Länderberichte
Die bisher regierenden Sozialisten errangen ihr bisher schlechtestes Ergebnis seit Bestehen und werden künftig 44 Abgeordnete stellen (bislang 280). Erstmals kann die Bewegung des Linksradikalen Jean-Luc Mélenchon, „La France Insoumise“ (FI), mit 17 Abgeordneten eine eigene Fraktion bilden. Gemeinsam mit den 11 Abgeordneten der Kommunisten werden die Linken künftig eine vernehmbare Kraft im Parlament sein. Der rechtspopulistische Front National zieht mit 8 Abgeordneten, darunter auch Marine Le Pen, in die Assemblée ein.
Die Wahlbeteiligung war mit 43,4 Prozent historisch niedrig. Das schöne Wetter, der vierte Wahlgang innerhalb von acht Wochen, und die Tatsache, dass die Mehrheitsverhältnisse vielerorts keine wirkliche Entscheidung ermöglichten, führte offenbar dazu, dass sich über die Hälfte der Franzosen nicht zu den Wahlurnen begab.
Der „Marche!-all“-Plan
Mit dem großen Zuspruch für LREM! signalisieren die französischen Wähler, dass sie hinter dem Reformkurs des französischen Präsidenten stehen und die etablierten Parteien mehrheitlich ablehnen. Staatspräsident Macron hat nun die Möglichkeit, das Reformprogramm genauso umzusetzen, wie er es im Wahlkampf angekündigt hatte. Dabei konzentriert sich seine Regierung zunächst auf drei zentrale Bereiche: Die Arbeitsrechtsreform, das Gesetz zur „Moralisierung des öffentlichen Lebens“ sowie ein neues Gesetz im Kampf gegen den Terrorismus.
Feuertaufe Arbeitsgesetz
Die erste Baustelle seiner Modernisierungsvorhaben wird zugleich Macrons Feuertaufe sein: Die Revision des geltenden Arbeitsrechts. Schon dessen Vorgänger François Hollande hatte versucht, die lahmende französische Wirtschaft mit einer Reform der Sozialgesetze aus der Krise zu holen. Als er vor genau einem Jahr einige Vorhaben mit dem Notstandsparagraphen am Parlament vorbei durchbringen wollte, waren die politischen Folgen verheerend: zu zehntausenden gingen die Franzosen auf die Straße. Hollande ging so geschwächt aus diesem Konflikt hervor, dass er sich schließlich nicht zur Wiederwahl aufstellen ließ.
Im Unterschied zu Macron hatte Hollande seine Reformen vor seiner Wahl 2012 nicht angekündigt. Der neue Präsident hingegen hat schon im Wahlkampf klar gemacht, dass man sich von der leichten konjunkturellen Aufhellung im Land nicht täuschen lassen sollte. Ohne Strukturreformen würde Frankreich mittelfristig tiefer in die Krise rutschen. Schuld daran habe allem voran das restriktive und für die hohe Arbeitslosigkeit mitverantwortliche „Code du travail“, das französische Arbeitsrecht.
Dabei setzt Macron auf Transparenz. Das politische Debakel und der Aufstand durch die Gewerkschaften soll sich auf keinen Fall wiederholen. Gemeinsam mit Arbeitsministerin Muriel Pénicaud unterbreitete Premierminister Edouard Philippe daher den Gewerkschaften nur drei Wochen nach der Kabinettbildung ein Rahmenpapier der Arbeitsrechtsreform.
Die Grundidee bestehe darin, das Arbeitsrecht insgesamt liberaler zu gestalten. So sollen nach dem neuen Entwurf Unternehmen in wichtigen arbeitsrechtlichen Fragen eine größere Autonomie eingeräumt werden. Bei den Löhnen, Überstunden, der Arbeitszeit, Sicherheit und Gesundheit sollen die Sozialpartner Betriebsabkommen schließen dürfen. Auch auf betriebsinterne Abstimmungen solle man dabei zurückgreifen können. Diese Vereinbarungen sollen in wichtigen Bereichen anstelle des Arbeitsgesetzes treten können, sofern sie damit vereinbar sind.
Ein weiteres zentrales Element ist die Deckelung der Entschädigung bei betriebsbedingten Entlassungen sowie der Abfindungen bei betriebsbedingten Kündigungen. Dabei betonten Philippe und Pénicaud die Absicht, die sozialpartnerschaftlichen Regelungen auf Branchenebene möglichst zu respektieren. In den kommenden Wochen will die Regierung mit den Gewerkschaften verhandeln. Die Reform soll dann durch Verordnungen in Kraft gesetzt werden, wozu die Regierung bereits am 28. Juni einen Entwurf für ein Rahmengesetz (loi d’habilitation) vorlegen will. Im Juli soll dieses vom Parlament verabschiedet werden. Die Verfassung erlaubt diese Art von Gesetzgebungsverfahren, mit dem die Exekutive nicht an ein langwieriges Gesetzesverfahren gebunden wäre, sondern die Arbeitsrechtsreform mit sogenannten „Ordonnanzen“ in Kraft setzen würde.
Nach der Modifikation des Arbeitsrechts will die Regierung im September die Arbeitslosenversicherung sowie das System der Berufsausbildung reformieren. Schließlich soll Anfang 2018 auch eine Reform des Rentensystems in die Wege geleitet werden, mit dem Ziel, dieses „transparenter und gerechter“ zu gestalten.
Moral in der Politik
Zumindest bei den Bürgern wird Macron bei seinem zweiten großen Vorhaben keine große Überzeugungsarbeit leisten müssen: Er will die Moral in der Politik stärken. Das sogenannte „Loi de moralisation de la vie publique“ („Gesetz zur Moralisierung des öffentlichen Lebens") ist ein Gesetz gegen Interessenkonflikte, das zunächst einen deutlichen Symbolwert hat: es soll den Bürgern das Vertrauen in die Demokratie zurückgeben. Nachdem gegen seinen Konkurrenten um das Präsidentschaftsamt François Fillon im März ein Ermittlungsverfahren wegen mutmaßlichen Scheinbeschäftigung seiner Ehefrau eingeleitet worden ist, wurde das Verbot für Abgeordnete, Verwandte ersten Grades zu beschäftigen, zum zentralen Wahlversprechen Macrons. Außerdem sieht der Vorschlag, der bereits in der Ministerkonferenz vorgestellt worden ist, strengere Regeln zu Beratertätigkeiten von Abgeordneten vor, ebenso wie zu Doppelmandaten von Parlamentariern, beispielsweise als Bürgermeister. Auch die Finanzierung von politischen Parteien soll strenger überwacht werden.
Etwa 100 der 577 Abgeordneten in der französischen Nationalversammlung haben in der vergangenen Legislaturperiode mindestens ein Familienmitglied beschäftigt. Eine Großzahl von Abgeordneten hatte noch andere Mandate, etwa als Bürgermeister, Regionalrat oder Kommunalrat. Macron will den bisherigen und künftigen Abgeordneten, von denen viele zum ersten Mal ein politisches Amt innehaben, deutliche Grenzen setzen und präsentiert sich als Anstandsschaffender in der Politik. Gleichzeitig kann mindestens einer aus seinen eigenen Reihen nicht als moralisches Vorbild dienen: der Minister für Wohnungsbau, Richard Ferrand, wird beschuldigt, seiner Lebensgefährtin in einem Immobiliengeschäft Vorteile verschaffen zu haben. In Erklärungsnot ist auch der Justizminister und Präsident des liberalen Mouvement démocrate (MoDem), François Bayrou. Die Staatsanwaltschaft hat Vorermittlungen gegen die Partei eingeleitet, nachdem bekannt wurde, dass auch ihre Abgeordnete Parteimitarbeiter aus Geldern des Europäischen Parlaments bezahlt haben.
Kampf gegen Terrorismus
Die dritte Gesetzesreform Macron dient dem Kampf gegen den Terrorismus. Was durch alle französischen Gesellschaftsschichten hinweg grundsätzlich kein strittiges Thema ist, könnte im Falle der bekannt gewordenen Gesetzesvorlage starken Gegenwind erfahren. Die strikteren Regelungen sollen den Behörden nämlich Maßnahmen erlauben, die sonst nur im Ausnahmezustand möglich sind. Demnach dürfen Sicherheitsbehörden auch in Normalzeiten, also außerhalb des Ausnahmezustands, Verdächtige unter Hausarrest stellen, Versammlungen verbieten, Wohnungen durchsuchen oder Telefone abhören, ohne dazu vorher einen richterlichen Beschluss eingeholt zu haben. Außerdem ist der Aufbau eines “Nationales Zentrums zur Terrorabwehr” im Élyséepalast geplant. Dieses soll die Arbeit der verschiedenen Geheimdienste abstimmen. Der Gesetzentwurf sieht außerdem die Implementierung der französischen Gesetzgebung zum „Passenger Name Record“ (PNR) - zu Deutsch „Flugdatensatz“- vor, wonach alle Daten und Vorgänge rund um eine Flugbuchung elektronisch aufgezeichnet und über einen gewissen Zeitraum für die Nutzung durch Nachrichten- und Informationsdienste gespeichert werden dürfen.
Mit der geplanten „Normalisierung“ des Ausnahmezustands brachte Macron gleich mehrere Menschenrechtsorganisationen, unter anderem die Ligue des droits de l’homme, Amnesty International und Human Rights Watch gegen sich auf. Seit längerer Zeit schon wird die inzwischen zum fünften Mal seit der Terroranschläge am 13. November 2015 verlängerte Ausnahmeregelung als grober Verstoß gegen die Menschenrechte kritisiert. Vor allem würden Bürger an der Demonstrationsfreiheit gehindert werden. Die hohen Befugnisse der Polizei im Kampf gegen die terroristische Bedrohung würden oft als Rechtfertigung für Gewaltanwendung und Diskriminierung gegen Bürger ausgenutzt werden. Das geplante Gesetz soll im Rahmen der Ministerkonferenz am 21. Juni dem Conseil d’Etat (Äquivalent zum deutschen Verwaltungsgerichtshof) vorgelegt werden.
Die Sozialistische Partei: Kurz vor dem Exitus?
Nur wenige Meter von der französischen Nationalversammlung entfernt, vor der Parteizentrale der Sozialistischen Partei, wurden Journalisten Zeuge der Selbstzerfleischung des linken Lagers. "Was erwarten Sie denn nun von mir? Soll ich mich in die Seine stürzen oder auf dem Marktplatz geißeln" , fuhr die ehemalige Familienministerin Laurence Rossignol die Medien an. Deutlich wurde, dass die Nerven im linken Lager blank liegen.
Von 280 Sitzen (2012) auf 44 Sitze in nur fünf Jahren. Die Landung der Sozialistischen Partei nach den Parlamentswahlen dürfte nicht nur hart sondern geradezu „lebensbedrohlich sein". Die Köpfe vieler Parteigrößen sind bei den Wahlen gerollt. Weder der Parteivorsitzende Jean-Christophe Cambadélis, der noch am Wahlabend von seinem Amt zurücktrat, noch der Präsidentschaftswahlkandidat Benoît Hamon haben den Einzug in die Nationalversammlung geschafft, auch viele ehemalige Minister der Hollande-Regierung scheiterten bei den Parlamentswahlen. Dabei ist bezeichnend, dass der sozialistisch-linke Flügel der Partei ebenso betroffen ist, wie der sozialdemokratische Flügel.
Nun hat die Partei fünf Jahre Zeit, um sich neu aufzustellen. Diese Aufgabe wird nicht einfach sein, denn parteiprogrammatisch lässt die aktuelle französische Parteienlandschaft nur noch wenig Raum für die Sozialisten. Die linksextreme „La France insoumise"-Bewegung unter Jean-Luc Mélenchon hat anders als die linke Flügel der sozialistischen Partei nicht die Enttäuschung der Wähler angesichts der fünf Jahre verschenkten Regierungszeit auf sich lasten, die viele Sozialisten auch als Verrat an der eigenen politischen Identität perzipiert haben.
Schuldzuweisungen in Richtung des moderaten Flügels dürften zu einer Zerreißprobe für die Partei werden. Das Mea culpa des mehrheitlichen moderaten Flügels angesichts der verheerenden fünf Regierungsjahre kommt für viele Wähler zu spät. Bereits vor den Parlamentswahlen entschieden sich Vertreter dieses Flügels, allen voran der ehemalige Premierminister Manuel Valls, für eine Annäherung mit an Macrons Bewegung. Die Partei drohte Valls daraufhin mit dem Parteiausschluss, die Macronisten dankten ihm, indem sie keinen Gegenkandidaten in dem Wahlkreis aufstellten und Valls damit dem Weg zum Sieg ebneten: mit nur 134 Stimmen Vorsprung gewann der frühere Premierminister seinen Wahlkreis. Für viele „Sozialdemokraten“ könnte Macron die Reformen durchführen, die sie selbst in den letzten fünf Jahren nicht in Angriff genommen haben und die Frankreich dringend benötigt. In diesem Hinblick stellt die LREM!-Bewegung für die Wähler eine annehmbare Alternative zur Sozialistischen Partei dar, denn ihr Programm knüpft die schmerzhaften aber notwendigen Wirtschaftsreformen an eine liberal-progressive Gesellschaftspolitik.
Auch finanziell dürfte es für die Sozialisten nun knapp werden. Jährlich wird die Partei bis zu 17 Millionen weniger vom Staat erhalten, für die kommenden fünf Jahre wird sich der Verlust also auf 85 Millionen beziffern. Die öffentliche Finanzierung erfolgt in Frankreich u.a. auf Grundlage des Wahlergebnisses: Pro Wählerstimme erhält jede Partei in der kommenden Wahlperiode jährlich 1,42 Euro, pro Abgeordneten in der Assemblée nationale jährlich 37.280 Euro. Die PS muss einen Verlust von rund 230 Sitzen verschmerzen. Viele der Parteimitarbeiter werden nun die Koffer packen müssen und es wird bereits gemutmaßt, dass die Partei ihren Sitz im prestigeträchtigen 7. Arrondissement in Fußnähe zur Nationalversammlung verkaufen muss. Bereits nach dem ersten Wahlgang wurde die ansehnliche Stadtvilla von Unbekannten aus Scherz auf einer Immobilienseite zum Kauf angeboten.
Die Républicains: Kurz vor der Spaltung?
Die Wählerschaft seines Wahlkreises sei „zum Kotzen" („un électorat à vomir“), so ließ der ehemalige Chefberater von Nicolas Sarkozy und gescheiterter Anwärter auf ein Abgeordnetenmandat Henri Guaino am Morgen nach dem ersten Wahlgang verlauten. In seinem Pariser Wahlkreis konnte wie vielerorts ein bislang völlig unbekannter Kandidat der "République en marche!"-Bewegung die Wähler hinter sich sammeln und erhielt 41,81%. Guaino selbst landete mit 4,5% abgeschlagen auf dem siebten Platz. Zuvor hatte er seine Partei, die „Républicains" verlassen, um als unabhängiger Kandidat anzutreten.
Der zweite Platz im ersten Wahlgang ging an seine frühere Parteifreundin, die ehemalige Umweltministerin Nathalie Kosciusko-Morizet (18,13%), die sich selbst als "Macron-kompatibel" bezeichnet. Obwohl sie der LREM!-Bewegung eine punktuelle Zusammenarbeit – etwa im Rahmen der Arbeitsrechtsreform – in Aussicht stellte, konnte sie sich im zweiten Wahlgang nicht durchsetzen. Guaino und Kosciusko-Morizet sind Sinnbild der Identitätssuche des bürgerlich-konservativen Lagers, das sich zunehmend in einen moderaten und einen nationalkonservativen Flügel zu spalten beginnt.
Die „Républicains en marche“?
Auch das bürgerlich-konservative Lager steckt in einer tiefen Identitätskrise. Faktische Koalition, punktuelle Zusammenarbeit oder harte Opposition, in dieser Bandbreite wird bei den „Républicains“ darüber diskutiert, wie mit den „Macronisten“ zu verfahren ist.
Dabei kann sich die Partei eigentlich seit Anfang Mai mit einer Regierungsbeteiligung schmücken. Mit Edouard Philippe, Bruno Le Maire und Gérard Darmanin werden drei zentrale Regierungsämter, das des Premier-, des Wirtschaft- und Finanzministers sowie des Haushaltsministers durch bürgerlich-konservative Politiker besetzt. Diese Nominierung sorgte bei der Parteispitze jedoch für keine Begeisterung sondern wurde im Fall des Vorwahlkandidaten Bruno Le Maire und des ehemaligen Bürgermeisters von Tourcoing Gérard Darmanin mit einem Parteiausschluss quittiert.
Das harte Durchgreifen ist als letzter Versuch zu werten, das Zerbrechen der Partei zu verhindern. Der Graben zwischen dem nationalkonservativen Flügel rund um den stellvertretenden Vorsitzenden der „Républicains“ Laurent Wauquiez und dem moderaten Flügel, der vor allen Dingen die sogenannten „Juppéisten“, den ehemaligen Unt erstützern des Präsidentschaftswahlkandidaten Alain Juppé, versammelt, ist tief.
Die Bereitschaft zur konstruktiven Zusammenarbeit ist bei den „Macronisten“ und den „Républicains“, die sich selbst als „Macron-kompatibel“ bezeichnen, wiederum vergleichbar hoch. In insgesamt 20 Wahlkreisen hatte die „LREM!“-Bewegung keine Kandidaten aufgestellt, um den „Macron-Kompatiblen“ den Weg zum Sieg zu ebnen. Zu ihnen zählen der Organisator der Vorwahlen der „Républicains“ Thierry Solère, aber auch der Pierre-Yves Bournazel, der als einer von ingesamt drei Kandidaten des bürgerlich-konservativen Lagers einen Wahlkreis in Paris holen konnte.
In den nächsten Tagen wird sich entscheiden, ob diese Gruppe lediglich eine eigene Fraktion bilden wird, die der Regierung das Vertrauen ausspricht oder sich von der Mutterpartei abspalten wird. Ein neuer Parteiname, so witzelte ein Parteivertreter unlängst, wäre schnell gefunden: Die „Républicains en marche“. Was aus den „Républicains“ wird, die nur punktuell aber konstruktiv - dort wo inhaltlich-thematisch geboten - mit dem Präsidenten zusammenarbeiten wollen, steht derweil in den Sternen.
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