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Länderberichte

Politischer Kurzbericht aus Ankara

von Frank Spengler, Dirk Tröndle
Heftige Diskussionen um den „Minderheitenbericht“ des Beirats des Ministerpräsidenten für Menschenrechtsfragen / US-Präsidentschaftswahl: Reaktionen der türkischen Medien / Info-Mail

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Heftige Diskussionen um den „Minderheitenbericht“ des Beirats des Ministerpräsidenten für Menschenrechtsfragen

Am 12. April 2001 wurde der Beirat für Menschenrechtsfragen beim Amt des Ministerpräsidenten eingerichtet, dessen 81 Mitglieder sich aus Vertretern der Ministerien, staatlichen Organisationen, Anwaltskammern, Gewerkschaften, Berufsverbänden, Nichtregierungsorganisationen und des Wissenschaftsbereichs zusammensetzen. Die Aufgaben des Gremiums sind:

  • Koordination aller die Menschenrechte betreffenden Institutionen.
  • Überprüfung der Umsetzung aller Gesetze hinsichtlich der Menschenrechte und Vorschlagsrecht für Verbesserungen.
  • Koordination, Bewertung und Kontrolle der Ausbildungsprogramme über Menschenrechtsfragen für den Staatsdienst.
  • Verfolgung und Untersuchung von Verstößen gegen die Menschenrechtsgesetze sowie Koordinierung der daraus resultierenden Konsequenzen.
Auf heftige Kritik in der türkischen Öffentlichkeit stieß der Bericht zur Lage der Menschenrechte in der Türkei der Arbeitsgruppe „Minderheiten- und kulturelle Rechte“ des Beirats. In diesem Bericht wird u. a. die Fortsetzung von Folter, die schleppende Umsetzung der Reformen durch die Große Türkische Nationalversammlung und die unzulängliche Berücksichtigung von Vorschlägen der Opposition in Menschenrechtsfragen kritisiert.

Bei der Pressekonferenz zur Vorstellung des Berichts fiel ein Mitglied des Beirats dem Vorsitzenden Prof. Dr. Ibrahim Kaboğlu ins Wort, schrie ihn nieder, zerriss eine Kopie des Berichtes und warf ihn dann vor seine Füße. Kaboğlu beendete daraufhin die Pressekonferenz vorzeitig. Der Bericht wurde dennoch an die Presse verteilt. Stein des Anstoßes für diesen Eklat und für die öffentliche Kritik war die Anregung des Beirats, die Begriffe Türke, Türkentum und daraus resultierend auch den Begriff Minderheit neu zu definieren. Schon die Bezeichnung von Kurden und Alewiten als Minderheiten im letzten EU-Fortschrittsbericht stieß in der Türkei auf heftigste Kritik, da dadurch ein grundlegendes Prinzip der modernen Türkischen Republik in Frage gestellt wird. Im Friedensvertrag von Lausanne werden im Artikel 39 Absatz 4 namentlich den Armeniern, Griechen und Juden Minderheitenrechte zugebilligt. Alle anderen in der Türkei lebenden „Minderheiten“, je nach Klassifikation schätzen Experten sie auf über 50, akzeptiert die Staatsräson nicht unter diesem Status, weil alle diese Gruppen muslimischen Glaubens sind. Sie werden unter die Religionsgemeinschaft aller Muslime (Umma) eingeordnet. Im „Geiste von Lausanne“ ist der Minderheitenbegriff religiös und nicht nach ethnischer Zugehörigkeit definiert.

In den ersten Artikeln der Verfassung von 1982 wird definiert, wer ein Türke ist. Diesem Begriff liegt ein ausgeprägter Volkszugehörigkeitscharakter zu Grunde. Der Beirat für Menschenrechtsfragen unternahm in seinem Bericht den Versuch, den in der offiziellen Auslegung monistisch gebrauchten Begriff „Türke“ - dem ein laizistisch, sunnitisch-muslimisch und türkischer Charakter innewohnt - nun insoweit abzuändern, dass das „Türkischsein“ im Sinne einer patriotischen Staatsbürgerschaft ersetzt wird. Unter einer türkischen Überidentität sollten sich auch Subidentitäten nach religiöser oder ethnischer Zugehörigkeit subsumieren lassen.

Die Kritiker dieses Ansinnens sehen darin nun den Versuch, den Friedensvertrag von Lausanne aufweichen zu wollen. Damit bedrohten die Verfasser die Integrität und den unitaristischen Charakter der Republik Türkei, so der Vorwurf. Die Diskussion darüber überschattete auch die Feierlichkeiten zum Tag der Republik am 29. Oktober. Neben dem Militär hat sich auch Staatspräsident Sezer in seiner Feiertagsrede kritisch dazu geäußert. Atatürk habe nie von einem türkischen Staat gesprochen, sondern von der türkischen Nation als politischem Begriff, so der Staatspräsident. Die Unterscheidung in sprachliche, religiöse oder ethnische Entitäten bedrohe die Integrität der Türkei. Die Befreiungsbewegung unter Atatürk sei eine anatolische Bewegung gewesen, in der diese Unterschiede keine Rolle gespielt hätten.

Prof. Dr. Baskin Oran, der Verfasser des Berichts, hat sich mittlerweile gegen die Vorwürfe zur Wehr gesetzt: „Ich bin weder Journalist noch Politiker, sondern Wissenschaftler und als solcher muss ich jenes zu Papier bringen, was ich glaube wissenschaftlich formulieren zu müssen“. Zudem habe er auf den sechs Seiten nur das niedergelegt, worüber schon seit 30 Jahren diskutiert worden sei. Er habe keineswegs die Absicht, eine Debatte über die Republik auszulösen. Das von Atatürk propagierte Ziel der Erreichung der „zeitgenössischen Zivilisation“ könne jedoch im Jahre 2000 nicht mehr nach dem damaligen Verständnis gelten, denn mit dem Ziel der EU-Mitgliedschaft hätten sich die Koordinaten dafür verschoben. Der Kemalismus sei in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts linksrevolutionär und fortschrittlich gewesen. Wenn dieser Kemalismus jedoch heutzutage in der gleichen Form bewahrt werden solle, sei das nichts anderes als Konservatismus. Nicht sein Versuch einer Neudefinition, sondern das Festhalten am bisherigen Verständnis einer eher ausgrenzenden türkischen Überidentität könne, so Oran, zu einem Zerfall der Einheit des türkischen Staates führen. Als seine heftigsten Kritiker bezeichnet Prof. Oran ultranationalistische kurdische und türkische Kreise. Er forderte die Verantwortlichen auf, den Lausanner Vertrag auch in letzter Konsequenz anzuwenden, da den drei Minderheiten einige Rechte nicht zugebilligt würden. Es gebe in der Türkei leider noch immer fest gefügte Traumata und Paranoia, z.B. auch die Angst vor dem Kopftuch.

Ministerpräsident Erdogan distanzierte sich von den umstrittenen Inhalten des Berichts, denn die Definitionen des Lausanner-Vertrags seien richtungweisend. Der Vorwurf, dass der Beirat zuerst die Presse informiert haben soll und erst danach die Politiker, wird sicherlich auch zur Ablehnung beigetragen haben.

Mittlerweile übte Kaboğlu herbe Kritik an der AKP-Regierung. Er fühle sich allein gelassen, insbesondere von Außenminister Abdullah Gül, an dessen Ministerium der Beirat organisatorisch angeschlossen ist. Kein Politiker habe die Mitglieder seines Gremiums in der Öffentlichkeit verteidigt, obwohl sie über jeden Schritt frühzeitig informiert gewesen seien. Kaboğlu erklärte auch, dass er bedroht würde.

Diese jüngste Entwicklung bestätigt wiederum, dass für die Türkei auf dem langen Weg der Reformen noch etliche für die türkische „Seele" sensible Themen auf der Agenda stehen, deren Überwindung erhebliche Ansprüche an die politische Führung stellen werden. Es hat sich aber auch gezeigt, dass in der Türkei eine neue Diskussionskultur im Entstehen ist, die auch vor den über Jahrzehnten gepflegten Tabus keinen Halt mehr macht.

Reaktionen in den türkischen Medien über die US-Präsidentschaftswahl

Türkische Tageszeitungen berichteten in großen Aufmachern ausführlich über den Verlauf der US-Wahlen. Die Wiederwahl von Georg W. Bush wurde in zahlreichen Kolumnen überwiegend kritisch kommentiert. Einige Kolumnisten ließen Zweifel an der Objektivität amerikanischer Wähler aufkommen. Die Presse suchte nach Erklärungen, warum der US-Präsident trotz der erheblichen Kritik an seiner Amtsführung, ein besseres Ergebnis als noch vor vier Jahren erzielen konnte. Für den Kolumnisten Ahmet Taşgetiren von der islamisch-konservativen Tageszeitung „Yeni Şafak“ ist dieser Erfolg weniger den Argumenten Bushs im Wahlkampf zuzuschreiben, sondern eher dem fehlenden Charisma seines Widersachers John Kerry. Can Dündar von der Tageszeitung „Milliyet“ geht viel weiter und zweifelt an der Zurechnungsfähigkeit der US-amerikanischen Wähler: „Der künftige Film: Cowboy Bush gegen Osama bin Laden. Kein Wunder, nur 20% der Amerikaner besitzen einen Reisepass. 3.5 Millionen Amerikaner verfolgen das Weltgeschehen nur aus dem Fernsehen ohne aus dem Haus zu gehen und 11% der Collage-Absolventen haben Schwierigkeiten auf der Weltkarte ihren eigenen Kontinent ausfindig zu machen. Bitte schön, dieses Amerika hat George W. Bush wiederholt zum Präsidenten gewählt.“ Seriöser fallen dann schon andere Erklärungsversuche aus. Es sei deutlich geworden, so Taha Akyol von „Milliyet“, dass 61% der Kirchgänger und 78% der Menschen, die moralische Werte für sehr wichtig hielten, Bush gewählt hätten. Zudem hätten sich 59% derjenigen mit einem Jahreseinkommen über 200.000 $ für Bush entschieden, was den Schluss zuließe, dass er vom weißen, angelsächsischen, protestantischen und wohlhabenden Amerika gewählt worden sei. Er stellt die Frage, ob das weiße, reiche und christliche Amerika, das das Ergebnis der Wahlen geprägt hat, Bush nun noch mehr dazu drängen werde, diese Eigenschaften in seiner Politik zu berücksichtigen.

Die türkischen Kommentatoren befürchten mit der Wiederwahl Bushs künftig eine noch einseitigere US-Politik im Nahen Osten. Am Anfang hätte Afghanistan gestanden, dann der Irak und nun werde wohl der Iran angegriffen werden, vermutet Ahmet Taşgetiren. Er bringt damit nicht nur seine eigene Meinung zum Ausdruck, dass mit der Wiederwahl von Präsident Bush eine Radikalisierung der amerikanischen Politik gegenüber dem Islam und den muslimischen Staaten bevorstünde. Andere titeln mit „Ein schwarzer Tag für die Welt“ (Ali Bayramoğlu von „Yeni Şafak“) und die Journalistin Nuray Mert von der Tageszeitung „Radikal“ vermutet sogar den Beginn eines neuen konservativen Imperialismus.

Die erste offizielle Stellungnahme zur Wiederwahl Bushs kam von Staatspräsident Sezer, der in seinem Gratulationsschrieben den Wunsch nach der Fortsetzung der guten partnerschaftlichen Zusammenarbeit äußerte. Der außenpolitische Berater von Ministerpräsident Erdoğan, der Abgeordnete Egemen Bağıs, richtete einen Friedensappell an Bush. Wenn Präsident Bush in die Geschichtsbücher eingehen wolle, dann müsse er für den Frieden votieren und nicht für neue kriegerische Auseinandersetzungen. Erdoğan selbst beglückwünschte Bush zur Wiederwahl und verband dies ebenfalls mit dem Wunsch nach einer Vertiefung der Beziehungen zwischen beiden Ländern. Für den Oppositionsführer Deniz Baykal hingegen wurde mit der Wiederwahl Bushs die Hoffnung auf Erneuerung und Änderung sowie die Betonung auf mehr Menschlichkeit auf später verschoben. Es gibt aber auch Stimmen, die einen Richtungswechsel in der amerikanischen Außenpolitik hin zu mehr Verständnis und sachlicher Auseinandersetzung für möglich halten. Bush müsse sich nicht um eine Wiederwahl bemühen und könne deswegen eine andere Politik betreiben. Als erstes Anzeichen eines möglichen Paradigmenwechsels in der amerikanischen Außenpolitik wurde in der Türkei die Anerkennung der „Vormaligen Jugoslawischen Republik von Mazedonien“ als „Republik Mazedonien“ durch die USA bewertet. Dies wurde mit großer Genugtuung aufgenommen, weil bisher nur die Türkei die Republik Mazedonien anerkannte. In der Presse wird auch darüber spekuliert, dass die USA womöglich die „Türkische Republik Nord Zypern“ bald anerkennen würde, um für die Türkei eine spätere mögliche Einrichtung eines kurdischen Staates im Irak erträglicher zu gestalten.

Info-Mail

Die Bundesregierung hat 7 Millionen Euro für Baumaßnahmen für die Deutsche Schule in Istanbul zur Verfügung gestellt. Das Gebäude soll damit umfangreich gegen eventuelle Erdbeben gesichert werden. Ein Vertreter des Schulvorstands teilte mit, dass ein Neubau mit diesem Geld zwar auch finanzierbar sei, jedoch wolle man die historische Bausubstanz bewahren und ein Umbau wäre deswegen sehr teuer geworden. +++ Nach einer Befragung des Staatlichen Statistikinstituts benutzen nur ca. 20% der türkischen Bürger einen Computer. Mehr Frauen (42.31%) als Männer (34.11%) würden sich an den Rechner setzen. 43.9% benutzen den PC dienstlich und 37.4% privat. +++ Nach der Währungsumstellung zum 1. Januar 2005 werden insgesamt 1.600 Tonnen alter Banknoten von der türkischen Zentralbank eingesammelt. Die Zentralbank überlegt, ob - nachdem die Tinte und andere Bestandteile entfernt wurden - die Geldscheine als Industrieabfall für die Parkett- und Möbelherstellung sowie im Straßenbau wieder verwendet werden können. +++ Nach Informationen des türkischen Parlamentspräsidiums gaben die Abgeordneten und der Parlamentpräsident in den vergangenen zwei Jahren insgesamt ca. 1,5 Mio. Euro für Auslandsreisen aus. Parlamentspräsident Bülent Arınç war mit 14 Auslandsreisen dabei der mit Abstand reisefreudigste +++ Nach einer Untersuchung von AC Nielsen über die Konsumgewohnheiten der Türken sind in den vergangenen 12 Monaten (Stand August) insgesamt ca. 4,8 Milliarden Euro für kurzlebige Konsumgüter ausgegeben worden (77.7% für Nahrungsmittel, 13,2% für individuelle Pflege und 9,1% für Putzmittel). Bei den individuellen Pflegemitteln stechen mit 15,8% Babywindeln besonders hervor +++ Nach Angaben des Aufsichtsratsvorsitzenden der Metro AG, Hans-Joachim Körber, will sein Unternehmen in den nächsten Jahren insgesamt 300 Millionen Euro in der Türkei investieren. Die Metro AG hat in den vergangen bereits Jahren 550 Mio. Euro in der Türkei investiert und 24 Einkaufsmärkte eröffnet. Die Metro ist in der Türkei mit ihrem Ketten Metro Großmarkt, Real-Hypermarkt und dem Baumarkt Praktiker vertreten. Die Türkei sei in ruhigeres Fahrwasser geraten, die Inflation einstellig und die Zinsen seien ebenfalls niedrig. Die Türkei wäre für ausländische Unternehmen ein bedeutender Markt. Körber lobte auch das Tempo und die Reformfreude in der Türkei +++ Ab dem nächsten Jahr wird es bei der Inflationsberechnung in der Türkei einschneidende Neuerungen geben. Die Warenkörbe der beiden wichtigen Preisindizes TÜFE (Verbraucherpreisindex) und TEFE (Großhandelspreisindex) werden aktualisiert. Anstelle von z.B. Beerdigungskosten, Gebühr für den Besuch eines türkischen Bades (Hamam), Mückengift, Schraubenzieher und Zigarettenmarken, die es gar nicht mehr gibt, sollen Produkte wie Handys, Internetanschlussgebühren, Pferdewetten, Kindergartengebühren, U-Bahn Tickets und CDs neu aufgenommen werden. Damit will man den veränderten Konsumgewohnheiten in der Türkei Rechnung tragen. Zudem wird als Basisjahr nicht mehr das Jahr 1987, sondern das Jahr 1998 herangezogen. Bei der Berechnung des Nationalen Einkommens wird man die Standards des European System of Accounts heranziehen. Mit diesem neuen System wird eine Erhöhung des türkischen statistischen Volkseinkommens von 35%-45% erwartet. +++ Tourismus in der Türkei im Aufwind. Die Zahl der Touristen zwischen Januar und Oktober hat sich im Vergleich zum Vorjahr um rund 25% erhöht. In den ersten zehn Monaten des Jahres 2004 kamen r und 23% aller Touristen aus Deutschland, gefolgt von den Russen mit rund 10%. +++ In den Medien wurde über eine mögliche Verschmelzung der Mutterlandspartei (ANAP) und der Partei des Rechten Weges (DYP) spekuliert. Erste Gespräche zwischen den beiden Parteivorsitzenden sollen bereits stattgefunden haben. +++

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