Veranstaltungsberichte
Auch die Wahl des Themas der Veranstaltung liegt in der bolivianischen Konjunktur
begründet. Im Jahr 2009 erlebte die rechtsprechende Gewalt in Bolivien den Höhepunkt
einer tiefen Krise. Die letzte amtierende Verfassungsrichterin, Silvia Salame, trat im
Mai 2009 zurück, da das Verfassungsgericht bereits seit 2007 ohne Quorum und somit
arbeitsunfähig war. Auch der Oberste Gerichtshof verlor aufgrund von Rücktritten
mehrerer Richter im Jahr 2009 sein Quorum. Im Februar 2010 erließ die bolivianische
plurinationale gesetzgebende Versammlung ein Gesetz, dass den Präsidenten Evo
Morales befähigte, die Vakanzen im Obersten Gerichtshof, dem Verfassungsgericht und
dem Justizrat zu besetzen. Die Ernennungen der höchsten Richter durch den Präsidenten
verursachten massive Kritik in der Zivilgesellschaft, da man um die Unabhängigkeit der
Judikative fürchtete.
Im Februar 2009 trat die neue bolivianische Verfassung in Kraft, die den Bürgern
umfassende Grund- und Menschenrechte zugesteht. In der Verfassung sind nicht nur
individuelle Rechte verbrieft, sondern auch Kollektivrechte der indigenen Völker.
Außerdem besitzt die indigene Justiz den gleichen Verfassungsrang wie die staatliche
Justiz. Im Seminar wurde deswegen aus der bolivianischen und der kolumbianischen
Perspektive das Thema Rechtspluralismus behandelt.
An der zweieinhalbtägigen Veranstaltung nahmen zwölf Redner aus Peru, Bolivien,
Venezuela, Kolumbien, Argentinien und Deutschland sowie über 300 Zuhörer teil.
Es wurden folgende Themen behandelt: Prozessautonomie der Verfassungsgerichte;
die Menschenrechte der Frauen in einem demokratischen Rechtsstaat; Grenzen
in der Ausübung der Menschenrechte; der Prozess der Konstitutionalisierung der
Menschenrechte im Plurinationalen Staat Bolivien; der ideologische Inhalt der
bolivianischen Verfassung und der bolivianische Rechtsstaat; Konvergenzen und
Divergenzen zwischen Normen des indigenen Rechts und den Menschenrechten;
Konstitutionelle Anerkennung des Rechtspluralismus in den Andenländern; der
Schutz der Menschenrechte im interamerikanischen System; die Bedeutung der
Menschenrechte in einem demokratischen Staat; die Gültigkeit des Pluralismus und die
Reichweite seiner konstitutionellen Anerkennung in plurinationalen Staaten; das System
des gerichtlichen Schutzes: das bolivianische Verfassungsgericht.
Das Seminar war ein voller Erfolg und bot die Gelegenheit des Austausches und der
ausführlichen Diskussion vielfältiger Themen. Gelegenheiten zu solch einem pluralen
Ideenaustausch sind in Bolivien leider immer seltener, aber in einem demokratischen
Rechtsstaat unabdingbar.