Länderberichte
Bereits Anfang Mai 2004 verabschiedete das türkische Parlament problemlos eine zehn Punkte umfassende Verfassungsänderung. Staatspräsident Sezer bestätigte das Reformpaket am 21. Mai 2004 mit seiner Unterschrift. Meinungsverschiedenheiten zwischen AKP und der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP) gab es nur zu Beginn der parlamentarischen Beratungen. Die CHP forderte, die teilweise Abschaffung der Immunität der Parlamentarier in der Verfassung zu verankern.
Die Verfassungsreform beinhaltet wichtige Forderungen der EU zur Harmonisierung des gemeinsamen Rechtsstands. Vor dem Hintergrund der heftigen Kontroversen um die gesetzliche Neuregelung des Türkischen Hochschulrates (siehe dazu KAS-Bericht vom 15. Mai 2004) ging diese wichtige Verassungsänderung in der öffentlichen Wahrnehmung jedoch fast völlig unter. Auch wenn das Reformpaket weitgehend formal juristische Konsequenzen vorheriger Verfassungsänderungen zum Inhalt hatte, enthält es aber auch einige wichtige Neuerungen. Gerade diese unterstreichen die anhaltenden Reformbemühungen der Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP). Außenminister Abdullah Gül bezeichnete mit der Durchsetzung dieser Verfassungsänderungen den Prozess zur Erfüllung der politischen Kopenhagener-Kriterien als damit abgeschlossen.
Verfassungsänderungen in der Türkei müssen zweimal vom Parlament verabschiedet werden, wobei zwischen dem Ende der ersten und dem Beginn der zweiten Abstimmung mindestens 48 Stunden liegen müssen. Erhält die Verfassungsänderung nicht die vorgeschriebene Unterstützung von mindestens Zweidritteln der Parlamentarier, führt dies - vorausgesetzt der Staatspräsident legt dagegen kein Veto ein - automatisch zu einem Referendum.
Das 8. Reformpaket wurde jedoch eindeutig mit 514 von 550 Stimmen vom Parlament verabschiedet. Dies zeigt deutlich die Übereinstimmung zwischen der regierenden AKP und der oppositionellen CHP. Bei der zweiten Abstimmung brachte die CHP zwei Änderungsanträge ein, über die aber nur kurz debattiert wurde.
Die wichtigsten Punkte der Verfassungsänderung
Das Reformpaket enthält einige Änderungen hinsichtlich der rechtlichen Gleichstellung von Mann und Frau, der Liberalisierung des Strafrechts und der Medienarbeit sowie eine weitere Reduzierung der Kompetenzen des Militärs.
Der wichtigste Reformpunkt ist jedoch die Abschaffung der türkischen Staatssicherheitsgerichte. Vor diesen Gerichten wurde vor über einem Jahr auch die Anklage gegen die deutschen Stiftungen verhandelt. Türkische Juristen fordern schon seit vielen Jahren die Abschaffung der Staatssicherheitsgerichte, die nach dem letzten Eingreifen des Militärs im Jahre 1982 eingerichtet wurden. Viele Strafrechtsparagraphen, für deren Anwendung nur die Staatssicherheitsgerichte zuständig waren, wurden in den letzten 15 Jahren ohnehin gestrichen. Die anhängigen Verfahren dieser Sondergerichte sollen voraussichtlich neu zu gründenden „Höheren Strafgerichtshöfen“ übertragen werden. Die Staatssicherheitsgerichte bleiben solange bestehen, bis diese neuen Gerichtshöfe geschaffen worden sind. Fraglich bleibt deshalb, ob es so wirklich zu rechtlichen Verbesserungen kommt. Einige Rechtsexperten in der Türkei bezeichnen die Abschaffung der Staatssicherheitsgerichte als reine Augenwischerei, da die neuen Höheren Strafgerichtshöfe die gleichen Kompetenzen haben sollen und es so lediglich zu einer Namensänderung kommen könne.
Die Todesstrafe wurde nun endgültig aus der Verfassung gestrichen und die rechtlichen Grundlagen des Türkischen Hochschulrats wurden refomiert. Künftig darf das Militär keinen Vertreter mehr in dieses Gremium entsenden. Dies bedeutet, dass der Staatspräsidenten die ihm vorliegende Aenderung des Türkischen Hochschulratsgesetzes nıcht unterzeichnen kann, da der vorliegende Text noch die Beibehaltung dieses Privileg des Militärs vorsieht.
Ein weiterer Kompetenzverlust für das türkische Militär bedeutet eine Ausweitung der Aufgaben des türkischen Rechnungshofs. Dieser ist nun auch für die Militärausgaben zuständig, die bisher aus übergeordnetem nationalem Interesse einer strengen Geheimhaltungspflicht unterlagen. Nicht selten wurde der Ankauf von Militärgerät vom Generalstab erst danach dem Finanzminister mitgeteilt. Für das Jahr 2004 reduzierte die Regierung seit langer Zeit den Militärhaushalt. Erstmals sind damit die Bildungsausgaben höher als die für Verteidigung.
Ferner wurde die rechtliche Gleichstellung von Mann und Frau in der türkischen Verfassung ausdrücklich verankert. Einige Parlamentarierinnen der CHP forderten in einem Änderungsantrag darüber hinaus die „positive Diskriminierung“ von Frauen. Von den 550 Abgeordneten des Türkischen Parlaments sind nur 24 Frauen (13 AKP und 11 CHP). In einigen Bereichen, z.B. im Hochschulsektor, sind sie aber überrepräsentiert. Die Politik in der Türkei ist jedoch die Domäne der Männer.
Des weiteren kam es zu einer einschneidenden Liberalisierung für den Medienbereich: Die rechtlichen Möglichkeiten der staatlichen Schließung oder Beschlagnahme von Druckereien wurde vollständig aufgehoben.