ob auch ein künftiger Staat Palästina zum Schutz der eigenen religiösen Minderheiten in der Lage sein werde. Diese Furcht erscheint begründet, betrachtet man die Freiheitseinschränkungen in der arabischen Welt. Laut dem US-amerikanischen Think-Tank Freedom House, das jährlich den Stand von Freiheit und Demokratie in der Welt misst, gilt lediglich Tunesien als frei, drei Staaten gelten als teilweise frei und alle anderen Staaten laut Freiheitsindex als nicht frei. Vertrauensbildende Maßnahmen können diese Angst bekämpfen. An Selbstbewusstsein sollte es den Christen auch nicht fehlen: 70 Schulen für 27.000 Schüler sowie 260 soziale und karitative Organisationen befinden sich in kirchlicher Trägerschaft.

Um Migrationsbestrebungen grundsätzlich zu stoppen, bedarf es ökonomischer Anreize. 20 Prozent aller Angestellten arbeiten im Hotel-, Restaurant- oder Handelswesen. Geschätzte 630.000 Touristen, darunter ein Drittel Pilger, haben 2017 die Palästinensischen Gebiete besucht (Israel: 3,7 Millionen), was sich indes wirtschaftlich nur beschränkt bemerkbar macht, da allenfalls 1,1 Prozent des BIP durch den Tourismussektor generiert werden. Hier bedarf es einer Aufklärungsarbeit im Westen, um für einen gerechten und nachhaltigen Tourismus, insbesondere gegenüber Pilgern, zu werben. Diese Aufgabe könnte die Diaspora übernehmen, die ihre Netzwerke und Erfahrungen hierfür einbringen könnte. Bei einer Arbeitslosenquote von 27 Prozent in den Palästinensischen Gebieten und restriktiven Handelsmöglichkeiten steckt im Tourismus ein großes Potenzial. Zugleich sind Ost und West aufgefordert, ihre Dialogfähigkeit kritisch zu reflektieren: der religiös orientierte Nahe Osten stößt auf einen säkularisierten Westen, der zwar gerne von Werten spricht, diese aber weitaus weniger in den Alltag integriert als es der Orient tut. Der palästinensische Pfarrer Mitri Raheb weist auf einen weiteren Widerspruch hin: während die arabischen Christen oftmals als progressive Kraft auftreten, gelten Christen im Westen als Bewahrer konservativer Werte, die sich gegen Veränderungen stellen.

Allen hier genannten Problemen zum Trotz: Eine überwältigende Mehrheit ist laut der KAS-DIYAR-Studie überzeugt, dass es auch in Zukunft christliches Leben in Palästina geben wird. Derselben Umfrage ist jedoch auch zu entnehmen, dass der israelisch-palästinensische Konflikt zunehmend als religiöse Auseinandersetzung wahrgenommen wird. Religionen und ihre Vertretungsorgane sind folglich aufgefordert, einerseits ihre Friedfertigkeit zu unterstreichen und andererseits deutlich zu machen, dass sie keine politischen Agenden verfolgen. Damit die Perspektive der „lebenden Steine“ an den heiligen und historischen Stätten ungetrübt bleibt, bedarf es Signale der Hoffnung darauf, dass sich die politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für Glaubensanhänger aller Religionen in der Region verbessern.

 
 

Marc Frings ist Leiter des Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung in den Palästinensischen Gebieten.


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22. Dezember 2017
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