GERB hatte damit geworben, Bulgarien gut durch die Coronakrise gesteuert zu haben, auf immer noch gute makroökonomische Daten, auf die Modernisierung der Infrastruktur. Aber das Wahlergebnis zeigt, dass der von der Opposition erhobene Vorwurf, GERB bekämpfe die Korruption im Land nicht entschlossen und sorge nicht ausreichend für Rechtsstaatlichkeit, Wirkung gezeigt hat. Zudem sorgt nicht nur die Coronakrise für allgemeine Unzufriedenheit. In den traditionellen Parteien aber sehen die Bulgaren diesbezüglich überhaupt keine Alternative, die BSP (Bulgarische Sozialistische Partei) verlor dramatisch, die Nationalisten und die populistische Wolja-Partei scheiterten an der 4 %-Hürde. Punkten konnten hingegen drei politische Formationen, die bisher nicht im Parlament vertreten waren, sie alle setzten die Themen „Korruptionsbekämpfung“ und „Rechtsstaatlichkeit“ an die Spitze ihrer Agenda.
Von diesen wurde die Partei „Es gibt so ein Volk“ sogar zweitstärkste Kraft im Parlament. Sie wird von Slawi Trifonow angeführt, einem in Bulgarien allseits bekannten TV-Moderator, Entertainer und Sänger, der noch nie ein politisches Amt oder Mandat bekleidet hat. Die Partei kam auf 17,73 % der Stimmen, Meinungsforscher hatten ihr lediglich zwischen 11,9 und 13,3 % vorausgesagt. Trifonow hat es im Wahlkampf vermieden, eindeutige politische Aussagen zu machen, im Internet forderte seine Partei, Bulgarien müsse ein „freies Land“ werden, in dem die Bürger entscheiden und die Politiker ausführen, sozial Schwache sollen kostenlose Medikamente, Essensmarken und Energie für ihre Wohnungen erhalten, Familien mit Kindern sollen Steuererleichterungen gewährt werden, der Generalstaatsanwalt direkt vom Volk gewählt werden, das Parlament drastisch verkleinert, die Wahlkampfkostenerstattung für Parteien verringert werden. „Es gibt so ein Volk“ jagte insbesondere der BSP und den Nationalisten Stimmen ab, 33 % der Wähler dieser Partei sind 30 Jahre alt oder jünger (GERB 12 %, BSP 7 %), zudem punktete sie bei Auslandsbulgaren, bei denen sie einen Stimmenanteil von 30 % erzielte und bei bisherigen Nichtwählern. Angesichts der schwach ausgebildeten Programmatik dieser Partei ist es überraschend, dass 51 % ihrer Wähler einen höheren Bildungsabschluss haben.
Für die BSP (Bulgarische Sozialistische Partei) war die Wahl ein Debakel, sie kam gerade noch auf 15,02 % der Stimmen, 2017 hatte sie noch 27,2 % erzielt. Meinungsforscher hatten sie mit einem Ergebnis zwischen 23,2 % und 23,9 % auf Rang 2 gesehen. Die Partei verlor über 12 % im Vergleich zur letzten Wahl, ihr Stimmenanteil bei den Auslandsbulgaren betrug lediglich 6 %. Die BSP wird traditionell stärker von älteren Menschen gewählt, von denen etliche diesmal nicht an der Wahl teilnahmen. Erkennbar wird die BSP nicht als Alternative von Bürgern wahrgenommen, die mit der jetzigen Regierung unzufrieden sind. Die Führung der BSP sieht als Ursache für die Verluste hingegen die parteiinternen Auseinandersetzungen, die der Öffentlichkeit das Bild fehlender Ge-schlossenheit vermitteln. Die Parteivorsitzende Kornelia Ninowa erklärte am Tag nach der Wahl, im Amt bleiben zu wollen, die übrigen Mitglieder des Exekutivkomitees erklärten hingegen ihren Rücktritt.
Die inoffizielle Partei der türkischen Minderheit DPS („Bewegung für Rechte und Freiheiten“) erzielte 10,34 %, 2017 waren es 9 %. Die Partei dürfte mit diesem Ergebnis nicht sonderlich zufrieden sein, denn Meinungsforscher hatten mit einem Wähleranteil zwischen 11,5 % und 12,5 % gerechnet. Immerhin zeigt das Ergebnis aber, dass die DPS sich auf die Stimmen von mehr als 2/3 der Angehörigen der türkischen Minderheit fest verlassen kann.
Neu in Parlament einziehen wird das Wahlbündnis „Demokratisches Bulgarien“, das aus drei Parteien besteht: „Ja, Bulgarien“ unter Führung von Hristo Iwanow, ehemals Justiz-minister in einer GERB-geführten Regierung, den „Demokraten für ein starkes Bulgarien“ (EVP-Mitglied) unter Vorsitz von Atanas Atanassow sowie den bulgarischen Grünen. Das Bündnis erzielte 9,52 % der Stimmen, deutlich mehr als die von den Meinungsfor-schern prognostizierten 5,6 % bis 6,5 %, in der Hauptstadt Sofia wurde es die stärkste Kraft, in den drei Wahlkreisen der Stadt erzielte es 29 %, 24 % bzw. 16 %, bei den Auslandsbulgaren betrug der Stimmenanteil des Wahlbündnisses 18 %. Von den Wählern des „Demokratischen Bulgarien“ haben 78 % einen höheren Bildungsabschluss.
Eine weitere neu im Parlament vertretene Partei wird „Aufstehen! Fratzen Raus“ unter Führung der früheren BSP-Parlamentsabgeordneten und späteren Ombudsfrau Maja Manolowa sein, die 4,74 % der Stimmen erzielte. Obwohl sich prominente Organisatoren der Demonstrationen gegen die Regierung im vergangenen Jahr dieser Partei angeschlossen hatten, konnte sie nicht den Großteil der Proteststimmen auf sich vereinen. Fast 2/3 der Wähler von „Aufstehen! Fratzen Raus“ sind Frauen.
Alle anderen Parteien blieben unter der 4 %-Hürde, darunter die nationalistische WMRO (Innere Mazedonische Revolutionäre Organisation) unter dem Vorsitz von Verteidigungsminister Krassimir Karakatschanow, die auf 3,7 % kam, das Wahlbündnis der nationalistischen NFSB (Nationale Front zur Rettung Bulgariens) und der populistischen Wolja-Partei erzielte 2,4% und die „Republikaner für Bulgarien“ unter dem ehemaligen Innenminister und GERB-Fraktionsvorsitzenden Zwetan Zwetanow, die lediglich 1,27 % erhielten. Insgesamt stimmten mehr als 16 % der Wähler für Parteien, die nicht im Parlament vertreten sein werden.
Die Verteilung der 240 Sitze im Parlament wird erst in einigen Tagen offiziell bekanntgegeben, GERB kann mit ca. 75 Sitzen rechnen, „Es gibt so ein Volk“ mit 52, die BSP mit 43, die DPS mit 29, Demokratisches Bulgarien mit 27, und „Steh auf! Fratzen raus!“ mit 12.
Die Wahlbeteiligung lag Medienangaben zufolge bei 47,5 %, die Zentrale Wahlkommission hat noch keine offizielle Zahl veröffentlicht.
Obwohl nur sechs Fraktionen dem neuen Parlament angehören, wird eine Regierungsbildung außerordentlich schwierig werden.
Staatspräsident Rumen Radew wird zunächst mit allen Parteien bzw. Fraktionen Gespräche führen, anschließend muss er GERB/SDS als der stärksten Kraft den Auftrag erteilen, eine Regierung zu bilden, die dafür sieben Tage Zeit hat. Als Koalitionspartner käme aber wohl nur die DPS in Betracht, aber ein solches Bündnis hätte allein keine Mehrheit, rein theoretisch hätte auch ein Bündnis GERB/SDS, DSB sowie BSP oder „Es gibt so ein Volk“ die erforderliche Anzahl von Parlamentssitzen, aber diese Parteien haben ebenso wie alle anderen im Parlament vertretenen einer Zusammenarbeit mit GERB eine klare Absage erteilt. Es ist auch mehr als zweifelhaft, dass sich andere Parteien - jedenfalls zu diesem Zeitpunkt - auf den Vorschlag Borissows einlassen, eine „Expertenregierung“ zu bilden.
Dann käme Slawi Trifonows „Es gibt so ein Volk“ zum Zug, auch sie hätte sieben Tage Zeit, eine Regierung zu bilden, allerdings hat die Partei immer wieder eine Koalition mit GERB, BSP und DSP ausgeschlossen, und ohne eine solche ist eine Parlamentsmehrheit nicht zu erzielen. Sollte Trifonow von dieser Haltung abrücken, würde er viele seiner Wähler verprellen, zudem gibt es die Einschätzung, dass seine Partei bei einer Neuwahl noch mehr Stimmen erringen könnte.
Sollte es Trifonow nicht gelingen, eine Regierung zu bilden, könnte Staatspräsident Radew nach freier Wahl eine der anderen vier Parlamentsfraktionen damit beauftragen. Es läge nahe, diesen Auftrag der BSP als drittstärkster Kraft zu erteilen, mit deren Hilfe Radew zudem ins Amt des Staatspräsidenten gelangt ist. Die Verfassung gibt für diesen dritten „Anlauf“ keinen zeitlichen Rahmen vor, die BSP profitiert also ironischerweise davon, nur drittstärkste Kraft geworden zu sein. Eine BSP-geführte Regierung dürfte aus-geschlossen sein, nicht völlig aber eine „Expertenregierung“, auf deren Zusammensetzung auch die BSP Einfluss nehmen könnte. Während dieses Stadiums könnten Parteien auch von ihrer Absage an eine Zusammenarbeit mit anderen Parteien abrücken, wenn sie sich von einer Neuwahl kein besseres Ergebnis versprechen.
Scheitert die Regierungsbildung, weil es den Parteien nicht gelingt, sich zu einigen oder weil eine vorgeschlagene Regierung bei der vorgeschriebenen Vertrauensabstimmung im Parlament keine Mehrheit erzielt, ernennt der Staatspräsident eine Übergangsregie-rung und es wird eine Neuwahl des Parlaments innerhalb von zwei Monaten anberaumt. Staatspräsident Radew dürfte an einem solchen Ergebnis gelegen sein, denn in diesem Fall könnte er sich im Vorfeld der im September stattfindenden Präsidentschaftswahl, bei der er erneut antritt, mit „seiner Regierung“ profilieren.
Die Präsidentschaftswahl und ggf. auch eine Parlamentsneuwahl werden im Übrigen auch Einfluss auf die bulgarische Haltung zu einer Zustimmung von Beitrittsverhandlungen Nordmazedoniens mit der EU haben. Zwar sind die Nationalisten aus dem Parlament geflogen, aber nationalistische Töne sind auch von anderer Seite zu hören und finden bei nicht wenigen Bulgaren Anklang, wer sich ihnen entgegenstellt, geht ein nicht zu unterschätzendes Risiko ein.
Angesichts der Herausforderungen, die die Coronakrise und die anstehenden Entscheidungen im Hinblick auf den „Green Deal“ und den „Recovery Fund“ der EU bieten, wäre Bulgarien Stabilität zu wünschen. Zunächst aber steht das Land vor einer Zeit der Unsicherheit, und niemand kann absehen, wann diese zu Ende sein wird.