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Reuters / Gleb Garanich

Länderberichte

Die drei Baltischen Staaten: Politische und gesellschaftliche Auswirkungen ein Jahr nach Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine

von Oliver Morwinsky, Daiga Krieva, Sveta Pääru, Fausta Simaityte

Entschlossenheit und Einigkeit

Der unprovozierte Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine hat in allen drei Baltischen Staaten zu großer Entschlossenheit und Einigkeit geführt. Für alle drei Staaten ist der Krieg in der Ukraine auch ein Krieg für die eigene Freiheit. Die Unterstützung ist daher sowohl politisch als auch gesellschaftlich enorm groß. Den Ländern ist bewusst, dass Freiheit einen Preis hat. Man setzt sich geschlossen für die Ukraine ein (Sieg und Beitritt zu westlichen Organisationen) und fordert ein mutiges Umgehen mit Russland und seinen Verbrechen. Weitreichende Folgen sind im Bereich der Verteidigung, der Energie sowie im Um-gang mit den eigenen Gesellschaften zu beobachten.

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Der unprovozierte Angriff Russlands auf die Ukraine hat in allen drei Baltischen Staaten starke Reaktionen hervorgerufen. Maßgeblich waren diese gekoppelt an die eigenen Erinnerungen – und damit verbunden auch an Befürchtungen – der eigenen Geschichte. Insbesondere der Okkupation durch die Sowjetunion. Dies hält auch nach über einem Jahr Krieg in der Ukraine an.

 

Vom Beginn des russischen Einmarsches in die Ukraine haben alle drei Staaten umfassende politische, militärische, finanzielle und humanitäre Hilfe an die Ukraine geleistet. Prozentuell gesehen gehören Lettland und Estland, was die militärische Hilfe betrifft, mit 1% des BIP zu den führenden Staaten weltweit. Die lettische Gesamthilfe beläuft sich auf 409,8 Millionen Euro, darunter u.a. 370 Millionen für militärische Hilfe und 19,7 Millionen Spenden der Zivilgesellschaft. Auch Litauen wendet in Relation zum eigenen BIP große Summen auf, um die Ukraine nachhaltig zu unterstützen. So belief sich die Gesamthilfe für die Ukraine im Jahr 2022 auf 660 Mio. €, davon fielen 240 Mio. € für Militärhilfe an. In Estlands beträgt die militärische Hilfe an die Ukraine etwa 370 Mio. Euro.

 

Große politische Unterstützung

Auch politisch wurden früh Zeichen gesetzt. So waren die drei baltischen Parlamentsvorsitzenden zu Beginn des Krieges die ersten hochrangigen Besucher, die die Ukraine bereist haben. Daran schlossen sich regelmäßige Besuche hochrangiger politischer Vertreter in den Folgemonaten an.

Ebenso haben die drei Parlamente deutlich Stellung bezogen: Die lettische Saeima hat als erstes nationales Parlament die Handlungen Russlands gegen das ukrainische Volk als Genozid bezeichnet. Das litauische Parlament (Seimas) hat als erstes Parlament Russland als terroristischen Staat benannt. Alle drei Länder eint die Unterstützung der Ukraine zum Beitritt der NATO sowie der EU. Die Baltischen Staaten gehören zu den Architekten der europäischen Sanktionspolitik. Gemeinsam treten sie dafür ein, dass die Sanktionen auch nach dem Rückzug der russischen Truppen vom Territorium der Ukraine bestehen bleiben sollen. Russland müsse zudem für den Wiederaufbau der Ukraine bezahlen. Aus Estland wurden im Rahmen des letzten Europäischen Rates Forderungen erhoben, privates Eigentum von Russen, die auf der Sanktionsliste stehen und welches sich in Europa befindet, zu monetisieren und zum Wiederaufbau der Ukraine zu nutzen.

 

Ein weitere gemeinsame Initiative aller drei Staaten ist die Bildung eines internationalen Tribunals zur Untersuchung von Kriegsverbrechen russischer Soldaten in der Ukraine. Man betont zudem, dass es hierbei um die Verurteilung aller Verantwortlichen gehen muss. Dies steht dem Vorschlag von Außenministerin Bärbock entgegen, in welchem die höchsten Verantwortlichen aufgrund bestehender Immunitäten nicht belangt werden können.

Die bilateralen Beziehungen zu Russland wurden eingestellt oder auf das Minimale reduziert. Der Abzug von Botschaftspersonal, inklusive der Botschafter, wurde teilweise bis vollständig vollzogen.

 

Herausragende zivilgesellschaftliche Unterstützung

Die politische Unterstützung der Ukraine fußt auf einer jeweils landesweit vorhandenen Zustimmung in den Bevölkerungen. Es verdeutlicht die Tatsache, dass alle Länder den Kampf der Ukraine auch als ihren eigenen sehen.

 

Alle drei Staaten haben, relativ zu ihren Bevölkerungsgrößen, einen großen Zulauf von ukrainischen Flüchtlingen zu verzeichnen. Estland liegt hier EU-weit an der Spitze mit knapp 62.000 Flüchtlingen. Litauen liegt auf Platz sechs mit ca. 70.000 und Lettland auf Platz acht mit ca. 102.000 (alle Zahlen jeweils in Relation zur Bevölkerungsanzahl).

 

In allen drei Staaten haben mehrere Spendenaufrufe zum Kauf von u.a. Kampfdrohnen, medizinischem Material oder Stadtverkehrsbussen großen Zuspruch erfahren. Anfang Februar wurde beispielsweise in Litauen ein Spendenrauf zum Kauf von Radarsystemen gestartet. Innerhalb von nur fünf Tagen kamen knapp sechs Millionen Euro zusammen. In Bezug auf die Einwohnerzahl Litauens, sind dies ca. zwei Euro pro Einwohner.

 

Etwaige Entbehrungen, wie steigende Preise oder der Ausfall von öffentlichen Veranstaltungen werden kritiklos hingenommen. Man weiß wofür man es tut.

 

Bekämpfung von Desinformation

Zur Bekämpfung der von der russischen Regierung ausgehenden Desinformation, plant die litauische Regierung die Einrichtung eines neuen Zentrums. Dieses Zentrum soll die Tätigkeit auf regionaler, nationaler und internationaler Ebene koordinieren. Dabei sollen neben dem Militär auch andere Bereiche, wie der öffentliche, der Wirtschafts- und der Energiesektor eingebunden werden.

 

In Estland wurde im Dezember 2022 ein Cyberlabor zur Verbesserung der Widerstandsfähigkeit der Cyberverteidigungseinheiten der ukrainischen Kräfte (UAF) von der estnischen e-Governance Academy (eGA) und CybExer Technologies im Rahmen eines EU-finanzierten Projekts installiert.

Vor allem die östlichen Landesteile von Estland und Lettland sind mit dem großen Anteil von russischsprachigen Menschen, ein „beliebtes“ Ziel von russischer Desinformation.

 

Folgen des Krieges: Verteidigung, Energie und Inflation

Die Folgen des Krieges sind in den Baltischen Staaten vielseitig. Allen voran soll die eigene Verteidigungsfähigkeit verstärkt werden. So soll in Estland das Verteidigungsbudget bis 2024 auf drei Prozent, in Lettland bis 2027 und in Litauen auf absehbare Zeit, erhöht werden. Lettland wird zudem bis Mitte 2023 den militärischen Landesverteidigungsdienst wiedereinführen. In Estland kommt es ab dem nächsten Schuljahr (2023/2024) zur landesweiten Einführung des Landesverteidigungsunterrichts.

Ebenso ist das Interesse für das private Engagement im Bereich der Verteidigung stark gestiegen. Die Zahl der Mitglieder der freiwilligen Verteidigungsverbände ist seit dem 24. Februar in allen drei Ländern im vierstelligen Bereich gestiegen.

 

Auch beim Thema Energieversorgung bzw. –abhängigkeit gehen die drei Baltischen Staaten mit Beispiel voran. So war Litauen das erste Land in Europa, das die Einfuhr russischer Energielieferungen, d.h. Öl, Strom oder Erdgas, gänzlich eingestellt hat. Derzeit wird der Gasbedarf über das LNG-Terminal in Kleipėda mit Ladungen aus den USA gedeckt. Der Strombedarf wird durch lokale Stromerzeugung und Importe aus anderen EU-Ländern kompensiert. Auch in den beiden anderen Staaten herrscht ab dem 1. Januar 2023 ein Gasimportverbot aus Russland. Zudem wird die Synchronisierung der jeweiligen Elektronetze mit den europäischen Netzen bis 2025 verstärkt vorangetrieben. Auch der Bau von weiteren LNG-Terminals ist geplant.

 

Bedingt unter anderem durch den Umstieg auf Flüssigerdgas und den Anstieg der Energiepreise, gehören alle drei Baltische Staaten zu den europäischen Ländern, die am stärksten von der Inflation betroffen sind. Die Raten liegen seit mehreren Monaten zwischen 20 und 22 Prozent. Das sind teils die höchsten Jahresraten seit 1996.

 

Umgang mit der Vergangenheit und der Landessprache

Auch im Rahmen des innergesellschaftlichen Diskurses hat es Veränderungen gegeben. In allen drei Ländern existierten bis zum 24. Februar 2022 eine Reihe von Denkmälern, die an die Sowjetzeit und vor allem die „Befreiung“ der Sowjetunion von der Nazi-Herrschaft erinnern. Vor allem der Umstand, dass insbesondere die Zeit der sowjetischen Okkupation als eben eine solche und nicht als „Befreiung“ wahrgenommen wird, hat dazu geführt, dass mit Ausbruch des Krieges ein Ventil geöffnet wurde. In relativ kurzer Zeit kam es in allen drei Staaten zum Abbau von einem Großteil dieser Denkmäler. Dies ist Teil der fortlaufenden und mitnichten schon abgeschlossenen Vergangenheitsbewältigung.

Ein weiterer Aspekt ist die Sprache. Sowohl in Lettland als auch in Estland, wo jeweils große russische Minderheiten (zwischen 20 und 25 Prozent der jeweiligen Gesamtbevölkerung) leben, wurden Gesetze verabschiedet, die die Etablierung der Landessprache in allen Schulen zum Ziel hat. Mit einer Übergangsfrist versehen, soll es dazu führen, dass vor allem in den jeweiligen östlichen Landesteilen der beiden Länder, die Schulbildung primär in der Landessprache stattfindet. Derzeit existieren viele Gemeinden und Institutionen in den Ländern, in denen ausschließlich russisch gesprochen und auch teils unterrichtet wird. Mit dem Angriff auf die Ukraine, haben sich die Länder dazu entschlossen, das Thema Integration durch Sprache weiter voranzutreiben. Vom Großteil der Gesellschaften wird dies unterstützt, wenngleich es auch warnende Stimmen gibt, die vor einer grundlegenden Verbannung der russischen Sprache warnen. Man müsse den Nachbarn auch verstehen um mit ihm umgehen zu können, so eine Ansicht. Der Umgang mit diesem Thema wird die Länder und Gesellschaften noch einige Zeit beschäftigen.

 

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