Länderberichte
Am 21. März 2018 fanden in den meisten der 380 Gemeinden der Niederlande die Kommunalwahlen statt. Es ist die erste Wahl nach der Regierungsbildung im letzten Jahr und somit die erste Chance einer Bewertung der neuen Regierung durch die Wähler. Neben den meist lokalen Themen spielte das Thema „Identität“ gemeindeübergreifend eine bedeutende Rolle. Der CDA bleibt größte Partei in den Niederlanden. GroenLinks gewinnt in den Großstädten hinzu. Rotterdam wird von den Populisten dominiert. Zeitgleich zur Gemeinderatswahl fand ein Referendum über die Reform des Nachrichten- und Geheimdienstgesetzes statt.
Hintergrund
Insgesamt wurden knapp 12,5 Millionen Wähler in 335 von 380 Gemeinden zur Wahl aufgerufen. Die Restlichen haben bereits gewählt bzw. wählen im nächsten Jahr. Dies hat mit der Neuzusammensetzung einiger Gemeinden zu tun. Insgesamt schrumpft die Zahl der Gemeinden in den Niederlanden seit Jahren - 1996 gab es noch 642. Ein Grund dafür sind die stetigen Gebietsreformen, im Rahmen derer viele Gemeinden zusammengelegt wurden. In Groningen, Friesland und Gelderland stimmten eine Reihe von Gemeinden bereits im November letzten Jahres ab, da sie am 1. Januar 2018 fusionierten. Gewählt wurde nunmehr der Gemeinderat, der das oberste Organ der Gemeinde darstellt. Seine Größe bemisst sich an der jeweiligen Einwohnerzahl: Der kleinste Gemeinderat besteht aus 9 Personen (bei Gemeinden mit bis zu 3.000 Einwohnern), der Größte aus 45 Personen (über 200.000 Einwohner). Die jeweiligen Bürgermeister stehen bei den Kommunalwahlen nicht zur Wahl.
In den Niederlanden sind neben den Niederländern auch EU-Bürger sowie Personen aus Nicht-EU-Ländern, die mehr als fünf Jahre im Land leben, zur Kommunalwahl berechtigt. Ein sichtbares Merkmal der (Kommunal-) Wahlen in den Niederlanden sind die riesigen Stimmzettel. Auf diesen sind zum Teil über 100 Parteien aufgeführt, was ein deutlicher Indikator für ein großes Problem in der niederländischen Politlandschaft ist: die Zersplitterung. Diese zeigt sich eben auch auf kommunaler Ebene. So gibt es in einigen Städten Koalitionen mit mehreren Parteien (z.B. Den Haag: bis März 2018: D66, PvdA Haagse Stadsparteij, VVD, CDA).
Besonders hervorzuheben ist bei dieser Wahl die große Anzahl junger Kandidaten. Hier fällt vor allem der CDA positiv auf. Von 8.109 Kandidaten insgesamt stehen über 700 junge Kandidaten des CDA zur Wahl. Mehr als bei jeder anderen Partei. Der CDA ist zudem die landesweit am stärksten vertretene Partei in den Gemeindewahlen. In 332 von 335 Gemeinden stehen Kandidaten auf dem Wahlzettel. Bei den drei verbleibenden Gemeinden handelt es sich um sehr kleine, in welchen sich lediglich lokale Parteien zur Wahl stellen. Auf Platz zwei und drei liegen die Sozialdemokraten (PvdA in 320 Gemeinden) und die Rechtsliberalen von Ministerpräsident, Mark Rutte (VVD) mit 315 Gemeinden.
Rotterdam polarisiert
In der Berichterstattung über die Kommunalwahlen nimmt Rotterdam eine herausgehobene Stellung ein. Dies liegt zum einen an der Größe der Stadt (mit ca. 635.000 Einwohnern die zweitgrößte Stadt hinter Amsterdam). Zum anderen an den unterschiedlichen Konfliktpunkten, die sich aus der grundsätzlichen Konstitution der Stadt ergeben. Seit Jahrzehnten ist der Migrationsanteil in Rotterdam besonders hoch. Nach der Wirtschaftskrise verloren viele Einwohner ihren Arbeitsplatz. Obwohl die Stadt seit einigen Jahren mit einer verstärkten Sicherheits- und innovativen Wohnungs- und Sozialpolitik den Problemen zu begegnen versucht, herrscht Unmut bei der Bevölkerung. Vornehmlich gründet sich dieser auf der zunehmenden demographischen Veränderungsprozess der Stadt. Diese verursacht höhere Mieten und Wohnungsknappheit (beinahe die Hälfte der Wohnungen in Rotterdam sind Sozialwohnungen). Zudem hat sich seit Zeiten des 2002 erschossenen Rechtspopulisten, Pim Fortuyn, das rechtspolitische Wählerpotenzial konsequent erhöht. Fortuyn gründete eine rechtspopulistische Partei, deren Nachfolger „Leefbar“ (zu Deutsch: Lebenswert) seitdem mit ca. 30 Prozent fester Bestandteil der Rotterdamer Kommunalpolitik ist. Die Partei kämpft seit jeher gegen die sog. „Multi-Kulti-Lüge“. Auch für Geert Wilders (PVV) ist Rotterdam besonders wichtig. Bei den letzten Provinzwahlen 2015 wurde seine Partei stärkte Kraft; bei den letztjährigen Parlamentswahlen errang sie den zweiten Platz.
Baudet als rechter Emporkömmling
Besondere Brisanz gewinnt die Wahl, besonders in Rotterdam jedoch auch in den Niederlanden insgesamt, durch die Beteiligung des „Forum voor Democratie“ (FvD). Diese noch recht junge Partei (Gründungsjahr 2016) errang im letzten Jahr bei den Parlamentswahlen auf Anhieb zwei Sitze. Ihre Popularität steigt seitdem maßgeblich. Mittlerweile nähert sich die Partei den Umfragewerten der PVV an. Der Vorsitzende des FvD, Thierry Baudet, gilt als neuer Hoffnungsträger der Rechtspopulisten. Sinnbildlich kann man ihn als Wolf im Schafspelz beschreiben. Er geht inhaltlich zum Teil noch schärfer als Wilders gegen alles „Nicht-Niederländische“ vor, ist jedoch salonfähiger als Wilders. Baudet gilt als Intellektueller. Anders als Wilders brüstet er sich mit seiner gutbürgerlichen Herkunft. Er spricht damit vor allem viele Studenten und junge Menschen an. Die Jugendorganisation der Partei verzeichnete im ersten Monat nach ihrer Gründung nach eigener Aussage ganze 3.000 Neumitglieder. Eine enorm hohe Zahl für ein recht kleines Land wie die Niederlande. Das Kernthema von Baudet lautet „Freiheit“. Dies bezieht er auf die vorherrschende politische Korrektheit, die den Leuten vorschreibt, was sie zu sagen haben. Er fordert über Volksentscheide mehr direktere Demokratie und eine stärkere Fokussierung auf die Interessen der Niederländer.
Ein Zusammenschluss vom FvD und der PVV ist jedoch nicht absehbar, im Gegenteil. Sie konkurrieren vielmehr um die Wählerschaft. Auf die Ankündigung von Wilders besondere Aufmerksamkeit auf die Kommunalwahl (auch in Rotterdam) zu legen, schloss das FvD eine Allianz mit Leefbar. Anders als noch in der letzten Kommunalwahl ist die PVV in 30 Gemeinden (zuvor in zwei) wählbar. Das FvD stellt sich lediglich in Amsterdam zur Wahl (mit Ausnahme der Rotterdamer Allianz).
Ergebnisse (Stand 22.03.2018)
Die Wahlbeteiligung lag mit 54,8 Prozent knapp über jener der letzten Jahre (2014: 53,8 Prozent; 2010: 53,9 Prozent). Wie vor vier Jahren erlangten auch dieses Mal die lokalen Parteien, im landesweiten Überblick, die meisten Stimmen (kumuliert: 32,8 Prozent). Die meisten Stimmen für eine Einzelpartei entfielen auf die Christdemokraten vom CDA mit 13,5 Prozent. Dies stellt eine leichte Verschlechterung um 0,8 Prozent zum Wahlergebnis von vor vier Jahren dar. Dies ist die erste Wahl nach der Regierungsbildung. Die größten Gewinne konnte die Partei in den südlichen Provinzen Noord-Brabant (+22,1 Prozent in Boekel und +18,5 Prozent in Mill en Sint Hubert) und Limburg (+13,1 Prozent in Gennep) erzielen. Am meisten Stimmen verlor die Partei in der Landesmitte (bzw. im Nordwesten), in den Provinzen Utrecht, Noord-Holland und Gelderland (jeweils zwischen 12 Prozent und 17 Prozent). Die Großstädte bleiben weiterhin ein „Sorgenkind“ der Christdemokraten. In der Hauptstadt Amsterdam gewann man zwar 0,9 Prozent der Stimmen hinzu. Im Vergleich zur stärksten Partei in Amsterdam (GroenLinks: 19,7 Prozent) ist man mit 3,4 Prozent jedoch weit abgeschlagen. Die Großstädte fielen größtenteils GroenLinks zu (führend in Amsterdam; vorgenannt und Utrecht; 22,8 Prozent). In Nijmegen erzielte die Partei ihr zweitbestes Ergebnis (24,8 Prozent). Landesweit ist GroenLinks der nominal größte Gewinner der Wahl mit einem Zugewinn von 3,2 Prozent (auf insgesamt 8,4 Prozent). Für die Sozialdemokraten bedeutet das Ergebnis einen weiteren Tiefschlag. Sie verloren erneut 2,8 Prozent (nach bereits knapp 5 Prozent in der letzten Gemeinderatswahl von vor vier Jahren). Damit reiht sich die PvdA auch auf regionaler Ebene in den euro-paweiten Sinkflug der sozialdemokratischen Parteien in Europa ein. Den größten Verlust der im nationalen Parlament vertretenen Parteien mussten die linksliberalen der D66 hinnehmen. Sie verloren 3 Prozent und kommen im Gesamtergebnis auf 8,9 Prozent.
In Rotterdam konnten Liberale, Sozial- und Christdemokraten nur knapp 25 Prozent der Stimmen auf sich vereinen. Für Parteien, die sich nach wie vor als klassische Volksparteien verstehen, sollte das Ergebnis Anlass zur Reflexion bieten. Durch die Bildung einer Allianz zwischen Leefbar und dem FvD in Rotterdam ist eine Fortführung des Dreierbündnisses mit D66 und dem CDA sehr unwahrscheinlich. Baudet leistete sich im Wahlkampf einen Streit mit dem Parteivorsitzenden der D66, Alexander Pechthold. Baudet weigerte sich in einer gemeinsamen Radiosendung aufzutreten - Pechthold würde ihn „ständig dämonisieren“, so Baudet. Trotz der Allianz mit dem FvD verlor Leefbar deutlich mit 6,7 Prozent. Ungeachtet dessen reichte es für den Sieg in Rotterdam mit 20,8 Prozent. Das Forum erhielt im Gesamten doppelt so viele Stimmen wie die zweitplatzierte VVD. Der Parteivorsitzende von Leefbar, Joost Eerdmans, sagte nach der Wahl, dass man nun ein breites Bündnis aus VVD, D66, PvdA und GroenLinks anstrebe. In Amsterdam, der einzigen Gemeinde, in der sich das Forum zur Wahl stellte, erhielt es 4,9 Prozent und landete damit vor dem CDA.
Die PVV von Geert Wilders konnte sich zwar in allen 30 Gemeinden, in denen sie antrat, einen Sitz im Gemeinderat erkämpfen, doch hatte Wilders vor der Wahl auf mehr gehofft. Im Vergleich zur letztjährigen Parlamentswahl verlor er an Zustimmung. Hatte er doch nach den Parlamentswahlen im letzten Jahr all sei-ne Konzentration auf diese Wahlen gelenkt. In Almere, wo die PVV die letzten vier Jahre die Koalition anführte, verliert sie 7,4 Prozent und fällt auf den dritten Platz zurück. Auch in Den Haag verliert sie fünf der sieben Gemeinderatssitze und landet sogar noch hinter der Tierschutzpartei (PvdD). Die PVV verliert allerdings nicht nur. So erreicht sie die fünf größten Zugewinne, regional breit verteilt, in Nord-Brabant: 20,3 Prozent; in Zuid-Holland: 13,5 Prozent; in Groningen 12,6 Prozent und in Zeeland: 11,9 Prozent.
Ausblick
In den Umfragen sah es lange Zeit so aus, als würden die Liberalen von Premierminister Mark Rutte (VVD) als stärkste Kraft aus den Gemeindewahlen hervorgehen. Stand: 22. März fielen sie mit 0,2% knapp hinter den CDA zurück.
Eine Grundtendenz aus dieser Wahl ist, dass die politische Landschaft in den Niederlanden mehr und mehr zersplittert. Die Tatsache, dass in der zweitgrößten Stadt des Landes die klassischen Volksparteien (VVD, CDA und PvdA) auf gerade einmal ein Viertel der Stimmen kommen, zeugt von dieser Zersplitterung. Vor 40 Jahren kamen die drei am stärksten vertretenden Parteien (CDA, PvdA und VVD) landesweit auf über 70 Prozent aller Stimmen. Vor vier Jahren war es gerade noch 37 Prozent. Dieses Jahr beträgt der Anteil 34,1 Prozent.
Dass nicht alle Parteien flächendeckend präsent waren, verstärkt die Bedeutung der vielen kleinen, lokalen Parteien. Ihr Anteil steigt stetig. Dass der CDA, neben der VVD, die stärkste Partei im Land wurde, untermauert seinen eigenen Anspruch, als lokal verwurzelte Volkspartei zu gelten. Dessen Parteimitglieder sind traditionell stark regional- bzw. kommunalpolitisch engagiert. Dies wird vor allem unter jungen Leuten deutlich. Die Tatsache, dass die Partei die meisten jungen Kandidaten stellte, untermauert dies. Fraktionsführer, van Haersma Buma sagte noch am Wahlabend: „Das erste Bild ist ein Bild der weiteren Zersplitterung und des Zugewinns lokaler Parteien. Obwohl es große Unterschiede zwischen den Gemeinden gibt, haben wir als CDA die Spitzenposition halten können, darauf können wir stolz sein!“ Auch Mark Rutte äußerte sich positiv: „Ein tolles Ergebnis!“
Identität als brisantes Thema
Wie auch schon bei der Parlamentswahl im Jahr 2017 ist das Thema „Identität“ für die Wähler ein besonders Wichtiges. Dies wird auch durch die große Aufmerksamkeit, welche dem FvD bzw. Thierry Baudet zuteilwird deutlich. Obwohl die Partei sich nur in Rotterdam zur Wahl stellt, also im Grunde genommen eine rein lokale Partei ist, befindet sie sich im nationalen Wettkampf mit der PVV bzw. Geert Wilders. Dies wird wohl kaum dazu führen, dass die Debatte als in naher Zukunft beendet erklärt werden kann. Auch wenn Wilders und Baudet im Gesamtklassement keine sehr bedeutende Rolle spielen, so sind sie doch in der öffentlichen Wahrnehmung immer wieder präsent. Dass sich das Thema Populismus nicht von heute auf morgen erledigt haben wird, zeigt nicht nur die Langlebigkeit von Geert Wilders. Gerade die Gemeindewahl hat gezeigt, dass eine Lokalpartei wie „Leefbar“, die in Rotterdam seit vielen Jahren starke Ergebnisse holt, kein kurzfristiges Phänomen ist. Schon im letzten Jahr versuchte man, den Rechtspopulisten etwas Wind aus den Segeln zu nehmen. Man beschloss, dass jedes Kind mindestens einmal ins Amsterdamer Rijksmuseum gehen und zudem die niederländische Nationalhymne auswendig lernen soll. Ob dies auf Dauer reichen wird, ist fraglich.
Referendum
Zeitgleich zu den Gemeinderatswahlen fand in einem Großteil der Gemeinden ein Referendum über das Nachrichten- und Geheimdienstgesetz statt. Dieses stammt aus dem Jahre 2002 und soll nun reformiert werden. Es ist im Hinblick auf die Nutzung des Internets und neuer Technologien veraltet. Konkret: Den Diensten sollen weitere Rechte in der Datenspeicherung und dem Sammeln von Daten eingeräumt werden. Gegner der Kampagne befürchten eine Einschränkung ihres Datenschutzes. Ergebnis: 49,5 Prozent sind gegen die Reform des Gesetzes; 46,5 Prozent dafür. Nur niederländische Staatsbürger konnten über die neue Gesetzgebung abstimmen (im Gegensatz zu den Gemeindewahlen).
Bemerkenswert: Die nördlichen Provinzen Groningen, Friesland und Drenthe stimmten fast geschlossen gegen die Reform des Gesetzes. Insbesondere stimmten die jüngeren Wähler (18 - 24 Jahre) mit knapp 60 Prozent dagegen. Die allgemeine Wahlbeteiligung lag hier bei 51,6 Prozent. Es bedarf einer Wahlbeteiligung von 30 Prozent insgesamt, damit das Referendum wirksam wird. Bindend ist es für die Regierung nicht.
Der Widerstand gegen die neue Gesetzgebung scheint größer zu sein, als Meinungsforscher im Vorhinein vorausgesagt hatten. So waren einige Prognosen von einem Verhältnis von 60 zu 40 zwischen Befürwortern und Gegnern ausgegangen. Sollte das Gegenlager das Referendum für sich entscheiden, wird die Regierung, die das Gesetz verteidigt, es noch einmal überdenken müssen. Die Regierungsparteien hatten bereits angekündigt, dass sie unabhängig vom Ausgang des Referendums, das Gesetz weiterentwickeln wollen.