Länderberichte
Schrecklicher Höhepunkt am Ostersonntag: die Verschleppung von 21 Touristen und Hotelangestellten von der ostmalaysischen Taucherinsel Sipadan vor Sabah, darunter drei Deutsche. Dieser Konflikt ist nicht nur eine Auseinandersetzung zwischen einigen Moro-Rebellen im moslemisch geprägten Südwesten des Inselstaates und der philippinischen Regierung im rund 1000 Kilometer entfernten Manila. Es geht um viel mehr: rund 17 Millionen Einwohner der Insel Mindanao ringen wie viele andere ihrer Landsleute ums nackte Überleben, im täglichen Kampf mit Armut und Ausbeutung. Am Regierungssitz in der fernen Hauptstadt, dem Malacanang-Palast, scheint man überfordert. Der philippinische Präsident, Joseph Estrada, gefällt sich zwar in der Rolle des starken Mannes, sein hauptsächliches Versprechen aus dem Wahlkampf vor zwei Jahren, im ganzen Land die Armut zu bekämpfen, hält er jedoch nicht ein. Mindanao, so hatte er getönt, werde in seiner Amtszeit zur Reiskammer der Philippinen erblühen. Passiert ist jedoch nichts. Im Gegenteil: eine seiner ersten Maßnahmen zeigte, wie niedrig Mindanao, immerhin die zweitgrößte Insel der Philippinen, auf seiner Prioritätenliste rangiert. Mit einem Federstrich schaffte er das von seinem Vorgänger Fidel Ramos eingerichtete Amt des Präsidentenbeauftragten für Mindanao ab. Dieses 1992 aufgebaute Büro hatte die politischen Aktivitäten in der Region koordiniert, wirtschaftliche Akzente gesetzt und diente der Insel als Sprachrohr in Manila. Estrada setzt offensichtlich weniger auf Gespräche und politische Taten. Den wirtschaftlichen und sozialen Problemen in den Gebieten der Aufständischen kommt er nicht mit Programmen bei, die ein besseres Leben verheißen könnten. Seine kraftmeierische Politik trägt sogar noch zur Eskalierung des Konflikts bei. Genau zwei Jahre nach dem Amtsantritt von Estrada prägt die Armee das Bild in Mindanao. Massiv zog das Militär Truppen für den Kampf gegen die Rebellen zusammen, mehr als die Hälfte der philippinischen Streitkräfte steht in Mindanao. Noch im März genehmigte Estrada rund 50 Millionen Mark, um 35 000 neue Rekruten für paramilitärische Einheiten anzuwerben. Die Einschätzung vieler ausländischer Beobachter allerdings, dass ganz Mindanao unter Bombenanschlägen, Morden, Entführungen und Schutzgelderpressungen leide, ist falsch. Die militärischen Auseinandersetzungen mit den Separatisten konzentrieren sich auf den moslemisch geprägten Südwesten der Insel, auf die Provinzen Tawi-Tawi, Sulu, Basilan, Zamboanga, Lanao und Maguindanao. Hier tobt seit über dreißig Jahren ein erbitterter Kleinkrieg zwischen moslemischen Guerillas und dem Militär. Geiselnahmen sind an der Tagesordnung. Mal zeigt sich die Regierung in Manila entschlossen, ein für alle Male mit den Rebellen aufzuräumen, dann wieder wird ein Waffenstillstand vereinbart, der meist aber nur kurze Zeit anhält. Über 120 000 Menschen sind so gut wie unbeachtet von der internationalen Öffentlichkeit seit Anfang der 70er Jahre in diesem Konflikt ums Leben gekommen. Die Wurzeln der blutigen Auseinandersetzungen gehen weit in die Geschichte zurück. Arabische Gewürzhändler hatten den Islam Ende des 15. Jahrhunderts in den Süden der Philippinen gebracht. Seit das katholische Spanien dann vor mehr als 400 Jahren seinen Kolonialfeldzug im Reich der 7107 Inseln begann, schwelt der Streit. Ursprünglich gab es eine moslemische Mehrheit in Mindanao, umfangreiche Umsiedlungsprogramme schon unter den Amerikanern zu Beginn des 20. Jahrhunderts drehten dann die Mehrheiten zugunsten der katholisch geprägten neuen Siedler um. Ihr Griff nach Land schaffte Probleme mit den Alteingesessenen. Im Jahre 1976 unterzeichnete die Marcos-Regierung in Tripolis ein Abkommen mit den Rebellen, das 13 Provinzen in Mindanao und Palawan die Unabhängigkeit garantieren sollte. Bald jedoch rückte man von der Vereinbarung ab, und es sprachen wieder die Waffen. In einem Referendum vom November 1989 stimmten dann nur vier Provinzen für die Bildung einer "Autonomen Region Muslim Mindanao". Neue, für 1999 vorgesehene Wahlen in der autonomen Region wurden abgesagt. Ein Referendum, ursprünglich für September dieses Jahres geplant, wird wahrscheinlich verschoben. Im Kampf mit den Aufständischen hat es die philippinische Regierung nicht mit einer einheitlichen Front der Rebellen zu tun. Mächtigste und zahlenstärkste Gruppe ist die von Nur Misuari angeführte "Moro National Liberation Front" (MNLF), gegründet im Jahre 1969 mit dem Ziel, einen unabhängigen Staat im Süden der Philippinen aufzubauen. Von der MNLF spaltete sich 1978 die radikalere "Moro Islamic Liberation Front" (MILF) ab. Ihr Anführer ist der in Kairo ausgebildete Salamat Hashim. Keine Rolle spielt heute mehr die "MNLF-Reformist Group" und die "Bangsa Moro Liberation Organization". Zusätzlich zur MNLF und MILF ist jedoch das "MNLF-Islamic Command Council" aktiv, eine Splittergruppe, die MNLF-Chef Nur Misuari wegen seiner nachgiebigen Haltung für einen Verräter an der gemeinsamen islamischen Sache hält. Hinzu kommen die "Moro Revolutionary Organization" und die Bewegung "Maranao Islamic Statehood". Alle kämpfen für ein eigenständiges Mindanao. Sie werfen der Regierung in Manila vor, schon über Jahrzehnte den an Naturvorkommen reichen Süden auszuplündern. Während sich die MNLF offiziell mit einem Autonomiestatus zufrieden gibt und 1996 zu einem Arrangement mit der Regierung gekommen ist, dennoch aber gelegentlich mit dem Griff zu den Waffen droht, wollen die anderen Gruppen mit Gewalt einen islamischen Staat im Süden der Philippinen errichten. Über den Weg dahin, ist man sich jedoch nicht einig. Nur Misuari, der in den 60er Jahren an der Universität der Philippinen unterrichtete, kommandierte Mitte der 90er Jahre über 15 000 bewaffnete Rebellen. Heimat der MNLF ist hauptsächlich Tawi-Tawi, Sulu, Basilan und die Halbinsel Zamboanga, stark zeigt man sich aber auch in Lanao del Sur, Maguindanao, Sultan Kudarat und Südcotabato. MNLF-Mitglieder entstammen vor allem den ethnischen Gruppen der Tausugs, Samals und Yakans. Nach einem Friedensvertrag im Jahre 1996 mit der Ramos-Administration legten die MNLF-Rebellen ihre Waffen nieder. Die Region schien zur Ruhe zu kommen. MNLF-Anführer Misuari ist bis heute Gouverneur der "Autonomen Region Muslim Mindanao". Die gegenwärtige Schlagkraft der MILF ist nur sehr schwer einzuschätzen. Nach eigenen Angaben verfügt die Bewegung über 120 000 Kämpfer. Geheimdienstberichte beziffern ihre Stärke aber mit 40 000 Mann. MILF-Mitglieder gehören ethnisch vor allem zu den Maguindanaos, Iranuns und Maranaws. Heute fordern sie die Armee in weiten Teilen der Insel zu einem erbitterten Kleinkrieg heraus. Die Terrortruppe "Abu Sayyaf" ("Schwert Gottes"), verantwortlich für die Entführung der ausländischen Touristen von der malaysischen Insel Sipadan, ist die kleinste aber radikalste Organisation. Ihr Kernland und Operationsgebiet ist die Insel Basilan. Mit ihrem Terror überziehen die zumeist jungen Mitglieder von "Abu Sayyaf" jedoch auch Sulu und gelegentlich sogar die Hauptstadt Manila. Ihre Wurzeln gehen auf die 1972 gegründete Bewegung "Tabligh" zurück, die auf den Philippinen die Lehren von Ayatollah Khomeini verbreiten wollte. Tablighs militärischer Arm nannte sich zunächst "Mujaheddin Commando Freedom Fighters", später dann "Abu Sayyaf". Ihr Anführer war Abdurajak Abubakar Janjalani, vormals MNLF-Mitglied und in Libyen ausgebildet. Janjalani hat schon im Afghanistan-Krieg gekämpft; im Dezember 1998 starb er in Basilan im Kugelhagel der Polizei. Seitdem befehligt sein jüngerer Bruder Khaddafy Jan-jalani die Terrortruppe und zieht eine blutige Spur durchs Land. "Abu Sayyaf" steckt hinter einer ganzen Reihe von Anschlägen. Mit einer Orgie von Gewalt überziehen die rund 200 Mann zählenden Separatisten in ihrem grausamen Kampf für einen Moslemstaat das Gebiet. Ihre Brutalität ist berüchtigt: 1995 überfielen Rebellen die Stadt Ipil in Zamboanga und brachten mehr als 50 Leute um. Drei Jahre später verschleppten sie drei Hongkong-Chinesen und ließen sie erst nach Zahlung eines hohen Lösegeldes frei. Nach amerikanischen Angaben unterstützen fundamentalistische Organisationen aus dem Mittleren Osten und Südasien die Terrortruppe. Zusätzliches Geld beschafft man sich auf Raubzügen, mit Schutzgelderpressungen und Entführungen von Einheimischen. Dabei spielt weniger die religiöse Zugehörigkeit als der Geldbeutel ihrer Opfer die entscheidende Rolle. Durch den Sipadan-Überfall ist "Abu Sayyaf" jetzt ins internationale Rampenlicht gerückt. Die Geiselnahme war wahrscheinlich von langer Hand vorbereitet und als Maßnahme gegen die vorrückende Armee auf Basilan gedacht. Diese Insel ist Schauplatz einer anderen Entführung von hauptsächlich philippinischen Schulkindern und ihren Lehrern. Hier hat die Armee inzwischen mit einer Gewaltaktion einige der Geiseln befreit; drei Lehrer und ein Priester sind mit grausamen Verstümmelungen ermordet aufgefunden worden, elf weitere Geiseln noch in der Hand ihrer Entführer. Ihr Schicksal ist ungewiss. Die Gunst der Bevölkerung Mindanaos hat "Abu Sayyaf" längst verspielt. Der anfängliche Rückhalt ist geschwunden, viele Menschen im Südwesten Mindanaos wollen Ruhe und Frieden. Sie sorgen sich in ihrer bitterarmen Region ums nackte Überleben. Der alltägliche Kampf gegen Gewalt und Armut hat sie gezeichnet. Grausame Anschläge, Entführungen und Erpressungen helfen nicht dabei, ihr Los zu verbessern. Im Gegenteil: die Fronten verhärten sich, Unerbittlichkeit, Rache und religiöser Eifer verhindern ein besseres Leben. Die schweigende Mehrheit der Moslems in Mindanao, die in den ärmsten Regionen der Inseln leben, träumt nicht von Unabhängigkeit und Freiheit - ihre Wünsche sind viel bescheidener. Sie wollen für ihre Familien und für sich genügend zu essen, ihr Land wollen sie bestellen und einen Arbeitsplatz. Ausbildung für ihre Kinder, gesundheitliche Versorgung, bessere Strassen, Elektrizität und sauberes Wasser - das sind die Träume, die für die Menschen in der Region einfach nicht wahr werden wollen. Dabei hätten schon allein die Gelder, die philippinische Regierungen von Marcos, über Aquino und Ramos, bis hin zu Estrada, für Waffen und militärische Drohgebärden aufgewendet haben, einen Umschwung herbeiführen können. Der Kampf des Militärs gegen die MILF-Rebellen ist für beide Seiten sehr verlustreich. MILF-Anführer Hashim Salamat zeigt sich davon überzeugt, dass er die Probleme Mindanaos mit seinen vier Millionen Moslems lösen könnte. Ein Referendum unter der Aufsicht der Vereinten Nationen soll nach dem Vorbild Osttimors den Durchbruch bringen. Dabei ist die MILF nicht einmal von der einflussreichen "Islamischen Konferenz" (OIC) als offizieller Vertreter der Interessen der Moslems anerkannt. Dies ist mit Beobachterstatus die MNLF und ihr Führer Nur Misuari. Er hofft auf seine Vermittlerrolle im internationalen Geiseldrama, die ihm unter seinen Leuten in Mindanao wieder einen besseren Ruf und Zulauf bringen soll. Viele seiner Anhänger sind enttäuscht von der Rolle Misuaris als Gouverneur der autonomen Region. Von ihm hatte man sich mehr versprochen. Allein - ohne entsprechende Unterstützung der Zentralregierung stand er von Anfang an auf verlorenem Posten. Wirtschaftliche Not, religiöser Streit, reines Banditentum und politische Gewalt bilden eine hochexplosive Mischung. Mindanaos Entwicklungsperspektiven sind alles andere als rosig. Zwar fließen internationale Hilfsgelder, nachhaltig gewirkt haben diese jedoch nur begrenzt. Eine im Vergleich zu den restlichen Philippinen hohe Analphabetenrate, geringeres Einkommen und höhere Arbeitslosigkeit lassen Mindanao schlecht dastehen. Wachsende Armut, die brachliegende Landwirtschaft, fehlende Bewässerungs-, Vermarktungs- und Veredelungsmöglichkeiten, mangelhafte Infrastruktur, ausbleibende private und öffentliche Investitionen - all dies zeichnet das Bild einer bitterarmen Region, hoffnungslos verstrickt in einem blutigen Netz aus Rache und Ausweglosigkeit. Mindanao - Armenhaus und Pulverfass der Philippinen? Die internationalen Schlagzeilen über die jüngste Entführung haben einen jahrhundertelang schwelenden Konflikt ans Licht der Öffentlichkeit gebracht. Weitere Gewalt wird die vielschichtigen Probleme nicht lösen. Um ihr Leben bangende Geiseln, verschleppt von einer Bande von Terroristen, zehntausende Filipinos, vertrieben aus ihrer Heimat, Bombenexplosionen, geplünderte Häuser, brennende Busse und Fähren, weite Landstriche ohne Recht und Gesetz - alles Bilder und Eindrücke, die eine Wende zum Besseren in weite Ferne rücken lassen. Solange die Regierung in Manila mit ihren Autonomieversprechen nicht wirklich ernst macht und erhebliche Mittel des Haushalts für Mindanao bereitstellt, um so die unterentwickelte Infrastruktur zu verbessern und Programme zur Armutsbekämpfung sowie Modernisierung der Landwirtschaft auflegt, bleibt der Süden der Philippinen das Armenhaus des Inselstaats - immer zugleich aber auch Pulverfass und neuerdings internationaler Konfliktherd.