Folgt man den Umfragen der letzten Wochen, gewinnt man den Eindruck, die Wahlen sind bereits gelaufen. Die neue Volkspartei (ÖVP) mit Sebastian Kurz an der Spitze steht uneinholbar vorne, man schätzt sie auf mindestens 33 Prozent. Mit weitem Abstand folgt mit ca. 22 Prozent die SPÖ, dicht dahinter die FPÖ mit ca. 20. Die beiden kleineren Parteien, Grüne und Neos, stehen stabil mit guten Werten um die 12 bzw. 8 Prozent da. Dieses Bild zeigt sich seit Wochen. Dass der Höhenflug der Volkspartei von bis zu 38 Prozent Ende Mai nicht zu halten war, konnte jeder wissen. Denn dieser entsprang dem Gefühl, dass der junge Bundeskanzler Sebastian Kurz sehr unfair behandelt wurde.
Wie es dazu kam
Es war das so genannte „Ibiza-Video“, gedreht bereits vor den Nationalratswahlen 2017 und am 17. Mai 2019 u. a. durch deutsche online-Medien veröffentlicht, das letztlich die Regierung Kurz zu Fall brachte. Zu sehen waren der Partei-Chef der FPÖ, Heinz-Christian Strache, zusammen mit dem Klubobmann (Fraktionsvorsitzenden) der FPÖ, Johann Gudenus, auf einem Anwesen auf Ibiza in einem angeregten Gespräch mit einer angeblichen reichen russischen Oligarchen-Nichte. Nicht nur der Stil der Unterredung, sondern vor allem deren Inhalt, ließ die Zuschauer vor den Bildschirmen verstört zurück. Es wurde seitens der beiden Freiheitlichen um Unterstützung gebuhlt und im Gegenzug Aufträge versprochen, sobald man in einer möglichen Regierung dazu in der Lage ist - bis hin zum Verkauf eines großen Boulevardblatts ging die Phantasie.
Der Rücktritt beider von ihren Ämtern zog die Forderung des Kanzlers Kurz nach sich, dass auch der Innenminister Kickl gehen müsste. Ihm könne man unmöglich die Aufklärung der Sachverhalte aus dem Video überlassen, da er schließlich zur Entstehungszeit des Videos Generalsekretär der FPÖ war und somit befangen wäre. Natürlich hat mit hineingespielt, dass das Verhältnis zwischen Kurz und Kickl bereits stark angespannt war. Die FPÖ ließ daraufhin die Koalition platzen. Die Bildung einer Minderheitsregierung und die Ankündigung von Neuwahlen im September halfen nicht: Einen Tag nach der Europa-Wahl, bei der die Volkspartei ein starkes Ergebnis von 34,5 Prozent erhielt, fand im Nationalrat ein Misstrauensantrag gegen die gesamte neue Regierung Kurz mit den Stimmen von SPÖ und FPÖ eine Mehrheit.
Technische Regierung
Die neue Situation, die aus dem Misstrauensantrag erwuchs, bedurfte einer ungewöhnlichen Reaktion. Es war sozusagen die Stunde des Bundespräsidenten Alexander Van der Bellen. An ihm war es nun, eine Übergangsregierung zu bestimmen, die die Geschäfte bis zur Einsetzung einer neuen Regierung wahrzunehmen hat. Manch einer in Österreich mag Gefallen daran finden, dass seitdem die Regierungsarbeit so geräuschlos erfolgt, es keine Streitereien gibt und irgendwie trotzdem alles funktioniert. Es darf nur nicht übersehen werden, dass diese Regierung sich ausdrücklich als eine Regierung sieht, die verwaltet und die Geschäfte führt – aber nicht politisch agiert, Zukunftsprojekte entwirft oder kritische politische Entscheidungen fällt.
Kreative Gesetzentwürfe und Anträge kommen derzeit nur aus dem Parlament, und sie hängen von zufälligen Mehrheiten ab. Ein bisschen wird das Prinzip verfolgt, vor der Wahl noch schnell alles Wünschenswerte zur Abstimmung zu stellen und damit Wähler anzuwerben – ohne im Einzelnen auf Konsistenz und Nachhaltigkeit zu achten. So finden dann plötzlich Rentenerhöhungen, striktere Regelungen für die Parteienfinanzierung oder das Rauchverbot in Gaststätten dank wechselnder Mehrheiten Zustimmung, die unter normalen Koalitionsregierungen keine Chance gehabt hätten. Über mögliche Umsetzungsprobleme darf sich dann die neue Regierung Gedanken machen.
Und plötzlich ist Wahlkampf
Die Regierung Kurz war erst anderthalb Jahre im Amt. Der Anspruch war, anders zu regieren: ohne den ständigen Streit und gegenseitige Blockaden. Steuern sollten gesenkt und die Migration gestoppt werden. Einiges wurde gleich zu Beginn in Angriff genommen und umgesetzt. Besonders stolz ist die Volkspartei auf die Einführung eines Familienbonus‘ bis zu 1.500 Euro pro Kind jährlich. Vor allem aber wurde sich an das Versprechen gehalten, einen neuen Stil im Umgang miteinander zu pflegen. Differenzen wurden innerhalb der Koalition und nicht über die Medien ausgetragen.
Die FPÖ war dabei kein einfacher Koalitionspartner. Immer wieder gab es Ausfälle nach rechts, Kontakte zu den Identitären, antisemitische Entgleisungen. Von der FPÖ immer schnell als Einzelfälle abgetan, waren sie längst schon keine Einzelfälle mehr und strapazierten die Nerven des Koalitionspartners enorm. Bundeskanzler Kurz musste sich häufig den Vorwurf des Schweigekanzlers gefallen lassen. Die Mehrheit der Wähler dagegen honorierte, dass auf öffentliche Auseinandersetzungen innerhalb der Koalition verzichtet wurden. Sebastian Kurz genießt unter allen Wählerschichten hohe Sympathiewerte, auch unter den Wählern der Oppositionsparteien.
Vor diesem Hintergrund ist umso mehr zu fragen, inwieweit der Misstrauensantrag durch FPÖ und SPÖ klug war. So sehr zu verstehen ist, dass man dem beliebten Sebastian Kurz die Bühne im Amt entziehen wollte – dieser Akt wird den beiden Parteien übelgenommen.
Der Wahlkampf trifft die Parteien zudem zur Unzeit, vor allem die SPÖ. Nach dem schlechten Wahlergebnis 2017 wollte sie sich eine Auszeit nehmen, sich neu ordnen. Die neugewählte Parteivorsitzende Pamela Rendi-Wagner galt unter der Hand als Übergangskandidatin. Sie ist eine anerkannte Fachfrau im Gesundheitsbereich, aber nicht unbedingt eine politische Kämpferin für die erste Reihe. Nun musste sie schnell ins Rennen geschickt werden und wird seitdem mit ‚klugen‘ Ratschlägen von ihren Parteigenossen begleitet. Sollte das Wahlergebnis am Ende den Umfragewerten entsprechen, erreicht die SPÖ nicht mehr ihr Ergebnis von 2017, und das war schon schlecht.
Die FPÖ wird höchstwahrscheinlich ebenfalls Federn lassen, aber längst nicht so viel, wie nach dem Ibiza-Skandal zu erwarten wäre. Das zeigte sich schon bei der Europa-Wahl, wo sie trotz allem über 17 Prozent erhielt. Die Wählerschaft scheint eine Trotzreaktion zu entwickeln und sich um die Partei zu scharen, wenn sie unter Druck steht. Auch wenn die FPÖ mit der AfD im Europäischen Parlament in einer Fraktion sitzt, so unterscheidet sie sich in einem wesentlichen Punkt: Sie gehört seit 1956 ununterbrochen dem Nationalrat an und war bereits an vier Bundesregierungen beteiligt, sowohl in der Koalition mit der SPÖ als auch mit der ÖVP. Sie ist damit eine im parlamentarischen System Österreichs etablierte Partei. Sie hat über die Jahre ihre Themenschwerpunkte verändert und nicht zuletzt unter Jörg Haider zunehmend auf Populismus gesetzt. Sie verstand dabei sehr früh, welche Bedeutung Bilder haben und wie wichtig der Umgang mit der gesamten Bandbreite der Medien ist.
Was schon jetzt mit Sicherheit gesagt werden kann, dass die Grünen zu den großen Gewinnern der Wahlen gehören werden. Bei der letzten Nationalratswahl 2017 sind sie wegen eines internen Streits und der Abspaltung ihres populärsten Vertreters Peter Pilz aus dem Nationalrat rausgeflogen. Jetzt dürften sie zweistellig zurückkehren. Der Zeitgeist spielt ihnen in die Hände und der Glanz von Pilz ist verblasst. Seine Liste JETZT wird es kaum in den Nationalrat schaffen.
Den Neos wird ein Zuwachs an Stimmen vorausgesagt. Sie sind besonders im urbanen Bereich stark, thematisieren im Wahlkampf Bildung und gelten im Allgemeinen als liberal, wenn auch nicht vergleichbar mit der FDP in Deutschland.
Die meisten Stimmen dürfte allerdings Sebastian Kurz mit seiner neuen Volkspartei auf sich ziehen. Seit Beginn seiner Karriere setzt er auf einen neuen Stil in der Politik, auf Kommunikation mit den Menschen und stützt sich vor allem in Wahlkampfzeiten auf Unterstützer, die nicht nur aus den eigenen Reihen kommen. Die so genannte Bewegung, die ein bisschen an Macrons Bewegung in Frankreich erinnert, ergänzt nicht unerheblich den Wahlkampf der Partei, vor allem in urbanen Gegenden. Die Mobilisierung, die dadurch 2017 möglich war, ist auch in diesem Wahlkampf zu spüren und somit ein großes Plus.
Koalition gesucht
Dass der Sieger anscheinend schon feststeht, heißt allerdings nicht, dass auch schon klar ist, was danach folgt. Zum einen gibt es Beispiele in der Geschichte Österreichs, dass sich Wählerströme auch ganz kurzfristig noch ändern können. Zum anderen ist derzeit nicht absehbar, welche Koalition nach dem 29. September herauskommen wird.
Die Spannung, die derzeit beim Wahlkampf vermisst wird, ist vielmehr nach der Wahl zu erwarten. Bleibt es bei dem, was die Umfragen suggerieren, so kann Sebastian Kurz zwischen drei Optionen wählen. Zum einen könnte es zu einer Neuauflage von Türkis-Blau (ÖVP-FPÖ) kommen. Die beiden würden sich vielleicht schnell einig, aber nach den bisherigen Erfahrungen gäbe es viel Erklärungsbedarf und ein hohes Risiko, dass weitere ‚Einzelfälle‘ ein erneutes vorzeitiges Aus der Koalition bescheren. Der Reputation des Landes jenseits der Grenzen wäre das ebenfalls nicht dienlich. Zum anderen gäbe es die Möglichkeit eines Zurück zu einer Koalition mit der SPÖ. Dafür scheinen die Hürden aber sehr hoch zu sein, zu sehr steckt noch der Frust über die Blockaden und den rauen Ton unter den Koalitionären in den Knochen. Bleibt etwas ganz Neues: ein Dreierbündnis mit den Grünen und den Neos. Mangels Erfahrungen lassen sich dafür gar keine Prognosen abgeben und leicht würde das nicht. Glaubt man den österreichischen Wettbüros, liegen alle drei Möglichkeiten nicht allzu weit auseinander.
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