Veranstaltungsberichte
Der Schwerpunkt der Diskussion lag diesmal auf den im Oktober anstehenden Richterwahlen, ein sehr umstrittenes und viel diskutiertes Thema immoment in Bolivien. Das Ziel des Wahlprozesses ist die Schaffung eines neuen plurinationalen Organ der Judikative, welches effizienter, tauglicher und im wesentlichen weniger korrupt sein soll. Gemäß der neuen Verfassung von 2009 wählen die Bürger die Amtsinnhaber der höchsten richterlichen Gewalten des Landes. Vor der Wahl des Volkes werden die Kandidaten jedoch von der Asamblea Legislativa Plurinacional, dem Parlament, vorausgewählt.
Zur Einführung gab Marcelo Varnoux, Präsident der ABCP, einen Überblick über das Thema und presentierte seine eigene Meinung. Er glaubt, dass das Problem der Richterwahlen darin läge, dass die ausgewählte Methode, um so ein komplexes Vorhaben umzusetzen, für ein politisches System, das angibt demokratisch zu sein, nicht adequat wäre. An erster Stelle, abgesehen von der ‚Originalität’, die viele Befürworter der Regierung den Volkswahlen der richterlichen Gewalt zuschreiben – ein Vorgang, der jedoch nichts Neues in der Welt sei – sei es in der Tat unüblich, dass eine politische Instanz wie das Parlament, welches in Bolivien zur Zeit von einer Zweidrittelmehrheit der Partei von Evo Morales, der „Movimiento al Socialismo“ (MAS), bestimmt wird, die Kandidaten vorauswählt. Nach Meinung von Varnoux, sei dies problematisch, da der MAS nicht wirklich aus einer pluralistischen und demokratischen Berufung handele.
Varnoux machte die Teilnehmer auf einige weitere kritische Aspekte des Wahlprozesses aufmerksam: Von der geringen Transparenz, über die Verletzungen einiger in der Verfassung verankerten Rechte und der Verordnung der Vorauswahlen durch das Parlament, bis hin zur politischen Zugehöhrigkeit der Bewerber, existierten zuviele Probleme, die das Risiko drastisch erhöhten, dass diese Wahl, legitimiert durch die Stimme des Volkes, in einer Judikative im Interesse der MAS und im starken Widerspruch zum kollektiven Interesse ende. Trotz der Reform des Artikels 28 des Wahlgesetzes und einer vom Tribunal Supremo Electoral (Wahlrat) erlassenen Verordnung sei die öffentliche Meinung vorbestimmt, da ein Gesetz von Mai dieses Jahres die Berichterstattung über die Kandidaten durch die Medien einschränke. Die Medien seien in der Tat eingeschüchtert, da ein „unbilliges“ Verhalten wärend der Interviews mit den Kandidaten bestraft werden soll. Es sei folglich nicht sicher, ob aussreichend Informationen über das Profil der Kandidaten an die Öffentlichkeit gelängen.
Schließlich äußerte Varnoux einige Vermutungen über die Reaktion der Bürger. Man schätzt, dass es eine hohe Enthaltungsquote von Seiten der Bürger am Tag der Wahl geben werde, aber auch eine hohe Prozentzahl ungültiger Stimmen und leerer Stimmzettel. Wenn die Anzahl dieser Stimmen höher ist als die der gültigen Stimmen, wären die Wahlen gescheitert und die Legitimität des Wahlprozesses fragwürdig. Varnoux wies darauf hin, dass bis jetzt niemand weder die Form des Wahlzettels bzw. der Wahlzettel noch die Methode des Auszählens der Stimmen kennen würde und dieses vor dem Hintergrund, dass die Wähler 56 Personen aus 125 Kandidaten auswählen müssen. Um die Debatte anzuleiten, beendete Varnoux seine Presentation mit einigen Fragen wie den folgenden: Was wird passieren, wenn die ungültigen Stimmen gegenüber den gültigen Stimmen überwiegen? Und wie wird man die Bürger informieren?
Mehrere Eingeladene gaben während der Zusammenkommen in La Paz, Cochabamba und Santa Cruz ihre Meinung zu dem Thema kund. Die meisten waren sich einig, dass das Konzept der Wahlen im Prinzip adequat sei, dass dieses Konzept jedoch falsch interpretiert und angewendet würde. Nach Meinung der Teilnehmer fehle die entsprechende Grundlage für die Umsetzung freier und gerechter Wahlen in Bolivien – ein vollkommen demokratisches System. Das politische System Boliviens stattdessen sei durch ein parteiliches Monopol sowie das Fehlen einer klaren Gewaltenteilung und die damit verbundene gegenseitige Kontrolle der Legislative, Exekutive und Judikative gekennzeichnet.
Ein Teilnehmer sprach über die Probleme, mit denen die verschiedenen Phasen des Wahlprozess, seiner Meinung nach, behaftet sind: Die erste Phase betrifft die Bestimmung der Vorraussetzungen, die jeder Kandidat erfüllen muss, um überhaupt an der Vorauswahl teilnehmen zu können. In dieser Phase seien vor allem die Definierung dieser Vorraussetzungen im Interesse der MAS kritisch zu begutachten, die die Teilnahme einiger Kandidaten von Anfang an ausschloß. Die zweite Phase – die der Vorauswahl durch das Parlament – bringe zudem Probleme, wie die einer geringen Transparenz und Informationsmangel, mit sich. Zuletzt, so der Teilnehmer, werden wir in der dritten Phase des Wahlprozesses, gekennzeichnet durch die Wahl des Volkes, für vorherbestimmte Namen stimmen, was wiederrum bedeute, dass das Volk eine Judikative legitimiere, die nicht unabhängig sondern politisch befangen sei. Andere Eingeladene befürchteten, dass der Mangel an Ausbildung und technischen Know-How einiger bereits vorausgewählter Kandidaten die Qualität ihrer Arbeit und somit die Funktion der Judikative beeinträchtigen könnte.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass obwohl einige Teilnehmer daraufhin wiesen, dass sich das Land mitten in einem politischen Veränderungsprozess befände und man deshalb die Richterwahlen als ein Experiment, dem man eine Chance geben solle, zu verstehen hätte, war die Mehrheit der Eingeladenen sowohl in La Paz und Santa Cruz als auch in Cochabamba der Meinung, dass es sich um eine Form des „Betrugs“ handele. Folglich gab es einige Personen, die überzeugt waren, dass die beste Antwort auf das Handeln der Regierung die Abgabe einer ungültigen Stimme sei, um die eigene Ablehnung deutlich zu machen und das Minimum an sozialer Kontrolle, das immoment möglich sei, auszuüben.