Veranstaltungsberichte
Am 26. Dezember 2010 entschied die Regierung Evo Morales, die Subvention der Kraftstoffpreise abzuschaffen und diese um bis zu 80% anzuheben. Diese Maßnahme war laut der offiziellen Sprecher eine „Preisanpassung“, von Organisationen und Bewegungen der Zivilgesellschaft wird sie jedoch als „Gasolinazo“ bezeichnet. Aufgrund vehementer, konfliktgeladener Demonstrationen vor allem in La Paz, El Alto und Cochabamba musste die Regierung die unpopuläre Maßnahme am 31. Dezember 2010 wieder zurücknehmen. Der Gasolinazo führte jedoch zu einem Anstieg der Warenpreise, der bisher nicht zurückgegangen ist und vor allem die in Armut lebenden Bevölkerungsteile trifft. Die so verursachte breite Unzufriedenheit hat sogar Organisationen angesteckt, die die Regierung unterstützen, diese nun aber zum ersten Mal in fünf Jahren in Frage stellen. Dies wird unweigerlich Einfluss auf die Politik und den Prozess des „cambios“ (dt. Wandel) haben.
Iván Velásquez, Koordinator der KAS Bolivien, der die Willkommensworte sprach, bewertete den Gasolinazo als das letzte bedeutende Ereignis des vergangenen Jahres und verwies auf die politischen und wirtschaftlichen Fehler, die diesen verursacht haben.
Im Anschluss stellte Marcelo Varnoux, Präsident der Bolivianischen Assoziation der Politikwissenschaft (ABCP), die Gruppe und ihre Ziele kurz vor, um im Folgenden das Thema und seine Reichweite zu erläutern. Er, wie viele politische, wirtschaftliche und soziale Akteure, qualifiziert den Gasolinazo als eine neoliberale und in dieser Weise widersprüchliche Maßnahme zur ideologischen Orientierung der Regierung. Ihm stellten sich dabei zwei zentrale Fragen im wirtschaftlichen und politischen Kontext:
A) Wirtschaftspolitik
Der Gasolinazo vom Dezember 2010 hat Verschiedenes aufgedeckt: An erster Stelle, dass die Regierung der MAS nicht über eine fähige Wirtschaftspolitik verfügt, um das neue Wirtschaftsmodell, welches in der Verfassung des Staates festgeschrieben ist, umzusetzen.
An zweiter Stelle hat sich offenbart, dass die Verstaatlichung der Kohlenwasserstoffe gescheitert ist, da die Produktionskapazität Boliviens seit 2006 ununterbrochen gesunken ist, wohingegen die Importausgaben für Treibstoffe (Benzin, Diesel, Flüssiggas) von etwas mehr als 150 Millionen Dollar 2006 auf 600 Millionen Dollar 2010 gestiegen sind. Präsident Evo Morales selbst hat bekannt gegeben, dass sich die Kosten 2011 auf eine Milliarde Dollar erhöhen werden.
Es existiert somit ein Widerspruch zwischen der offizielle Propaganda und der Realität. Bolivien hat von der Hochpreiskonyunktur für Rohstoffe (Kohlenwasserstoffe und Mineralien) profitiert, aber hat es nicht geschafft eine Petroleumindustrie entwickeln, die fähig ist, die Selbstversorgung mit Brennstoffen zu sichern und die Rolle als Gasmacht, die es vor einigen Jahren gezeigt hat, zu festigen.
Wie war es möglich, dass dieses wirtschaftliche Desaster sicht ereignete? Und: Wie sieht die Zukunft der nationalen Wirtschaft als Folge der Form, wie diese von der Regierung verwaltet wird, aus.
B) Zum politischen Einfluss
Der Gazolinazo hat aber auch eine Art Trennung zwischen der marxistischen Führungsspitze und der sozialen Basis, die die Regierung Evo Morales unterstützt, gezeigt. Anders kann man die harte Reaktion der Menschen gegenüber der Maßnahme, die ihre Geldbeutel betraf und die mit übertriebener Arroganz vom Vizepräsident García Linera angekündigt wurde, nicht erklären.
Sicher ist, dass verschiedene soziale, gewerkschaftliche und indigene/bäuerliche Organisationen, die der MAS nahestehen, eine interne Krise durchleben, weil ihre Führer, der Bürokratie loyal gegenüber, sich nicht gegen die Regierung stellen aber auch nicht die Unzufriedenheit der Basis übergehen können.
In diesem Sinne, erleiden die Regierung selbst und die Führungsriege den stärksten politischen Einfluss und befinden sich momentan in einer prekären Situation. Zusammenfassend stellt sich die Frage: Inwiefern können die Bürokratie und Evo Morales selbst noch an eine Wiederwahl 2014 denken? Kann man behaupten, dass sich das Land in einen Zustand der Konfliktgeladenheit und wachsenden sozialen Unzufriedenheit befindet, was mittelfristig zu einer Krise führen kann, ähnlich der, die den Bruch mit den „traditionellen“ Parteien bedeutete?
„Alles verändern, um nichts zu ändern“
Die Mehrheit der Geladenen war sich einig, dass die Wurzel des Gasolinazo im Fehlen einer koherenten Wirtschaftspolitik zu suchen ist und das Scheitern des Projekts der Nationalisierung der Kohlenwasserstoffe die Probleme in diesem Sektor offenbart hat. Einige Analysisten argumentierten, dass in der Verfassung kein alternatives Wirtschaftsmodell zum Neoliberalismus präsentiert wird und zahlreiche Widersprüche und Fehler existieren, die die Glaubwürdigkeit der Regierung auf Dauer angriffen.
Die Fokusierung auf die Ausbeutung von natürlichen Ressourcen und vor allem von Erdgas stellen einen Versuch dar, den Staat finanziell zu sanieren. Diese „Obsession für das Gas“ und die Nationalisierung wurde von den Anwesenden wiederholt als Spiel mit den Mythen Boliviens bezeichnet, wonach gemäß der Legende des „Cerro Rico“ (dt. Reicher Berg) natürliche Rohstoffe und Nationalisierung allgemeinen Wohlstand bringen sollten. Diese Politik wird jedoch als Neoextraktivismus wahrgenommen, welcher in sich dem Neoliberalismus nicht unähnlich ist. Dennoch ist die Regierung nicht bereit ihre Fehler einzugestehen und sucht nach Schuldigen für die Krise. Durch die Veröffentlichung von widersprüchlichen und wenig transparenten Informationen und Anspielungen darauf „Bolivien geht es gut“, überraschte die Maßnahme die Bevölkerung und beeinflusste die Wirtschaft. Die starke Reaktion der Zivilgesellschaft überraschte wiederum die Regierung, welche davon ausgegangen war, dass die Bevölkerung den Preisanstieg verkraften könnte.
Die Geladenen stimmten auch darin überein, dass das Finanzdefizit des Staates aufgrund der ineffiziente Wirtschaftspolitik und dem Import von Benzin stetig steigt, was ein mittel- bis langfristiges Problem bleiben wird. Im Bezug auf den neuen Finanzpakt wird daher die subnationale Koordination bedeutend und proportional zur Transparenz sein. Sollte die Regierung mit der aktuellen Wirtschaftspolitik fortfahren und die politisch-ideologische Agenda an erste Stelle stellen, wird dies negativen Einfluss auf die Wirtschaft haben.
„Jeder darf beschuldigt werden, außer der Präsident.“
Nach Meinung der Anwesenden markiert der Gazolinazo einen Wendepunkt in der Sichtweise, die die Bevölkerung auf die Regierung hat. Spätestens im Dezember wurde die Diskrepanz zwischen Diskurs und Realität deutlich. Die Wirklichkeit zeigt, dass mit einigen wenigen Ausnahmen, Boliviens strukturelle Probleme in den fünf Jahren der Regierung Evo Morales nicht zurückgegangen sind.
Die Teilnehmer äußerten sich kritisch über die kulturell bedingte hohe Folgebereitschaft der Bevölkerung nach einem líder (dt. Führer) und dem leichten Spiel, welches Populisten daher haben. Evo Morales erschien so bis zum Gasolinazo unantastabar, hat durch diese Maßnahme aber an Glaubwürdigkeit und Autorität verloren und ist gewissermaßen entmythifiziert worden.
„Regierung ohne Kompass“
Bis 2009 hatte die Regierung eine klare Idee ihrer ideologischen Ziele und ihre Politik erschien eindeutig. Die wirtschaftliche Schwäche hat jedoch aufgezeigt, dass die „Frage nicht nur ist, wohin man gehen will sondern ob man es auch kann“. Angesichts der gescheiterten Nationalisierungspolitik und des Vertrauensverlusts der Bevölkerung erscheint die Regierung orientierungslos. In Anbetracht der starken Mobilisierung der Bevölkerung, wird die politische Zukunft schwierig für sie werden, wenn sie ihre Richtung nicht ändert und bald Ergebnisse präsentiert.
„Die Rückgabe der Macht an die Straße, an die Menschen“
Ein großes Problem, das in der einen oder anderen Form fast alle Anwesenden ansprachen, ist das Fehlen an politischen Alternativen. Der Gasolinazo zeigt das deutlich, weil er den Kräften der Oposition eine Möglichkeit gegeben hatte, welche diese jedoch nicht zu nutzen wussten. Die Problematik dabei ist, dass weder ein alternatives Modell zum Plurinationalen Staat, noch konkurrenzfähige Opositionsparteien oder ein Parteiensystem allgemein existieren. Trotz dieses Mangels an Parteienorganisation, wollen die Massen spürbare Veränderungen und werden in Zukunft auch ohne alternatives Projekt auf die Straße gehen. Gerade das aktuelle Vakuum kann jedoch auch eine Möglichkeit darstellen. Um aber eine nachhaltige Demokratie zu schaffen, bedarf es einer tiefgreifenden Reform derselben.
Veränderungen sind notwendig und werden stattfinden, jedoch sehr wahrscheinlich ohne Evo Morales aber mit einem Teil der MAS, wie der Gazolinazo gezeigt habe, so die abschließende Meinung eines Analysisten.