Rücktritt eines erfolgreichen Krisenmanagers
Giorgi Gakharia war in der Zeit der ersten Corona-Welle ein überaus erfolgreicher Krisenmanager. Georgien hatte bis zum Spätsommer 2020 sehr erfolgreich Maßnahmen gegen die Pandemie ergriffen. Deren konsequente Umsetzung brachte dem Land vergleichsweise geringe Infektionszahlen. G. Gakharia konnte als Regierungschef sein angeschlagenes Image aus der Zeit als Innenminister mehr als nur kompensieren.
Im Kontext der Massendemonstrationen in Tiflis im Frühsommer 2019 wurde er für das teilweise extrem harte Vorgehen der Sicherheitskräfte verantwortlich gemacht. Damals gab es auch einen „Sturm auf das Parlamentsgebäude“. Der jetzige Oppositionsführer und Vorsitzende der UNM N. Melia soll damals eine Reihe von Demonstranten aktiv zu diesem „Sturm auf das Parlament“ aufgerufen und diesen dann auch angeführt haben. Gegen die Zahlung einer Kaution in Höhe von 40.000 Lari blieb damals N. Melia auf freiem Fuß. Darüber hinaus erhielt er die Auflage, bis zu einem umfassenden Prozess eine elektronische Fessel zu tragen. Diese legte er eigenmächtig ab. Weil er die Zahlung einer weiteren Kaution diesmal ablehnte, sollte die Justiz handeln und ihn verhaften. Vor diesem Hintergrund spielt sich die aktuelle Zuspitzung dieser innenpolitischen Krise ab.
Fragile Gewaltenteilung
Auch G. Gakharia hält prinzipiell eine Untersuchungshaft N. Melias für geboten. Aber in seinem heutigen Statement betonte er, dass er den jetzigen Zeitpunkt für eine Untersuchungshaft für zu risikovoll hält und begründet dies mit der allgemeinen Polarisierung der innenpolitischen Situation seit den Parlamentswahlen vom 31. Oktober 2020. Jedoch konnte er sich laut offiziellem Statement mit dieser Ansicht innerhalb seiner Partei bzw. dem „Regierungsteam“ nicht durchsetzen.
Die Opposition hatte ja bekanntlich das Wahlergebnis nicht anerkannt und weigert sich seither, die gewonnenen Mandate im nationalen Parlament wahrzunehmen. Die Opposition sieht weiterhin das Parlament nicht als adäquaten Platz für die politische Auseinandersetzung mit der Regierungspartei. Ein Zustand, der nun schon mehr als zwei Jahre andauert!
Botschafterrunden als politisches „Allheilmittel“
Regierungspartei und Opposition verhandeln seit Ende 2020 unter Vermittlung von europäischen und amerikanischen Diplomaten. Das ist eine Konstellation, die bereits Ende 2019 praktiziert wurde und zunächst im März 2020 zu einer Vereinbarung über die Wahlrechtsreform führte. Diese Wahlrechtsreform wurde allseits als Erfolg für die Opposition angesehen. Aber dieser „Erfolg“ ging mit einem Risiko einher. Diese „Botschafterrunde“ schien sich immer mehr zu institutionalisieren.
Den einen schien der Ruf nach internationaler Beratung vor Ort ein probates Mittel zur Beilegung innenpolitischer Angelegenheiten zu sein. Andere wiederum sorgten sich um Georgiens Souveränität ob derart starker Einflussnahme von außerhalb. Aber die georgische Gesellschaft schien sich immer mehr an den Zustand zu gewöhnen, heikle und sensible politische Fragen vorzugsweise durch ausländische Diplomaten lösen zu lassen.
Erneut fordert die Opposition Neuwahlen
In Reaktion auf den Rücktritt des Premierministers forderte die Opposition unter Führung von N. Melias UNM Neuwahlen. Dabei ist die permanente Forderung nach Neuwahlen nichts Neues bei der Opposition und wurde bereits unmittelbar nach Abschluss der letzten Parlamentswahlen mit Vehemenz erhoben und seitens der Regierungspartei mit ebensolcher Vehemenz abgelehnt.
Könnte die Opposition diesmal mit dieser Forderung mehr Erfolg haben? Handelt es sich beim heutigen Rücktritt des Premierministers um einen bloßen „Rücktritt“? Oder ist es ein Zeichen für das Scheitern der Regierung? Bereits seit einiger Zeit wurde in manchen Medien über eine Ablösung des Premierministers spekuliert. In einigen Kreisen der Regierungspartei „Georgian Dream“ (im Folgenden: GD) sei demnach schon länger über eine Alternative zum Premierminister nachgedacht worden. Manchen Vertretern von GD schien das Agieren des Premierministers gegenüber der Opposition zu wenig konfrontativ zu sein.
So gesehen ließe der heutige Rücktritt G. Gakharias nichts Gutes für die dringend benötigte Stabilisierung der innenpolitischen Verhältnisse Georgiens erahnen. Wie schon erwähnt: die Begründung für den Rücktritt des Premierministers zielt auf einen Streit innerhalb des „Regierungsteams“ über das Agieren der Justizbehörden.
Ist es Aufgabe der Exekutive, über Strafverfolgung zu entscheiden?
G. Gakharia agierte bisher umsichtig und pragmatisch. Und es mag für den Pragmatismus des bisherigen Premierministers sprechen, die Verhaftung des Oppositionsführers zum jetzigen Zeitpunkt abzulehnen. Dennoch werfen die heutigen Ereignisse wieder einmal ganz grundsätzliche Fragen nach der innenpolitischen Verfasstheit Georgiens auf. Wie steht es mit der Unabhängigkeit der Justiz?
Natürlich steht außer Frage, dass auch ein bekannter Oppositionspolitiker nicht über dem Gesetz steht. Aber darüber hat eine unabhängige Justiz zu entscheiden! Diese Unabhängigkeit der Justiz bleibt ein strukturelles Problem bei der Entwicklung der georgischen Demokratie. Dies kann nicht ohne Auswirkungen auf Georgiens Ambitionen bleiben, im Jahr 2024 die EU-Mitgliedschaft offiziell zu beantragen, wie neulich bekanntgemacht wurde.
Innenpolitische Polarisierung als Hemmnis für die EU-Ambitionen
In ihrem jüngsten Bericht über die Umsetzung des Assoziierungsabkommens ging es der Europäischen Union genau um das Problem der Unabhängigkeit der Justiz. Darüber hinaus wurde auch die exzessive parteipolitische Polarisierung thematisiert. Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen parteipolitischen Konstellationen einerseits und innerhalb der wichtigen Parteien andererseits stellt sich immer mehr die Frage, wie es um die EU-Agenda der georgischen Politik generell bestellt ist. Es fällt auf, dass diese Frage in der öffentlichen Diskussion kaum noch eine Rolle spielt. Das wäre aber umso wichtiger, weil gerade die junge Generation des Landes in einem Kontext und öffentlichen Diskurs aufgewachsen ist, an dessen Ende sich Georgien als vollwertiges Mitglied der Europäischen Union sieht.
Opposition zwischen APO und Auflösung
Derzeit scheint nicht nur die Opposition in einer veritablen Krise zu stecken. Man denke beispielsweise daran, dass die Vorsitzenden der wichtigsten oppositionellen Parteien UNM und „European Georgia“ (im Folgenden: EG), Grigol Vashadze und Davit Bagradze, nicht nur von ihren Posten zurückgetreten sind, sondern ihre Parteien verlassen haben. Die jeweiligen Statements zu den Rück- bzw. Austritten lassen nicht vermuten, dass sich die Situation in absehbarer Zeit stabilisieren wird. Die Partei EG, die gemessen an der vorherigen Rolle innerhalb des Parlaments der größte Verlierer der Parlamentswahlen ist und deren Mandate durch die Wahlergebnisse von 21 auf 4 zusammenschmolz, scheint kurz vor der Auflösung zu stehen.
Die UNM ist immer noch die stabilste parteipolitische Kraft innerhalb der Opposition. Gleichwohl ist weiterhin die Frage offen, welche Rolle der vormalige Präsident Georgiens, Mikheil Saakashvili, weiterhin spielt. Fest steht, dass er mindestens eine Art „Graue Eminenz“ im Hintergrund der Partei ist. Klar ist aber auch, dass es innerparteilich heftige Kämpfe gibt, die sich genau um die Frage drehen, welchen Part der ehemals populäre Präsident in den gegenwärtigen Auseinandersetzungen spielen soll. Dessen regelmäßige Statements erwecken den Eindruck, dass „seine“ UNM nur noch mit den Mitteln außerparlamentarischer Opposition kämpfen solle. Derzeit wird trefflich darüber spekuliert, wie sich der neue Vorsitzende der Partei, N. Melia, diesbezüglich positionieren kann.
Insofern kommt der Entwicklung der nächsten Tage, insbesondere im Hinblick auf das Agieren der Justiz im Falle N. Melias eine außerordentliche Rolle zu.
Covid-19 als Katalysator der innenpolitischen Krise
Dabei bräuchte Georgien gerade jetzt Stabilität und politische Konstruktivität, um durch die Pandemie zu kommen und die Wirtschaft nicht komplett abstürzen zu lassen. Man mag sich nicht vorstellen, was es für die georgische Tourismusbranche bedeuten würde, eine zweite Saison im Prinzip abschreiben zu müssen. Dazu ist die ökonomische Situation allgemein viel zu fragil. Nach wie vor sind fehlende ausländische Investitionen eine Achillesferse der georgischen Wirtschaft. Aber wer investiert in ein politisch unstabiles Land? Selbst für viele Georgier stellt sich diese Frage immer mehr.
So kann folgender Vorgang nicht verwundern. Kürzlich öffnete in Georgien eine Agentur zur Anwerbung von Arbeitskräften als Erntehelfer in Deutschland. Innerhalb von 24 Stunden bewarben sich 35 000 Georgier (!) auf eine entsprechende Arbeitserlaubnis in Deutschland.
Bitte melden Sie sich an, um kommentieren zu können.