Länderberichte
Teilkommunalwahlen und By-Election vom 4. Mai
- Die Konservativen konnten zwar nicht in London den früheren "Old-Labour" Politiker und als Unabhängigen antretenden Ken Livingston als Bürgermeister verhindern, mit 9 Sitzen sind die Tories jedoch im Stadtrat genauso stark wie Labour vertreten. Der populäre Livingston, wegen des Wahlmodus nach seiner Nichtnominierung durch Labour aus der Partei ausgetreten, brachte dem offiziellen, von Tony Blair unterstützten Labourkandidaten Frank Dobson eine schwere Niederlage bei. Mit 776 427 Stimmen (einschließlich 2. Präferenz) kann Livingston für sich in Anspruch nehmen, den höchsten jemals erreichten Zuspruch für einen Politiker in Großbritannien erfahren zu haben. Dadurch wird seine Position in den Verhandlungen mit der Regierung, die letztlich die Höhe des Budgets für die Hauptstadt festlegt, gestärkt.
- Der Verlust eines Abgeordnetensitzes im House of Commons bei der Romsey Nachwahl an einen Liberaldemokraten zeigt die Grenzen für die Tories und gleichzeitig ihr Dilemma auf. Taktisches Votieren gegen Konservative Kandidaten bei den kommenden Wahlen könnten die hohen Erwartungen auf 50-60 zusätzliche Sitze zunichte machen, hohe Zugewinne wiederum die Liberaldemokraten in eine Koalition mit Labour, damit in die Arme von Tony Blair treiben und die Tories in eine lange Zeit der Opposition. Denn wegen grundsätzlicher Unterschiede in der Wirtschafts- und Europapolitik ist eine Koalition zwischen Liberaldemokraten und Konservativen nicht denkbar. Aus dem Wahlsieg der Liberaldemokraten in Romsey darf nicht der falsche Schluß gezogen werden, daß die LibDems die Tories als zweite politische Kraft ablösen könnten.
- Auch wenn sich die Kommunalwahlen vom guten Ergebnis her für die Opposition im wesentlichen nicht von früheren Teilwahlen unterscheiden und immer als Protestwahlen gegen die Regierung bei niedriger Wahlbeteiligung galten, bestätigen sie den Tories und William Hague eine in den vergangenen Wochen zu beobachtende Trendwende in der Wählergunst. Letzte Umfragen haben den Abstand zwischen Labour und Conservatives auf 7 Punkte schrumpfen lassen (41 zu 34). Den Tories gelingt es mehr und mehr, wichtige Themen zu besetzen, das sind neben dem Euro das Asylantenthema und Fragen von Recht und Ordnung. Hague selber kann von diesem Stimmungswandel allerdings für seine Popularität nicht profitieren. Er ist zu gut und erfolgreich, um abgelöst zu werden und zu schwach, um die nächsten Wahlen zu gewinnen. Eine immer wieder aufkommende Diskussion um eine mögliche Herausforderung und Ablösung durch Michael Portillo kann er heute gelassener hinnehmen. Sie kann vor den Wahlen, vermutlich im Mai 2001, ausgeschlossen werden.
- Nach wie vor scheint ein Laboursieg bei den nächsten Wahlen ungefährdet zu sein. Die beigefügte Übersicht über die Kompetenz der Parteien in wichtigen Politikfeldern gibt Labour einen deutlichen Vorsprung und relativiert das schlechte Wahlergebnis des 4. Mai. Es bleibt abzuwarten, ob sich mit näher rückendem Wahltermin Verschiebungen ergeben.
Kompetenz der Parteien | |
% Kompetenzvorsprung von Labour minus % Kompetenzvorsprung der Tories | |
Obdachlosigkeit | +42 |
Arbeitslosigkeit | +40 |
Gesundheitswesen | +30 |
Öffentlicher Verkehr | +27 |
Bildung und Schulen | +22 |
Umwelt | +17 |
Pensionen | +15 |
Inflation | +9 |
Streiks | +8 |
Europa | +2 |
Besteuerung | +2 |
Ländliche Gebiete | 0 |
Recht und Ordnung | -3 |
Verteidigung | -13 |
Asylsuchende | -13 |
Die Europadebatte
Das starke Pfund Sterling, der Rover Verkauf durch BMW und die Rede von Aussenminister Fischer über seine Vision von Europa haben die Europadebatte in Grossbritannien erneut belebt.
Im Mittelpunkt der Analysen zu Fischers Rede steht sein Ansatz der Schaffung einer Europäischen Föderation. Die Medien reagieren so, wie nicht anders bei der starren und verhärteten Positionierung zu erwarten war und lassen erneut Parteinähe erkennen. Im "Sunday Telegraph" wird der Schattenaussenminister F. Maude mit den Worten zitiert: "Herr Fischer schlägt die Schaffung einer Europäischen Föderation vor mit einem Europäischen Parlament und einer Europäischen Regierung, die über Grossbritannien Macht ausübt. Anders als Tony Blair ist Fischer ehrlich hinsichtlich der Richtung, wohin sich Europa bewegt." Spektakulär sei der Deckel von der Agenda eines europäischen Superstaates geflogen.
Die Sonntagszeitung "Sunday People" vermutet, daß sich hinter dem Vorschlag eine politische Achse zwischen Frankreich und Deutschland verbirgt, die als Führungsmächte einen Superstaat schaffen wollen. Die Betonung seitens des Aussenministers, dass es sich um eine persönliche Meinung handle, wird nicht akzeptiert und übereinstimmend in den Medien als eigenartig gewertet. Für Tony Blairs Bemühungen, im Zentrum der europäischen Entwicklung zu stehen, wird die Rede als Rückschlag gesehen.
Zurückhaltend äußert sich der europafreundliche "Independent". Auch hier wird die neue deutsch-französische Zusammenarbeit hervorgehoben und ein Wegrücken Deutschlands von Grossbritannien geargwöhnt. Es wird daran erinnert, daß die Briten sich bereits vor drei Jahren gegen ein Europa der zwei Geschwindigkeiten ausgesprochen hatten.
Auch der europäischen Integration positiv eingestellte "Guardian" ist vorsichtig kritisch, da sich London ohnehin bereits durch die Existenz der Euro-11 Gruppe ausgeschlossen fühle und Fischers Vorschlag zu einer weiteren Isolierung führe. Er verweist auf Regierungskreise, die befürchten, daß Frankreich versuchen werde, während seiner Präsidentschaft enger mit Deutschland zusammenzuarbeiten. Allerdings gibt es hinsichtlich der deutsch-französischen Zusammenarbeit auch nüchterne Einschätzungen.
Der "Daily Telegraph" sieht auf französischer Seite eine gewisse Halbherzigkeit und wenig Engagement, sich während der Präsidentschaft mit Fischers Position auseinanderzusetzen. Frankreich sei auch weniger enthusiastisch hinsichtlich der Osterweiterung der EU. Erinnert wird daran, daß die Beziehungen früher die besten und einflußreichsten in Europa waren.
Insgesamt ist auffallend, daß der Umfang der Berichterstattung vergleichsweise gering ist. Auch die "Financial Times" beschränkt sich zunächst auf eine knappe und sachliche Darstellung, läßt allerdings Dominique Moisi des Institut Français des Relations Internationales mit einem Gastbeitrag:" Danke, Herr 'Fischer" zu Wort kommen. Besondere Aufmerksamkeit wird auch bei der FT den gestörten deutsch-französischen Beziehungen gewidmet. "Langfristig gesehen wird Frankreich zu verstehen haben, daß das Nachkriegsverständnis, das es mit Deutschland positiv erfahren hat, für immer zu Ende ist. Ein gewichtigeres und emanzipiertes Deutschland wird unvermeidlich die privilegierte Partnerschaft überprüfen. Die Beziehungen zu Paris werden nicht notwendigerweise zugunsten von London oder Washington reduziert, aber Berlin möchte vielleicht seine diplomatischen Optionen ausweiten. Mehr Aufmerksamkeit wird zweifelsohne der diplomatischen Feinabstimmung zu widmen sein. Berlin wird dies lernen. Aber Paris muß sich den Realitäten anpassen, um Friktionen im Herzen Europas zu verhindern."
Für die britische Regierung kommt Fischers Rede insgesamt zu einem ungeeigneten Augenblick, da Spannungen in der Regierung zur Europapolitik den Tories zusätzlich in die Hände spielen. Forderungen des Nordirlandministers Peter Mandelson, dem Euro beizutreten, um negative Auswirkungen für die verarbeitende Exportindustrie abzufedern, wurden aus dem Ministerium des Schatzkanzlers brüsk zurückgewiesen und lassen die offenkundigenSpannungen stärker an die Öffentlichkeit dringen. Auch der Britische Unternehmerverband (CBI) geht weiter auf Distanz zur Regierung. Ihr Präsident Clive Thompson ließ Blair wissen, dass die von der Regierung und von Brüssel erlassenen Richtlinien zur Beschäftigungspolitik langfristig der Beschäftigung schadeten.
Ausgesprochen kritisch meldet sich der "Economist" in der vorletzten Maiausgabe (20.-26. Mai) zur allgemeinen Entwicklung in Europa zu Wort. Er sieht trotz der Reden und visionären Vorstellungen eine Leere und Indifferenz, die insbesondere in Bezug auf die Erweiterung zu Rückschlägen führen könne, eine Aufgabe, die das besondere Anliegen der EU sein müsse, um die früheren kommunistischen Staaten in eine liberale und marktwirtschaftlich geprägte Gesellschaftsordnung zu überführen. Auf das Prinzip der Flexibilität eingehend vertritt der "Economist" die Auffassung, dass die Grundidee der Flexibilität nicht eine vorübergehende Dynamik entwickeln werde, sondern zu einem dauerhaften Multisystem in Europa führen könne. Eine solche radikale Veränderung , "in der Staatengruppen sich in unterschiedlichen Integrations- und Kooperationsformen entsprechend ihren unterschiedlichen Vorstellungen fortentwickeln, würde eine stabilere und eher gangbare Alternative sein, um eine große, liberale Gemeinschaft mit mehr als 30 oder mehr Staaten zu organisieren."
Mit dieser Auffassung bewegt sich der "Economist" auf die Vorstellungen der Konservativen zu.