Prolog der Koalitionsverhandlungen
Zum ersten Mal in der Geschichte Montenegros hat eine Mehrheit von 46 der insgesamt 81 Abgeordneten für einen Premierminister gestimmt. Allerdings ist diese starke Unterstützung für Milojko Spajić nicht auf sein politisches Gewicht zurückzuführen. Vielmehr ist es ein Ergebnis eines langwierigen, ermüdenden Verhandlungsprozesses für eine neue Regierungskoalition. Der politisch noch unerfahrene Milojko Spajić sieht sich vor der zentralen Herausforderung, eine Regierungskoalition, die von insgesamt 10 Parteien getragen wird, auch mittelfristig zu halten.
Parlamentswahlen und Koalitionsverhandlungen
Bei den vorgezogenen Parlamentswahlen am 11. Juni 2023 errang die Bewegung Europa Jetzt unter der Führung des früheren Finanzministers Milojko Spajić 24 Mandate. Die Demokratische Partei der Sozialisten (DPS), die jahrzehntelang vom Langzeit-Präsidenten Milo Djukanović angeführt wurde, gewann 21 Mandate, das Bündnis „Für die Zukunft Montenegros“ (ZBCG) der früheren pro-serbischen Demokratischen Front und anderer Parteien 13, die Demokraten 7, die Bosniakische Partei 6, die Bürgerbewegung URA von Dritan Abazović 4, die Sozialistische Volkspartei (SNP) und das Albanische Forum jeweils 2, während die Kroatische Bürgerinitiative und die Albanische Koalition jeweils 1 Mandat gewinnen konnten.
Nach Konsultationen mit den im Parlament vertretenen Parteien erteilte Staatspräsident Jakov Milatović (Stv. Vorsitzender der Bewegung Europa Jetzt) am 10. August seinem Parteikollegen Milojko Spajić den Auftrag zur Regierungsbildung. Dafür war eine Unterstützung von mindestens 41 Abgeordneten notwendig.
Noch am Wahlabend hatte Spajić angekündigt, aufgrund politischer Differenzen auf keinen Fall mit der Djukanović-Partei DPS oder der Abazović-Partei URA koalieren zu wollen. Somit blieben zwei Alternativen. Zum einen war eine pro-europäische Koalition ohne DPS, URA und dem pro-serbischen Bündnis ZBCG denkbar. Diese war die bevorzugte Option für Spajić, der eine pro-europäische Regierung mit einem klaren Bekenntnis zur NATO-Mitgliedschaft Montenegros bilden wollte. Vertreter westlicher Partnerländer, wie Deutschlands und der USA, signalisierten Zuspruch für diese Vorgehensweise. Insbesondere das pro-serbische Wahlbündnis ZBCG reagierte entrüstet, da es die Pläne von Spajić als einen Versuch bewertete, den serbischen Bevölkerungsteil politisch auszugrenzen. Gleichzeitig kam es im Verhandlungsprozess innerhalb der pro-europäischen Parteien zu Meinungsverschiedenheiten. Postengeschacher überschattete dabei teilweise alles andere.
Bemerkenswert ist, dass Identitätsfragen sowohl während der Präsidentschaftswahlen im April dieses Jahres als auch im Verlauf der Parlamentswahlen kaum eine Rolle spielten. Die Frage, wer sich als Serbe oder Montenegriner bezeichnet, wurde erst während der Koalitionsverhandlungen wieder thematisiert.
In diesem Sinne schaltete sich Staatspräsident Jakov Milatović in die öffentliche Diskussion um die Regierungsbildung ein und warb für die Einbeziehung des pro-serbischen Bündnisses ZBCG. Es kam zu einem Machtkampf innerhalb der noch jungen Bewegung Europa Jetzt, die Premierminister Milojko Spajić zunächst für sich gewann. Der gesamte Vorstand sprach sich für einen Ausschluss des pro-serbischen Bündnisses aus einer möglichen Regierung aus. Im Anschluss daran entzogen jedoch zwei Abgeordnete von Europa Jetzt Ihre Unterstützung für das von Spajić vorangetriebene Koalitionsvorhaben. Somit fehlten ihm die notwendigen Stimmen im Parlament. Wochenlang herrschte eine Pattsituation zwischen den beteiligten politischen Parteien. Abstruse Falschmeldungen und gegenseitige Vorwürfe in den Medien erschwerten dabei die Suche nach Lösungen. Beobachter in Podgorica sahen schon erneute Neuwahlen am Horizont aufziehen.
Der Durchbruch
Zur Überraschung vieler verkündete Milojko Spajić Mitte Oktober nach einer letzten Verhandlungsrunde die endgültige Zusammensetzung der Regierungskoalition. Diese wird von der Bewegung Europa Jetzt, den Demokraten, der Sozialistischen Volkspartei, den albanischen Minderheitenparteien sowie dem pro-serbischen Bündnis „Für die Zukunft Montenegros“ gestützt. Letzteres ist nicht unmittelbar an der Regierung beteiligt. Allerdings wurde Andrija Mandić, einer der profiliertesten Figuren aus dem ZBCG-Bündnis, der Posten des Parlamentspräsidenten zugesprochen. Des Weiteren wurden ihnen insgesamt 40 führende Positionen in der staatlichen Verwaltung und Staatssekretärsposten zugesagt. Zudem soll es in einem Jahr eine Regierungsumbildung geben, bei der dann das Wahlbündnis ZBCG auch mit Ministerien bedacht werden soll.
Wer kriegt was?
Die neue Regierung besteht aus dem Premierminister, fünf Vizepremierministern und 19 Ministerinnen und Ministern. Neben dem Amt des Premierministers hat Europa Jetzt 10 Ministerposten besetzt, darunter die Ministerien für Auswärtiges, Europäische Angelegenheiten, Justiz, Finanzen, Gesundheit, Energie, Raumplanung, Verkehr, Bildung und Soziales.
Die Demokraten haben neben zwei Vizepräsidentenposten auch vier Ministerien erhalten, darunter das Innen-, Verteidigungs-, Tourismus- und Umweltressort sowie das Ministerium für Kultur und Medien. Die pro-serbische Sozialistische Volkspartei hat zwei Ministerien aus der bisherigen Regierung behalten: Landwirtschaft und Forstwirtschaft sowie Sport und Jugend. Die albanischen Parteien erhielten ebenfalls zwei Ressorts: das Ministerium für Menschen- und Minderheitenrechte sowie öffentliche Verwaltung. Zudem besetzen sie einen stellvertretenden Ministerpräsidentenposten.
In der Opposition bleiben die Demokratische Partei der Sozialisten, die Sozialdemokraten, die Liberale Partei, die Minderheitsparteien der Bosniaken und Kroaten sowie die Bewegung URA von Dritan Abazović.
Wohin soll die Reise gehen?
Vor der Plenarsitzung legte Milojko Spajić dem Parlament das Arbeitsprogramm der neuen Regierung vor. Dabei bekräftigte er, dass seine Regierung den sozialen Zusammenhalt und die nationale Einheit im Land stärken und Montenegro zur „Schweiz des Balkans“ und zum „Singapur Europas“ machen wolle. Spajić kündigte an, dass sich Montenegro unter seiner Regierung auf vier außenpolitische Hauptprioritäten konzentrieren werde: die Vollmitgliedschaft in der EU, eine aktive und glaubwürdige NATO-Mitgliedschaft, die Verbesserung der Beziehungen zu den Nachbarstaaten und ein stärkeres Engagement in multilateralen Organisationen. Der Premierminister versprach außerdem, der Besetzung höchster Richter- und Staatsanwaltsposten Priorität einzuräumen, um die Rechtsstaatlichkeit zu festigen und bereits lang andauernde Reformprozesse im Justizbereich voranzubringen. Insgesamt fehlen derzeit 40 Staatsanwälte, was auch mit Blick auf den weiteren Kampf gegen die weit verbreitete Organisierte Kriminalität ein nicht zu vernachlässigender Umstand ist. In dem flächenmäßig kleinen Adria-Staat sind zurzeit 94 Staatsanwälte im Dienst. Spajić kündigte an, ein Sondergericht zur Bekämpfung von Organisierter Kriminalität, Korruption auf hoher Ebene, Geldwäsche und Kriegsverbrechen zu bilden. Zudem sollen neue polizeiliche Strukturen geschaffen werden, um die Ermittlungskapazitäten vor allem für Finanzdelikte zu stärken. Diese sollen mit einer Sonderstaatsanwaltschaft eng zusammenarbeiten.
Im Regierungsprogramm sind erhebliche Investitionen in Reformen vorgesehen, die durch einen höheren Anteil von EU-Mitteln gestemmt werden sollen. Die Regierung beabsichtigt, sich auf den Aufbau eines modernen, effizienten und integrativen Bildungssystems, die Verbesserung der Qualität der Bildungsinfrastruktur und Investitionen in Wissenschaft, Forschung und Innovation zu konzentrieren. Darüber hinaus sind erhebliche Investitionen im Energiebereich und die Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur vorgesehen. Es bleibt abzuwarten, wie realistisch die Gegenfinanzierung dieser wichtigen Projekte erfolgen soll und kann.
Im Bereich der wirtschaftlichen Reformen liegt der Schwerpunkt auf einer umfassenden Steuerreform, die darauf abzielen soll, die Steuergrundlage zu erweitern. Dadurch sollen neue Steuereinnahmequellen geschaffen werden, die die Umsetzung des Programms von Europa Jetzt ermöglichen soll. So ist unter anderem die Anhebung des Durchschnittslohns auf 1000 Euro und der Mindestrente auf 450 Euro vorgesehen. Zudem soll die 40-Stunden-Arbeitswoche auf 35 Stunden reduziert werden.
Beitrittsverhandlungen wieder „aufnehmen“
Seit 2012 führt Montenegro Beitrittsverhandlungen mit der EU und kann rein formell betrachtet eine beachtliche Zwischenbilanz vorweisen. Mit 33 von 35 geöffneten und davon drei vorläufig abgeschlossenen Verhandlungskapiteln ist Montenegro im Vergleich zu den anderen 5 Westbalkan-Ländern der am weitesten fortgeschrittene Staat im EU-Integrationsprozess. Allerdings ist in den vergangenen drei Jahren nichts Wesentliches im Verhandlungsprozess geschehen. Die 33-jährige Maida Gorčević, die nun als Europaministerin die Beziehungen zu Brüssel gestalten wird, muss neuen Schwung in die europapolitische Agenda bringen und sich schnell in die neue Aufgabe einarbeiten.
Umstrittener Bevölkerungszensus
Kurz nach der Wahl der Regierung hat diese als erste Amtshandlung den umstrittenen Bevölkerungszensus um 30 Tage verschoben. Inmitten der intensiven Koalitionsverhandlungen hatte der geschäftsführende Premierminister Dritan Abazović die Durchführung eines Bevölkerungszensus angekündigt. Hintergrund war, dass die letzte statistische Erhebung 2011 stattfand und die gesetzliche 10-Jahresfrist zur erneuten Durchführung während der COVID-19-Pandemie verstrichen war. Vertreter der Zivilgesellschaft, der ethnischen Minderheiten und einiger Parteien sahen in der Volkszählung eine Gefahr für die Zunahme innergesellschaftlicher Spannungen und die Verbreitung von Nationalismus. Im Kern geht es um die Frage, wie stark die Gesellschaftsgruppe ist, die sich als serbisch erklärt. 2011 haben sich 44,98 % als Montenegriner und 28,73 % als Serben bezeichnet. Vertreter einiger pro-serbischer Parteien bringen immer wieder an, dass sie etwa bei der Verteilung von Posten in der öffentlichen Verwaltung bewusst übergangen werden. Die neue Regierung hat nun Zeit, die noch offenen 1700 Stellen für die Interviewer im Rahmen des Zensus zu besetzen und weitere Maßnahmen zu unternehmen, um die Transparenz und das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in den Prozess zu stärken. Zu bedenken ist, dass insgesamt eine halbe Million Montenegrinerinnen und Montenegriner im Ausland leben. Ihre Selbstwahrnehmung sollte beim Zensus ebenfalls einbezogen werden.
Ausblick
Es ist ein großer Erfolg für Milojko Spajić, dass er es geschafft hat, eine Regierung zu bilden, die von 10 inhaltlich zum Teil sehr unterschiedlichen Parteien getragen wird. Die Regierung hat eine umfassende Reformagenda vor sich. Für die Umsetzung werden lagerübergreifende politische Mehrheiten notwendig sein. Es bleibt abzuwarten, wie sich das pro-serbische Bündnis in den kommenden Wochen und Monaten positionieren wird. Es wäre wünschenswert, wenn Premierminister Spajić und Staatspräsident Milatović an der Reformagenda gemeinsam arbeiten würden. Einzelinteressen sollten hintenangestellt werden. Zudem ist es wichtig, dass Montenegro durch die neue Regierung wieder geeint und nicht weiter gespalten wird. Um einer weiteren Destabilisierung und Blockade Montenegros vorzubeugen, sollten sich diesem übergeordneten Ziel alle Institutionen vorrangig widmen.