Länderberichte
Wahlen ohne Auswahl
Es gibt kaum Institutionen der Zivilgesellschaft, die ein Gegengewicht bilden könnten. Das will nicht heißen, daß die Wahlen selbst nicht ordnungsgemäß durchgeführt wurden. Im allgemeinen haben die internationalen Wahlbeobachter gute Noten gegeben, wobei sie natürlich auch nur den eigentlichen Wahlvorgang beobachten können und nicht die Vor- und Nachbereitungen. Hiesige kritisch eingestellte Politiker halten eine künstlich vorgenommene Stimmenmehrung von 5-6 % für wahrscheinlich und halten es für wichtig, daß in Zukunft auch ausländische Computerexperten bei der Einspeisung und Weiterleitung der Stimmergebnisse mit eingeschaltet werden.
Wahlergebnisse in den Regionen
In seiner Vaterstadt Sankt Petersburg hat Putin 62 % der Stimmen erhalten, Sjuganow 16,87 %, Jawlinskij 10,58 %, Schirinowkij 2 %. Um sich politisch in Moskau nicht noch unbeliebter zu machen, als dies bereits der Fall ist, rief der hiesige Gouverneur Jakowlew wiederholt zum Urnengang und zur Wahl Putins auf.
Aus dem Leningrader Gebiet liegen noch keine genauern Wahlergebnisse vor, nur der Hinweis, daß Putin dort noch besser abgeschnitten haben soll.
Im Gebiet Nowgorod soll Putin über 80 % der Stimmen erhalten haben Das ist auch nicht erstaunlich, denn der dortige wie ein Autokrat regierende Gouverneur Prussak hat sich extrem stark für die Wahl engagiert. Er gehört übrigens zu den Gouverneuren, die sich für eine Einsetzung der Gouverneure durch den Präsidenten ausgesprochen haben d.h. für die Abschaffung von demokratischen Gouverneurswahlen.
Die Gouverneure, die zur Nordwest-Assoziation gehören (u. a. Archangelsk, Murmansk, das Leningrader Gebiet, die Stadt Sankt Petersburg, Nowgorod) hatten sich Mitte Januar bei einem Treffen mit dem Präsidentschaftskandidaten Putin in Petrosawodsk ausdrücklich für die Wahl Putins zum Präsidenten ausgesprochen und ihm ihre Unterstützung zugesagt. Erwartungsgemäß schnitt Putin in der Nordwest-Region überdurchschnittlich gut ab.
Putins hartes Vorgehen in Tschetschenien macht sich auch auf andere Weise bezahlt: so haben 80 % der Streitkräfte für ihn gestimmt und sogar 98 % der in Tschetschenien stationierten Truppen.
Ein ungewöhnlich ruhiger Wahlkampf
Das eigentlich Ungewöhnliche war die Art, wie der Wahlkampf geführt wurde. Ich habe noch nie so einen unspektakulären Wahlkampf erlebt - kaum Skandale, keine politischen Morde, ganz anders als sonst. Hier in Sankt Petersburg gab es keine Wahlplakate der anderen Kandidaten, lediglich ein Bild von Putin mit einem Brief an die Wähler. Der Wahlkampf wurde hauptsächlich über das Fernsehen geführt, wobei der amtierende Präsident es nicht für nötig hielt, sich irgendwelchen Fernsehdiskussionen mit seinen Rivalen zu stellen. Er ließ auch keine Werbespots ausstrahlen. Er sei schließlich kein Produkt wie "Tampax" oder "Snickers". Dafür war aber die Hälfte der täglichen Nachrichtensendungen von Berichten über seine Tätigkeiten eingenommen: Putin im Kampfjet, Putin auf dem Panzer, Putin bei Ordensübergaben an verdiente Militärs, Putin mit Tony Blair beim Besuch der Oper "Krieg und Frieden", Putin im Waisenhaus usw. Es war nur allzu klar, welches Bild man von ihm projizieren wollte. Hinzu kamen einige Fernsehfilme über den "wahren" Putin, über Kindheit und Jugend des kleinen "Wowa" (Diminutiv von Wladimir). Es erinnerte stark an den Persönlichkeitskult um Lenin, der ja sinnigerweise auch Wladimir hieß, sodaß man jetzt schon von Wladimir 1 und Wladimir 2 spricht.
Bis auf Sjuganow, der sich auf die gut geölte Maschinerie der Kommunistischen Partei stützen konnte, hatten es die anderen Kandidaten nicht so leicht. Der Liberale Jawlinskij, der einen recht erfolgreichen und aggressiven Wahlkampf führte, wurde von dem staatlichen Fernsehsender ORT beschuldigt, von Ausländern (insbesondere der Ebert-Stiftung und der Naumann-Stiftung) unterstützt zu werden, außerdem von Homosexuellen und Juden. Hier zeigte sich ein ganz offener antisemitischer Propagandafeldzug gegen Gusinskij, den Eigentümer des einzigen unabhängigen Fernsehsenders NTV. Dieser ist der Regierung schon lange ein Dorn im Auge, weil er kritisch über den Krieg in Tschetschenien berichtet.