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Länderberichte

Konflikte über Konflikte: Wie kann Deutschland mit der Türkei noch umgehen?

von Walter Glos, Friedrich Püttmann
Es ist die Saison der Botschafterwechsel in Ankara: Martin Erdmann verlässt die deutsche Botschaft, Dr. Christian Berger die Delegation der Europäischen Union. Derweil stauen sich die Konflikte der EU und ihrer Mitgliedsstaaten mit der Türkei zunehmend an und werden gefühlt täglich mehr. Zeit für eine Zwischenbetrachtung der europäisch-türkisch Beziehungen und die Frage, wie Deutschland und die EU mit der Türkei umgehen sollten. Taugt die Türkei noch als Partner der EU und Mitglied der NATO? Klar ist, die EU und die Türkei brauchen einander. Viele hoffen nun, dass gerade Deutschland während seiner aktuellen EU-Ratspräsidentschaft das Verhältnis repariert. Wie könnte das gehen?

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Zwischen zwei diplomatischen Strategien

Dies ist die Geschichte von François und Dorothea. Es ist eine Geschichte über die Schnittstelle von Psychologie und Politik, und darüber, was zwischenstaatliche mit zwischenmenschlichen Beziehungen gemeinsam haben.

„François und Dorothea“ gibt es nicht. Und doch dreht sich derzeit in den europäisch-türkischen Beziehungen im Grunde alles um sie. Denn sie repräsentieren zwei verschiedene strategische Ansätze im Umgang mit den Spannungen zwischen der Türkei und der Europäischen Union, zwischen der Türkei und der NATO, und zwischen der Türkei und seinen griechischsprachigen Nachbarn.

Das Prinzip „François“ beruht dabei auf dem Grundsatz, dass Spannungen geglättet werden, indem man klare Ansagen macht: nur wenn der andere genau weiß, was ich wirklich von ihm halte und was ich wirklich von ihm will, können wir auch zueinander finden. François ist der Auffassung, dass man Augenhöhe im Dialog nur dann erreicht, wenn man sich im verbalen Kräftemessen nicht unterkriegen lässt und jegliche Fouls entschieden zurechtweist. François meint: „Nicht die Butter vom Brot nehmen lassen und zeigen, wo der Hammer hängt.“

Anders die Methode „Dorothea“: ihr oberster Grundsatz ist es, dass eine Annäherung nur dann erfolgen kann, wenn ich dem anderen gegenüber auch Verständnis zum Ausdruck bringe und jenseits konkreter Streitpunkte eine insgesamt produktive Beziehung zueinander aufbaue. Dorothea ist überzeugt, dass nicht jeder Schienbeintritt zum Spielabbruch führen muss, wenn dies den übergeordneten Zielen schaden würde. Sie meint: „Ruhe bewahren und aufeinander zugehen.“

So albern diese Vermenschlichung internationaler Politik klingen mag, so sehr spiegelt sie doch, was dieser Tage in Brüssel, Ankara und quer durch Europa im Bezug auf die Türkei zu einer lebhaften Auseinandersetzung zwischen Ansatz „F“ und Ansatz „D“ geworden ist. Wie also sollte die EU mit der Türkei am besten umgehen?

Eine Bestandsaufnahme

„Verstörend“ und „befremdlich“, so nannte der ehemalige deutsche Botschafter in Ankara, Martin Erdmann, nach dem Ende seiner fünfjährigen Amtszeit kürzlich in einem Interview mit dem Deutschlandfunk die Entwicklungen der letzten Jahre in der Türkei.[i] Erdmann, welcher so oft in das Außenministerium seines Gastlandes zitiert wurde wie kaum ein anderer deutscher Diplomat, bezog sich dabei in erster Linie auf die demokratische „Verfasstheit der Türkei“: Menschenrechte, Pressefreiheit, Justizwesen und die Lage der Zivilgesellschaft. Im April erregte derweil eine neue Langzeitstudie der Bertelsmann-Stiftung zur Demokratie weltweit mit noch härteren Worten zur Türkei breite Aufmerksamkeit.[ii] Dass Deutschland und die Türkei in diesem Punkt regelmäßig zu Meinungs-verschiedenheiten neigen, ist altbekannt. Eine neuere Erscheinung ist hingegen die von Erdmann so gennannte „aggressive Rhetorik im Bereich der Außenpolitik.“

Sei es der bis heute nicht geschlichtete Streit der Türkei mit der NATO und insbesondere den USA über Ankaras Kauf des russischen Raketenabwehrsystems S-400 und das generelle Liebäugeln Ankaras mit Moskau zur Zeit, seien es die militärischen Interventionen der Türkei in Nordsyrien und jetzt auch in Libyen, oder sei es die zunehmende Anspannung zwischen der Türkei, Griechenland und Zypern angesichts der umstrittenen und zugleich militärisch bewachten türkischen Gasbohrungen vor Zypern oder die wiederholten Flüge türkischer Kampfjets über griechischem Territorium, die Liste aktueller Konfliktpunkte zwischen der Türkei und ihren NATO-Partnern ist allein, was die Außenpolitik betrifft, von beträchtlicher Länge und sorgt für reichlich diplomatischen Sprengstoff.

Hinzu kommen das Dauerthema Migration mit der Beherbergung Millionen syrischer Geflüchteter in der Türkei und den gewaltvollen Auseinandersetzungen an der türkisch-griechischen Grenze im vergangenen Winter, nachdem die Türkei entschied, diese für Flüchtlinge zu öffnen und Griechenland sich dem massiv zur Wehr setzte, sowie jüngst die Umwandlung des UNESCO-Weltkulturerbes Hagia Sophia zurück in eine Moschee und die Überlegung der türkischen Regierung, womöglich aus der Istanbul-Konvention auszutreten, welche Frauen vor Gewalt schützen soll. „Verstörend“? „Befremdlich“? „Aggressiv“?

Gleichzeitig hat die Türkei außenpolitisch in den letzten Monaten versucht ihr diplomatisches Renommee wieder zu verbessern, indem sie weltweit Corona-Hilfsgüter wie Masken und Schutzanzüge verschiffte, inklusive nach Israel, in viele Teile der USA und nach Deutschland. Ein Gerücht, laut dem sich nach Großbritannien gebrachte türkische Schutzausrüstung als untauglich herausgestellt haben soll, beruhte in Wahrheit auf einer Bestellung der Briten bei einem privaten Unternehmen in der Türkei und nicht auf der von Ankara gespendeten Ware.[iii] Auch wenn dies eine „offensive PR-Kampagne“ gewesen sein mag, wie deutsche Medien die neue Corona-Diplomatie der Türkei beschrieben, Ankara ist sichtlich bemüht, neben seinen zahlreichen Provokationen auf internationalem Parkett auch die Hand auszustrecken.

Für alles andere weiß die Türkei sich mit schlagfertigen Gegenargumenten zu helfen: der Einmarsch in Syrien sei nötig gewesen, um die Flucht einer weiteren Million Bürgerkriegsflüchtlinge vor dem syrischen Regime zu verhindern; die wahren Kriegstreiber in Libyen seien General Haftar und seine Partner, welche trotz des Berliner Abkommens weiterhin über den Landweg Waffen nach Libyen schmuggeln würden; die Bohrung nach Energievorkommen im östlichen Mittelmeer vor Zypern stünde der türkischen Minderheit im Norden der Insel vollkommen legitim zu; im Süden Spaniens gebe es viele einstige Moscheen, die heute noch als Kirchen genutzt würden, während die Hagia Sophia ja weder umgestaltet, noch für Touristen geschlossen werde; und die Last der Versorgung der nahezu vier Millionen syrischen Geflüchteten – der meisten weltweit – könne nicht alleinige und vor allem nicht die dauerhafte Aufgabe der Türkei sein. Die Konflikte zwischen der Türkei und ihren westlichen Partnern sind damit nicht nur zahlreich, sie sind verworren.

Was geht hier vor?

Natürlich wäre es vermessen, in ein paar wenigen Zeilen alle Konflikte auf einmal zu entschlüsseln. Ein Vorteil der „neuen Normalität“ in Corona-Zeiten ist jedoch die große Zunahme an Online-Diskussionen mit Experten und Expertinnen aus aller Welt, wie auch das KAS-Büro Türkei sie bereits mehrfach organisiert hat. Von SWP und GMF bis zu Carnegie und Clingendael lassen sich so die Perspektiven vieler internationaler Denkfabriken, Wissenschaftler und politischer Vertreter einfangen. Resümierend kann man dabei folgendes festhalten:

  • Das Verhältnis der Türkei zu Russland ist nicht so eng, wie es scheint. Nicht nur geraten die beiden Parteien in Syrien und Libyen teils sogar kriegerisch aneinander, sondern es ist davon auszugehen, dass die Türkei die Nähe zu Moskau in erster Linie sucht, um ein Druckmittel gegenüber ihren westlichen Partnern zu haben oder diese gezielt zu provozieren. Die Türkei sucht außenpolitisch nach Eigenständigkeit, von einer neuen türkisch-russischen Allianz kann dabei aber nicht gesprochen werden. Denn dafür ist auch Russlands Bindung an die Türkei deutlich zu volatil. Die türkisch-russische Kooperation ist somit reiner Pragmatismus unter Gleichgesinnten.

 

  • Bei allen außenpolitischen Handlungen der Türkei müssen die innenpolitischen Motive mit einbezogen werden. An erster Stelle steht hier neben dem Machterhalt vor allem die desolate Wirtschaft. Die Allianz mit der international anerkannten Regierung in Tripolis ist ein strategischer Schachzug, um die Aufteilung des östlichen Mittelmeers und seiner Bodenschätze neu zu verhandeln. Denn von diesen sieht sich die Türkei ausgeschlossen. Die türkische Wirtschaft hat zuletzt enorm gelitten – nicht nur unter Corona, sondern auch die Aufnahme der Flüchtlinge und die indirekten Streitigkeiten mit ausländischen Investoren wie VW machen ihr zu schaffen. Außenpolitische Aggressionen lassen sich so häufig auf einen „leeren Magen“ zurückführen.

    Hinzu kommt, dass die Armee eine hohe Stellung in der türkischen Gesellschaft genießt, beziehungsweise viele Türken sich aufgrund der staatlichen Erziehung als „Soldatenvolk“ verstehen,[iv] was dazu führt, dass militärische Einsätze auch die Bürger einen sollen. Im Falle Nordsyriens trifft dies besonders zu, haben doch viele Türkinnen und Türken Angst, eine weitere Million Flüchtlinge vor Assad schützend aufnehmen zu müssen und damit auch islamistische Krieger ins Land zu holen. Die Etablierung einer Sicherheitszone – und sei es zusammen mit Russland – wird daher vom Großteil der türkischen Bevölkerung unterstützt, gleichwohl die Mehrheit Russland weniger als einen Partner sieht als die NATO, wie es Umfragen zeigen.[v]

     
  • Die Türkei möchte außenpolitisch ernst genommen werden. Im Gegensatz zur obigen Analyse heißt es in US-diplomatischen Kreisen, der Türkei gehe es angesichts der aktuell niedrigen Ölpreise gar nicht um die Energieressourcen vor Zypern. Tatsächlich seien diese Manöver viel mehr Kraftakte, um die militärische Potenz Ankaras zu demonstrieren und sich als Regionalmacht zu etablieren. Zu diesem Erklärungsschema gehört denn auch der vielerorts gerne verwendete Begriff des „Neo-Osmanismus“. Nach dieser Theorie ist die Türkei ideologisch getrieben, ihren außenpolitischen Einflussbereich entlang des einstigen Territoriums des Osmanischen Reiches aufzubauen – vom Balkan bis nach Libyen. Ob dem so ist, bleibt eine Frage der Interpretation. Faktisch lässt sich aber sagen, dass die Türkei im internationalen Gefüge (wieder) eine wichtigere Position einnehmen möchte und nach Augenhöhe sucht. Das zeigen auch die wiederholten Anspielungen führender Regierungsvertreter, die Weltordnung nach Corona werde eine andere sein und die Türkei sei jederzeit bereit, anderen zu helfen.

Wie geht es weiter?

Kommen wir zurück zu François und Dorothea. Unter den diplomatischen Strategen innerhalb der EU gibt es derzeit sehr verschiedene Meinungen, wie man mit dieser türkischen Gemengelage umgehen soll. In Paris dominiert vor allem das Modell „François“. Wie Martin Erdmann erinnerte, sagte Präsident Emmanuel Macron bereits vor zwei Jahren, die EU müsse die „Hypokrisie, die Scheinheiligkeit“ der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei angesichts des Zustands ihrer Demokratie und einer Außenpolitik, die nicht zur EU passe, beenden und „zur Kenntnis nehmen, was Fakt ist.“1

Viele im Europäischen Parlament und in der Europäischen Kommission spricht diese Haltung an. Das Argument, man verlöre so die Möglichkeit jeglichen Einflusses auf die politische Entwicklung der Türkei, belächeln diese. Denn eine weitverbreitete Anekdote auf der Brüsseler Rue de la Loi ist die vermeintliche Machtlosigkeit des Fortschrittsberichts, welchen das General-Direktorat für Nachbarschaft und Beitrittsverhandlungen der Europäischen Kommission jedes Jahr über den Beitrittskandidaten Türkei verfasst: diesen soll die Türkei nämlich einmal prompt einfach zurückgeschickt haben. Ein klarer Schlag ins Gesicht und ein grundlegendes Zeichen, dass die Türkei überhaupt kein Interesse mehr habe an einem Beitritt, findet die Fraktion „François“. Man nehme nur den Umgang des türkischen Außenministers, Mevlüt Çavuşoğlu, mit dem Hohen Vertreter der EU, Josep Borrell, bei dessen Besuch in Ankara vor Kurzem, das sage doch alles. Auch viele Parlamentarier könnten rein gar nichts Positives mehr mit der Türkei assoziieren, sie warteten ja bereits auf auch einmal gute Nachrichten aus Ankara, aber genug sei genug. Man könne einfach nicht weiter um Harmonie buhlen, denn die türkische Regierung sähe ein Entgegenkommen nur als Schwäche. Es sei an der Zeit, ihre Sprache zu sprechen.

Nun muss man wissen, dass der französische Präsident Emmanuel Macron auch zu der Sorte Menschen gehört, welche Jugendlichen eine Standpauke halten, wenn diese ihn bei öffentlichen Veranstaltungen mit dem Spitznamen „Manu“ feiern. Wer aus einem Land kommt, in dem die Bundeskanzlerin problemlos auch mal als „Angie“ bejubelt wird, kann Schwierigkeiten haben dies nachvollziehen. So überrascht es denn vielleicht auch weniger, dass Botschafter a.D. Erdmann selbst eher auf die „Dorothea“-Methode schwört: „Wir müssen auch unser eigenes europäisches und deutsches Interesse im Blick behalten. Und dieses Interesse lautet, eine Türkei zu sehen, die stabil ist und einen Stabilitätsfaktor darstellt in einer extrem volatilen Region.“1

Wer nun darin liest, der erfahrene Diplomat plädiere dafür, Deutschland solle seine Werte nicht so hoch hängen und zur Not wider sein Gewissen handeln, indem es eine Politik mitfinanziere, die gegen unsere Prinzipien geht, der irrt. Tatsächlich stellt Erdmann im Interview nämlich richtig, was auch Brüsseler Beamte vor dem Europaparlament immer wieder betonen: die EU stellt dem türkischen Staat keinen Blankoscheck aus, sondern fördert ausschließlich und gezielt jene Projekte, welche die Interessen und Werte der Europäischen Union eindeutig widerspiegeln. Die da wären: die Stärkung der türkischen Zivilgesellschaft, das Austauschprogramm für Studierende Erasmus, Ressourcen und Trainings für türkische Grenzschützer sowie vor allem die Beherbergung der unzähligen syrischen Geflüchteten.

Dass Frankreich und die Türkei sich aktuell besonders schlecht verstehen, hat derweil spezifische Gründe. Der Élysée sieht Präsident Erdoğan auf Muslimbruderkurs mit dem islamistischen Premierminister Libyens Fayez al-Sarraj und fürchtet ein Aufkeimen islamistischen Terrors, sollte der libysche Staat nicht ausreichend dagegen vorgehen. Außerdem vermuten externe Analysten, dass Frankreich auch wirtschaftliche Interessen in Libyen verfolge. Der laizistische General Haftar ist daher deutlich mehr nach dem Geschmack Paris, was dazu führt, dass Frankreich und die Türkei südlich des Mittelmeers oppositionelle Kriegsparteien unterstützen.

Dazu kommt ein Vorfall Ende Juni, bei welchem Paris Ankara vorwarf, im Rahmen der gemeinsamen NATO-Mission Sea Guardian zur Prävention von Waffenlieferungen nach Libyen auf dem Seeweg seine Fregatte Courbet bedroht zu haben. Präsident Macron beendete daraufhin seine Teilnahme an der Operation und berief eine Untersuchungskommission der NATO ein, um den Vorfall zu untersuchen. Die Ergebnisse wurden bis heute nicht bekannt gegeben. Die Türkei im Gegenzug beschuldigt Frankreich, für die Untersuchung notwendige technische Daten nicht der NATO zu übermitteln und verlangt eine Entschuldigung. Nicht nur habe es anfänglich keine Aggression seitens der türkischen Marine gegeben, sondern der Vorfall habe sich an daran entzweit, dass es die französische Marine gewesen sei, die ein türkisches Frachtschiff mit Hilfsgütern für Libyen verdächtigt habe, Waffen zu schmuggeln und daraufhin bedroht habe. Ein Missverständnis? Oder doch „der letzte Tropfen“?

„Strategische Geduld“ versus scheiterndes „Appeasement“

Ein weiteres beliebtes Thema in den aktuellen Expertengesprächen zur Türkei ist der Begriff transactionalism. Dieser beschreibt das Verhältnis zwischen der EU und der Türkei als einen rein interessengesteuerten und auf kurzfristige Vorteile ausgerichteten „Handel“ ohne eine tiefere Bindung aneinander, wie sie unter Bündnispartnern zu wünschen wäre. Viele sehen den Ursprung der Konflikte in dieser ungesunden Grundlage. Denn eine besondere Krux in den europäisch-türkischen Beziehungen heute ist der Respekt. Frankreich, Griechenland und die Türkei, sie alle fordern es vom anderen ein und kritisieren, es nicht genügend zu bekommen. Seit ihrer Gründung strebt die türkische Republik nach Gleichwertigkeit mit den europäischen Nationalstaaten. Und auch Corona werde die Türkei nicht wieder zum „kranken Mann am Bosporus“ machen, wie es noch im 19. Jahrhundert der spöttische Titel des Osmanischen Reiches war – im Gegenteil. Die Türkei sei so stark wie eh und je, habe viele außenpolitische Optionen und verlange, dass sich ihre Partner ernsthaft für ihre Nöte interessierten. Ansonsten werde sie ihre Autonomie schon unter Beweis stellen. Das hat sie zuletzt immer wieder getan.

Es ist genau an dieser Stelle, dass das Gemüt eines Staates dem Gemüt eines Menschen ähnelt. Auch in der Diplomatie geht es um Emotionen und Anerkennung. Die Methode „Dorothea“ firmiert daher im Brüsseler Politbetrieb unter dem Namen strategic patience und einer ihrer Anhänger ist der Hohe Vertreter Josep Borrell selbst. Dieser wirbt dafür, dass man die Beziehungen von Grund auf erneuern und zunächst wieder Vertrauen aufbauen müsse. Die Anhänger der Methode „François“ warnen jedoch: zu oft sei in der Geschichte schon auf gutgemeintes appeasement fürchterliche Aggression gefolgt. Wer Schwäche zeige, der werde ausgenutzt. Gibt es einen Mittelweg? 

Tatsächlich ist es Deutschland, in welches viele in Brüssel nun ihre Hoffnungen setzen, das Verhältnis zur Türkei zu reparieren. Seit Juli dieses Jahres hat Berlin den EU-Ratsvorsitz inne und somit eine große Gelegenheit. Zudem schätzen viele Diplomaten die „deutsche Mischung“ aus Pragmatismus und Prinzipientreue. Ein Großteil von ihnen sähe daher eine Reform der Zollunion mit der Türkei als einen ersten Schritt vorwärts. Das gäbe der EU auch neue Einflussmöglichkeiten. Fakt ist, dass die Diskussion darüber, ob die Türkei überhaupt ein Partner des Westens sein sollte, obsolet ist. Denn es einen uns zu viele Interessen und zwischenmenschliche Bindungen, als dass man sich vollkommen voneinander verabschieden könnte. Doch die EU sollte sich auch nicht vom Streit mit der Türkei spalten lassen. Da passt es gut, dass der neue EU-Botschafter in Ankara, Dr. Nikolaus Meyer-Landruth, der ehemalige deutsche Botschafter in Paris ist. Vielleicht kann er ja die Methoden „F“ und „D“ zu einer Methode „EU“ vereinen. Sein Vorgänger, Dr. Christian Berger, jedenfalls rät ihm insbesondere zu einem: Dialog. Denn daran mangele es.

 

[i] Deutschlandfunk, 2. August 2020. Ex-Botschafter Erdmann zur Türkei: „Die demokratischen Reflexe funktionieren“. Online verfügbar unter: https://www.deutschlandfunk.de/ex-botschafter-erdmann-zur-tuerkei-die-demokratischen.868.de.html?dram%3Aarticle_id=481617&fbclid= IwAR0EYmOmZy_WrnOen1ANp2NVPGU0NzFRUS3n4blPcBBEfFrRRb2TDO04nqQ

[ii] Bertelsmann Stiftung, 2020. Bertelsmann Transformation Index – Turkey. Online verfügbar unter: https://www.bti-project.org/en/reports/country-dashboard-TUR.html

[iii] TRT World, 7. Mai 2020. UK confirms all PPE sent by Turkish officials meets standards. Online verfügbar unter: https://www.trtworld.com/turkey/uk-confirms-all-ppe-sent-by-turkish-officials-meets-standards-36111

[iv] Ayşe Gül Altınay, 2004. The Myth of the Military-Nation. New York: Palgrave Macmillan.

[v] Kadir Has University, 2019. Public Perceptions of Turkish Foreign Policy. Online verfügbar unter: https://www.khas.edu.tr/sites/khas.edu.tr/files/inline-files/TDP-2019_BASINENG_FINAL.PDF

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