Die Europawahl: ein historischer Verlust als Erfolg für die ÖVP
Nimmt man die Berichterstattung einschlägiger österreichischer Medien unmittelbar nach der Europawahl zum Maßstab, könnte der Eindruck entstehen, die Österreichische Volkspartei (ÖVP) sei der große Verlierer der Wahl zum Europäischen Parlament. Der Eindruck, die ÖVP habe die Wahl verloren, entspricht auch insofern den Tatsachen, als die ÖVP im Vergleich zur Europawahl von 2019 den mit Abstand größten Verlust aller Parteien hinnehmen muss. Sie kommt jetzt nur noch auf 24,5 Prozent der Stimmen. Das entspricht noch fünf Sitzen im Europaparlament. Im Vergleich dazu waren es 2019 noch 34,6 Prozent und sieben Sitze. Stärkste Kraft ist, zum ersten Mal überhaupt bei einer bundesweiten Wahl, die rechtspopulistische Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) mit 25,4 Prozent (sechs Sitze) geworden. Sie kann ein Plus von 8,2 Prozent für sich verbuchen und sich zumindest in dieser Hinsicht als klarer Gewinner der Wahl fühlen. Auf dem dritten Platz landet die Sozialdemokratische Partei Österreichs (SPÖ) mit 23,2 Prozent und ebenfalls fünf Sitzen (0,7 Prozent weniger als 2019), gefolgt von den Grünen mit 11,1 Prozent und zwei Sitzen (-3,0 Prozent) sowie der liberalen Partei Das Neue Österreich und Liberales Forum (NEOS) mit 10,1 Prozent und ebenfalls zwei Sitzen (+1,7 Prozent).
Um dieses nur auf den ersten Blick eindeutige Ergebnis richtig einordnen zu können, ist es wichtig, einen Blick zurück auf die in mehrerlei Hinsicht besonderen Umstände der österreichischen Europawahl 2019 zu werfen. Diese fand damals nur wenige Tage nach Bekanntwerden des so genannten Ibiza-Videos statt, in dem der damalige FPÖ-Vorsitzende und spätere Vizekanzler Heinz-Christian Strache in offensichtlich alkoholisiertem Zustand recht unverhohlen seine Bereitschaft zur Korruption und verdeckten Einflussnahme auf parteiunabhängige Medien erkennen ließ. Von der großen öffentlichen Empörung nach der Veröffentlichung des Videos konnte bei der kurz danach stattfindenden Europawahl vor allem die ÖVP profitieren, deren Vorsitzender Bundeskanzler Sebastian Kurz sich ohnehin gerade auf dem Scheitelpunkt einer in ganz Europa bestaunten Popularitätswelle befand. Das Zusammenspiel beider Faktoren führte dann auch dazu, dass die ÖVP nicht nur mit mehr als zehn Prozent Vorsprung auf Platz eins landete, sondern auch ihr bestes jemals bei einer Europawahl erreichtes Ergebnis einfahren konnte.
Seit 2019 hat sich in der österreichischen Politik und rund um die ÖVP allerdings viel getan. Der einstige Shootingstar Sebastian Kurz musste 2021 in Folge von Korruptionsvorwürfen zurücktreten, was in kurzer Folge zu zwei neuen Bundesregierungen, mehreren Untersuchungsausschüssen und etlichen Gerichtsverfahren führte, die die Republik Österreich bis heute beschäftigen.
Unter Bundeskanzler Karl Nehammer und in einer Koalition mit den Grünen regiert die ÖVP zwar nach wie vor, ist aber inzwischen meilenweit von den Umfragehochs der Kurz-Ära entfernt. In Meinungsumfragen für bundesweite Wahlen liegt die rechtspopulistische FPÖ mit weitem Abstand vorn und erreicht konstant Werte um 30 Prozent. ÖVP und SPÖ landen mit deutlichem Abstand und Werten von etwas über 20 Prozent auf den darauffolgenden Plätzen. Vor diesem Hintergrund war auch für die Europawahl ein deutlicher Sieg der FPÖ erwartet und der ÖVP so gut wie keine Chance auf Platz eins eingeräumt worden.
Dass es der ÖVP trotz dieser Erwartungshaltung gelungen ist, die Verluste einigermaßen im Rahmen zu halten, vor den Sozialdemokraten auf Platz zwei zu landen und – das ist vielleicht das Wichtigste – den Abstand zur FPÖ denkbar gering zu halten, kann vor diesem Hintergrund als echter Erfolg gewertet werden.
Die Nationalratswahl: das schwarze Pflänzchen Hoffnung
Es mag deshalb paradox klingen, aber trotz großer Verluste und eines historisch schlechten Ergebnisses hat sich die Ausgangslage für die ÖVP nach der Europawahl eher verbessert als verschlechtert. Dass die FPÖ in Reichweite und Platz eins bei der Nationalratswahl im Bereich des Möglichen liegt, ist dabei vor allem in psychologischer Hinsicht wichtig. Ein möglicherweise enges Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen zwei oder drei Parteien wird der Motivation von Parteifunktionären und Wahlkämpfern ganz sicher einen Schub verleihen und der ÖVP auch bei der Mobilisierung von Wählerinnen und Wählern helfen.
Ganz im Sinne dieser Mobilisierung setzt die ÖVP auf eine Frontstellung zwischen dem krisenerprobten, besonnenen und in der politischen Mitte stehenden Amtsinhaber, Bundeskanzler Karl Nehammer, im Gegensatz zu seinen beiden deutlich im rechten bzw. linken politischen Spektrum zu verortenden Konkurrenten, dem rechtsextremen FPÖ-Vorsitzenden Herbert Kickl und dem als sehr links geltenden SPÖ-Vorsitzenden Andreas Babler. Darüber hinaus ist die ÖVP darum bemüht, aus dem Dreikampf einen Zweikampf werden zu lassen und die Wahl im Herbst zu einem Duell zwischen der Stabilität verheißenden Nehammer-ÖVP auf der einen und der rechtspopulistischen, in Teilen gar rechtsextremen Kickl-FPÖ auf der anderen Seite zu stilisieren.
In dieser Strategie liegt für die ÖVP allerdings auch eine Gefahr, denn als vernünftige Kraft der Mitte droht sie im mitunter schrillen politischen Diskurs unterzugehen. Indem die FPÖ jede Gelegenheit nutzt, den Kanzler und die Regierung mit dem Instrumentenkasten des Populismus vor sich herzutreiben, drängt sie die ÖVP immer wieder in die Defensive. Nehammer und die ÖVP sind dementsprechend vor allem um Fehlervermeidung bemüht und es gelingt ihnen bisher noch zu selten, mit eigenen Akzenten und einem positiven Angebot zu den Wählerinnen und Wählern durchzudringen.
Programmatisch geht die ÖVP denn auch mit wenig Überraschendem in den Wahlkampf. Kernthemen gruppieren sich um die Schlüsselbegriffe Leistung, Familie und Sicherheit. Diese drei Themenbereiche hatte die ÖVP in einem mehrmonatigen Prozess für den sogenannten „Österreich-Plan“ ausgearbeitet und Ende Januar 2024 im Rahmen einer großen parteitags-ähnlichen Veranstaltung präsentiert.
Die Konkurrenz: eingeklemmt zwischen Rechten und Linken
Hauptkonkurrenz der ÖVP im nun beginnenden Wahlkampf wird die FPÖ sein. Sie gilt es zu schlagen, wenn die ÖVP am Ende ganz vorn liegen will. Darüber hinaus dürfte die ÖVP profitieren, wenn der Wahlkampf hauptsächlich vom Duell Nehammer gegen Kickl geprägt ist. Wie fast allen Mitte-Rechts-Parteien in Europa fällt es allerdings auch der ÖVP schwer, die richtige Balance aus Nähe und Abgrenzung zu den Rechtspopulisten zu finden. Einerseits gibt es mit der FPÖ in vielen Politikfeldern programmatische Überschneidungen und man regiert sogar in drei von neun Bundesländern gemeinsam. Andererseits gilt es, sich sowohl in der Sache als auch in der Form von einer Partei abzugrenzen, die wenig bis gar nichts mit den bürgerlichen und christdemokratischen Kräften der Mitte gemein hat.
Wie viele Parteien vom rechten Rand inszeniert sich auch die FPÖ als Anti-System-Partei, die die Interessen „der kleinen Leute“ vertritt und gegen „die da oben“ zu Felde zieht – und das, obwohl sie selbst seit Jahrzehnten an unzähligen Regierungen beteiligt war und ist. Selbstinszenierung und Kommunikation betreibt die FPÖ vor allem durch den intensiven Einsatz eigener Medien. Seit Jahren unterhält sie einen eigenen Fernseh-Sender (FPÖ-TV) und hat auf TikTok unter allen österreichischen Parteien die mit Abstand größte Reichweite. An Debatten im öffentlichen Rundfunk, den man in seiner jetzigen Form ablehnt, beteiligt sich die Partei dagegen immer seltener. So hat die FPÖ innerhalb von einigen Jahren ein paralleles, eigenes Mediensystem etabliert und viele ihrer Sympathisanten sind deshalb über herkömmliche Medien kaum noch zu erreichen.
Vor allem auf Bundesebene hat sich die FPÖ seit der Übernahme des Parteivorsitzes durch Herbert Kickl – zuvor Innenminister in der Regierung Kurz und einstmals Redenschreiber von Jörg Haider – weiter radikalisiert. Gab es zunächst noch Widerspruch gegen diesen Kurs aus einigen Landesverbänden, sitzt Kickl angesichts guter Umfragewerte inzwischen fest im Sattel. Selbst die Skandale und Korruptionsvorwürfe der letzten Jahre konnten ihm bisher nichts anhaben.
Hauptkonkurrenz von links ist nach wie vor die SPÖ mit ihrem erst im letzten Jahr ins Amt gekommenen Vorsitzenden Andreas Babler. Dieser hatte sich nach einem pannenreichen parteiinternen Abstimmungsprozess und mit einem strammen Links-Kurs gegen eine überwiegend gemäßigtere Konkurrenz durchsetzen können. Profitieren konnte die SPÖ von diesem Kurswechsel bisher freilich noch nicht. In Umfragen rangiert sie – wie auch bei der Europawahl – zumeist nur auf Platz drei. Dass die SPÖ nicht in stärkerem Maße von der nach wie vor großen Unzufriedenheit mit der schwarz-grünen Bundesregierung profitieren kann, hängt wohl auch mit parteiinternem Streit über die grundsätzliche Ausrichtung der Partei, insbesondere beim Thema Migration, zusammen. Die SPÖ-Landesvorsitzenden aus Wien, Tirol und dem Burgenland melden sich in verlässlicher Regelmäßigkeit mit Positionierungen zu Wort, die der offiziellen Parteilinie widersprechen. Sollte die SPÖ im Herbst wieder nur auf Platz drei landen, ist mit einer neuerlichen Führungsdebatte innerhalb der Partei zu rechnen.
Dass die SPÖ ihr Potential im linken Wählerspektrum nur in überschaubarem Maße ausschöpfen kann, hat auch mit zunehmender Konkurrenz im linken Lager selbst zu tun. So wird der Kommunistischen Partei Österreichs (KPÖ) seit ihrem Erfolg in Graz, immerhin der zweitgrößten Stadt Österreichs, wo sie seit 2021 die Bürgermeisterin stellt, auch auf Bundesebene ein nicht ganz zu vernachlässigendes Wählerpotenzial zugetraut. Bei der Europawahl waren es schon fast drei Prozent. Noch bedrohlicher wäre es aber wahrscheinlich für die SPÖ, wenn im Herbst auch noch die einstige Spaßpartei BIER Ernst macht und bei der Nationalratswahl antritt. Der Gründer und Vorsitzende der Bierpartei, Marco Pogo (bürgerlich: Dominik Wlazny), hatte bereits bei der Bundespräsidentenwahl 2022 ein beachtliches Ergebnis von immerhin acht Prozent erzielt.
Problematisch ist die neue Konkurrenz von links auch für die Grünen, denen zudem noch die Beteiligung an der ungeliebten Regierungskoalition mit der ÖVP schadet. Im Unterschied zu den deutschen Grünen, die einen erheblichen Wandlungsprozess in Richtung politische Mitte hinter sich haben und bei denen inzwischen die so genannten Realos den Ton angeben, sind die österreichischen Grünen noch wesentlich eindeutiger im linken Milieu zu verorten, was auch die Zusammenarbeit mit der ÖVP zunehmend erschwert. Gerade jetzt, wo das Ende der Legislaturperiode naht, sind die Grünen ganz offensichtlich darum bemüht, sich noch stärker als bisher vom Koalitionspartner abzugrenzen und ideologisch motivierte „Duftmarken” für die eigene Stammwählerklientel zu setzen. Bisheriger Höhepunkt dieser Strategie war dabei das Ja der grünen Klimaministerin zum EU-Renaturierungsgesetz gegen den erklärten Willen des Koalitionspartners und einer deutlichen Mehrheit der Bundesländer. Stünde die nächste Nationalratswahl nicht ohnehin so gut wie vor der Tür, wäre das auch verfassungsrechtlich außerordentlich zweifelhafte Vorgehen der Ministerin vermutlich Anlass für ein Scheitern der Regierung und vorgezogene Neuwahlen gewesen.
In der Wählergunst inzwischen fast auf Augenhöhe mit den Grünen bewegt sich die aktuell jüngste Partei im Nationalrat, die NEOS. Entstanden 2012 im Wesentlichen aus dem liberalen Flügel der ÖVP, dem parteiinterne Reformen nicht rasch genug gingen, scheinen sich die NEOS inzwischen im Parteienspektrum etabliert zu haben. Das ist umso bemerkenswerter, als es liberale Parteien in Österreich von jeher schwer hatten und sich bisher nie langfristig halten konnten. Die NEOS sind dagegen seit 2013 durchgängig im Nationalrat vertreten und finden ihre Wähler vor allem in urbanen Zentren. Wirtschaftspolitisch gibt es auch heute noch Schnittmengen mit der ÖVP, gesellschaftspolitisch hingegen sind die NEOS näher bei SPÖ und Grünen. In der Sicherheits- und Verteidigungspolitik haben die NEOS insofern ein Alleinstellungsmerkmal, als sie als einzige der im Nationalrat vertretenen Parteien eine Abkehr von der österreichischen Neutralität und einen Beitritt zur NATO fordern.
Die Koalitionsoptionen: schwierige Suche nach dem geringsten Übel
Nimmt man diese Ausgangslage, aktuelle Umfragewerte und die Ergebnisse der Europawahl zum Maßstab, sind aus heutiger Sicht für den Herbst zwei Koalitionsszenarien denkbar (im Sinne von einigermaßen realistisch): eine Zweierkoalition aus ÖVP und FPÖ auf der einen und eine Dreierkoalition aus ÖVP und SPÖ entweder mit den Grünen oder mit den NEOS auf der anderen Seite.
Für eine Zweierkoalition aus ÖVP und FPÖ sprechen vor allem inhaltliche Schnittmengen im Bereich der Migrations- und Gesellschaftspolitik. In vergangenen und aktuellen Koalitionen mit der FPÖ auf Bundes- und Landesebene hat man in der ÖVP die Erfahrung gemacht, dass sich in dieser Konstellation in der Regel der größte Teil der eigenen programmatischen Agenda umsetzen lässt. Hinzu kommt, dass es in Österreich so gut wie keine Erfahrung mit Dreierkoalitionen auf Bundesebene gibt und die bundesdeutsche Ampel, die auch in Österreich viel Aufmerksamkeit erfährt, bisher keine Werbung für eine solches Modell betrieben hat.
Gegen ein Bündnis aus Schwarzen (ÖVP) und Blauen (FPÖ) spricht die einhellige Festlegung der ÖVP-Spitze, mit einer von Kickl geführten FPÖ unter keinen Umständen zusammenarbeiten zu wollen, schon gar nicht für den Fall, dass die FPÖ vor der ÖVP landet und Kickl das Amt des Bundeskanzlers beansprucht. In der Frage, wo die FPÖ im Spektrum zwischen rechtskonservativ über rechtspopulistisch bis hin zu rechtsextrem und auch im Vergleich zur deutschen AfD einzuordnen ist, sind sich Beobachter in Österreich uneins. Klar scheint aber, dass es zumindest mit Kickl, der seine Zeit als Innenminister unter anderem für eine Zerschlagung des Verfassungsschutzes genutzt hat und offen mit Putins Russland sympathisiert, für die ÖVP keine Zusammenarbeit geben wird.
Eine Koalition aus ÖVP und FPÖ ohne Kickl ist von ÖVP-Seite bisher nicht grundsätzlich ausgeschlossen worden. Es scheint aber wenig wahrscheinlich, dass die FPÖ bereit wäre, ihren erfolgreichen Vorsitzenden zu opfern, nur um an einer Regierung beteiligt zu sein, die ihr als Anti-Establishment-Partei in puncto Zuspruch vermutlich mehr schadet als nützt.
Damit scheint aus heutiger Sicht die Bildung einer Dreierkoalition ohne oder gegen FPÖ die wahrscheinlichste Variante zu sein. Weil die klassische Ampel aus SPÖ, Grünen und NEOS weit von einer Mehrheit entfernt ist, dürfte es auf eine Koalition aus ÖVP, SPÖ und einer der beiden kleineren Parteien, Grüne oder NEOS, hinauslaufen. Eine Koalition aus drei Parteien gab es in Österreich zuletzt 1947 und das abschreckende Beispiel der deutschen Ampel zeigt eindrücklich, wie groß die Herausforderung ist, eine solche weltanschaulich heterogene Konstellation zusammenzuhalten.
Die Herausforderungen beginnen dabei schon zwischen ÖVP und SPÖ, deren Verhältnis spätestens seit der Ära Kurz weitgehend zerrüttet ist. Schwarze und Rote waren über Jahrzehnte in von wechselseitigem Misstrauen geprägten „großen” Koalitionen aneinander gebunden, die beiden Partnern eine Art Dauerabonnement auf die Macht sicherte. Spätestens seit die SPÖ in der Opposition ist, hat man die Zurückhaltung im politischen Kampf gegeneinander allerdings weitgehend abgelegt. Man begegnet einander immer häufiger in parlamentarischen Untersuchungsausschüssen und eine Zusammenarbeit ist damit – das haben zuletzt die gescheiterten Koalitionsverhandlungen in Niederösterreich 2023 gezeigt – deutlich schwieriger geworden.
Wäre auch noch der aktuelle Koalitionspartner der ÖVP, die Grünen, Teil einer solchen Dreierkoalition, brächte das für die ÖVP die Gefahr mit sich, zwischen zwei linken Parteien zerrieben zu werden. Gerade auch vor dem Hintergrund der jüngsten Ereignisse rund um das EU-Renaturierungsgesetz dürfte sich die Bereitschaft der ÖVP, noch einmal mit den Grünen zu koalieren, aber ohnehin in argen Grenzen halten.
Bleibt als letzte und nach derzeitigem Stand wahrscheinlichste Koalitionsoption noch die Dreierkoalition aus ÖVP, SPÖ und NEOS. Für diese Variante spricht im Sinne des geringsten Übels vor allem das, was gegen die anderen Varianten spricht. In den Bereichen Wirtschafts-, Europa- und Sicherheitspolitik sollten sich zudem einige Gemeinsamkeiten zwischen ÖVP und NEOS finden lassen. In der Gesellschaftspolitik gäbe es vermutlich einiges an Übereinstimmung zwischen SPÖ und NEOS. Förderlich dürfte auch der ausgeprägte Wille aller drei Parteien sein, weiter (ÖVP), wieder (SPÖ) oder zum ersten Mal überhaupt (NEOS) auf Bundesebene mitregieren zu können.
Problematischster Aspekt einer solchen Konstellation wäre allerdings, dass die FPÖ ihre populistische Rabiat-Opposition ungehindert fortsetzen und unter Umständen noch weiter an Zustimmung zulegen könnte. Das könnte Regierungsbildungen ohne oder gegen die FPÖ in Zukunft sogar noch schwieriger machen als jetzt schon. 2028 steht außerdem die nächste Bundespräsidentschaftswahl an, bei der ein FPÖ-Kandidat unter solchen Rahmenbedingungen vermutlich gute Chancen hätte, gewählt zu werden. Schon 2016 war Norbert Hofer von der FPÖ dem heutigen Bundespräsidenten Alexander Van der Bellen in der Stichwahl nur knapp unterlegen gewesen.
Schlussbemerkungen
Die Zeiten der vermeintlich unvermeidlichen, immerwährenden „großen” Koalition aus ÖVP und SPÖ sind auch in Österreich wohl endgültig vorbei. Ein sich immer weiter in immer mehr mittlere und kleine Parteien auffächerndes Parteiensystem stellt alle Beteiligten vor ganz neue Herausforderungen. Naheliegende oder gar Wunschkonstellationen gehören längst der Vergangenheit an und das Ausloten tragfähiger Koalitionen und das Bilden von stabilen Regierungen gleicht immer mehr der Suche nach dem geringsten Übel.
Trotzdem oder gerade deshalb ist es unerlässlich, dass sich die Parteien der Mitte den neuen Herausforderungen stellen. Gerade wenn Populisten von links und rechts vermeintlich einfache Lösungen propagieren, demokratische Prozesse und Institutionen untergraben und den politischen Gegner zum Feind erklären, kommt es darauf an, auch über Parteigrenzen hinweg Gemeinsamkeiten zu identifizieren, Gegensätze zu überbrücken und Kompromisse zu finden. Insofern kann schließlich auch die Suche nach dem geringsten Übel ein Dienst an der Demokratie sein.