Sehr verehrter Herr Professor, lieber Lothar, inwiefern hat Johannes Paul II. die Soziallehre der Kirche weiterentwickelt und durch neue Aspekte geprägt?
Johannes Paul II. hat dies in vielfältiger Weise und auf originelle Art getan. Im Einzelnen sind besonders folgende Aspekte zu nennen:
1. Die Humanisierung einer veränderten Arbeitswelt
Die klassische Reihe der päpstlichen Sozialenzykliken wird von Johannes Paul II. 1981 zum 90. Jahrestag von Rerum novarum (RN) mit der Enzyklika Laborem exercens (LE) fortgesetzt. Er knüpft darin an die von Leo XIII. bereits 1891 gegen die damalige liberale Lohntheorie herausgestellte besondere Qualität der menschlichen Arbeit an und wendet sie auf die heutige Arbeitswelt an. Hier sind vor allem drei neue Perspektiven wichtig:
Die Enzyklika unterscheidet erstens zwischen dem „objektiven“ Marktwert und der „subjektiven“ Personwert der Arbeit. Sie stellt fest, dass die Würde der Arbeit zutiefst in ihrer subjektiven Dimension und nicht in ihrer objektiven Dimension wurzelt (LE 6). Daraus folgt z.B.: Behandle jeden Menschen nicht nach dem ökonomischen, sondern nach dem persönlichen Wert seiner Arbeit!
Zweitens kritisiert Johannes Paul II. die übliche Verkürzung des Arbeitsbegriffs auf die „Erwerbsarbeit“. Er würdigt auch die Familienarbeit, also in den Augen des Papstes vor allem die Arbeit der Frauen, die oft ohne gebührende Anerkennung seitens der Gesellschaft die Verantwortung für die Kindererziehung und den Haushalts tragen (LE 9). Ein besonderes Anliegen des Papstes besteht gerade darin, die sich heute immer mehr zuspitzende Spannung zwischen der außerhäuslichen Berufsarbeit und der Familienarbeit zu überwinden. Er äußert sich dabei deutlich zu den Konflikten, die aus einer falschen Emanzipationsideologie entstammen, in denen „die Befreiung“ der Frau praktisch zulasten der Familie und damit ihrer selbst geht: „Die wahre Aufwertung der Frau erfordert eine Arbeitsordnung, die so strukturiert ist, dass sie diese Aufwertung nicht mit dem Aufgeben ihrer Eigenheit bezahlen muss und zum Schaden der Familie, wo ihr als Mutter eine unersetzliche Rolle zukommt“, schreibt Johannes Paul II. Die Frauen sollten also alle „Tätigkeiten ... ohne Diskriminierungen und ohne Ausschluss von Stellungen, für die sie befähigt sind“, wahrnehmen können. Sie sollen sich aber auch „ohne Behinderung ihrer freien Entscheidung, ohne psychologische und praktische Diskriminierung und ohne Benachteiligung gegenüber ihren Kolleginnen der Pflege und Erziehung ihrer Kinder ... widmen. Der notgedrungene Verzicht auf die Erfüllung dieser Aufgaben um eines außerhäuslichen Verdienstes willen ist im Hinblick auf das Wohl der Gesellschaft und der Familie Unrecht, wenn es den vorrangigen Zielen der Mutterschaft widerspricht oder sie erschwert“ (LE 19). Erwerbsarbeit und Familienarbeit sind also beide unentbehrlich für eine menschenwürdige Gesellschaft.
Drittens führt die Enzyklika den Begriff des „indirekten“ Arbeitgebers ein. Damit will Johannes Paul II. darauf aufmerksam machen, dass Löhne und Arbeitsbedingungen nicht nur vom „direkten“ Arbeitgeber abhängen. Mit Staunen haben manche Gewerkschafter und Banker gelesen, dass auch sie zum „indirekten“ Arbeitgeber gehören, weil in den „kollektiven Arbeitsverträgen“ oder bei den Kreditentscheidungen der Banken auch über Arbeitsplätze mitentschieden wird. Damit machte der Papst auf einen neuen, bisher übersehenen „Akteur“ im Gestaltungsfeld einer Sozialen Marktwirtschaft aufmerksam und modifiziert dadurch das bisherige duale Konzept von Markt und Staat.
2. Bedingungen einer „wahren Entwicklung“ der Völker
Schon in seiner Weihnachtsbotschaft 1944 erhebt Pius XII. die „moralische Forderung“ einer „sozialen Entwicklung“, welche „die Einheit des menschlichen Geschlechtes und der Völkerfamilie in sich einschließt“. Diese Linie führen Johannes XXIII. 1961 in der ‚Sozialenzyklika „Mater et magistra“ (MM) und das Konzil (1965) in der Konstitution „Gaudium et spes“ über die Kirche in der Welt von heute (GS 83–90) weiter fort. Die wachsende Dringlichkeit der Entwicklungsproblematik führte dazu, dass die Päpste ihr im Folgenden eigens zwei Sozialenzykliken widmeten: „Populorum progressio“ (PP) 1967 von Paul VI. und „Sollicitudo rei socialis“ (SRS) 1987 von Johannes Paul II. Die anthropologische Leitidee von „Populorum progressio“ ist der von dem französischen Sozialphilosophen Jacques Maritain übernommene Gedanke eines neuen integralen Humanismus (vgl. PP 20): Angesichts des Scheiterns einer rein technokratisch verstandenen Entwicklungsidee vertritt die Enzyklika ein Konzept, das alle Dimensionen des Menschseins einbezieht: die materiellen Nöte ebenso, wie die sittlichen Nöte, die durch Egoismus verursacht werden; den Missbrauch des Besitzes oder der Macht, die Ausbeutung der Arbeiter und ungerechtes Geschäftsgebaren. Zur Entwicklung gehöre genauso „die Erweiterung des Wissens, der Erwerb von Bildung; das deutlichere Wissen um die Würde des Menschen.“ Wahre Entwicklung verlange schließlich „die Anerkennung letzter Werte von seiten des Menschen und die Anerkennung Gottes, ihrer Quelle und ihres Zieles“, christlich gesprochen „vor allem der Glaube, Gottes Gabe, angenommen durch des Menschen guten Willen, und die Einheit in der Liebe Christi, der uns alle ruft, als Kinder am Leben des lebendigen Gottes teilzunehmen, des Vaters aller Menschen“ (PP 21).
Zwanzig Jahre danach greift Johannes Paul II. in der Enzyklika „Sollicitudo rei socialis“ (1987), dieses Thema erneut auf. Zwei Akzente erscheinen ihm besonders wichtig: Zum einen sieht der Papst die wirtschaftliche Rückständigkeit vieler Entwicklungsländer auch dadurch verursacht, dass neben anderen Rechten oft auch das auf unternehmerische Initiative unterdrückt wird. Er schreibt dazu: „Die Erfahrung lehrt uns, dass die Leugnung eines solchen Rechtes oder seine Einschränkung im Namen einer angeblichen ‚Gleichheit’ aller in der Gesellschaft tatsächlich den Unternehmungsgeist, das heißt, die Kreativität des Bürgers als eines aktiven Subjektes, lähmt oder sogar zerstört“ (SRS 15). Zum andern schreibt der Papst die Schuld für die Unterentwicklung vieler Länder nicht pauschal den Industrieländern zu. Er hat vielmehr den Mut, die hausgemachten Fehler vieler Entwicklungsländer zu benennen. So verlangt er die „Reform einiger ungerechter Strukturen und insbesondere der eigenen politischen Institutionen, um korrupte, diktatorische und autoritäre Regime durch demokratische Ordnungen der Mitbeteiligung zu ersetzen.“ Dies sei „die notwendige Bedingung und sichere Garantie der Entwicklung jedes Menschen und aller Menschen“ (SRS 44).
3. Mehrheit und Wahrheit in der Demokratie
In seiner Sozialenzyklika „Centesimus annos“ 1991 warnte Johannes Paul II. zudem ausdrücklich vor einer Demokratie ohne Werte, die sich leicht in einen „offenen oder hinterhältigen Totalitarismus“ verwandeln könne, indem bestimmte Ideen und Überzeugungen für Machtzwecke missbraucht würden. Dagegen stellt er die Grundwahrheit von der Würde des Menschen, die ja auch Angelpunkt unseres Grundgesetzes ist. Sie wird nicht vom Staat verliehen, sondern liegt dem Staat und allen seinen Gesetzen voraus und zugrunde. Deshalb ist der Mensch „Subjekt von Rechten, die niemand verletzen darf: Weder der einzelne, noch die Gruppe, die Klasse, die Nation oder der Staat. Auch die gesellschaftliche Mehrheit darf das nicht tun, indem sie gegen eine Minderheit vorgeht, sie ausgrenzt, sie unterdrückt, ausbeutet oder sie zu vernichten versucht“ (CA 44). Heute neige man dagegen „zu der Behauptung, der Agnostizismus und der skeptische Relativismus seien die Philosophie und die Grundhaltung, die den demokratischen politischen Formen entsprechen. Und alle, die überzeugt sind, die Wahrheit zu kennen, und an ihr festhalten, seien vom demokratischen Standpunkt her nicht vertrauenswürdig, weil sie nicht akzeptieren, dass die Wahrheit von der Mehrheit bestimmt werde bzw. je nach dem unterschiedlichen politischen Gleichgewicht schwanke.“ (CA 46)
4. Die „Subjekthaftigkeit“ der Gesellschaft
Gegen Tendenzen einer zunehmenden „Verstaatlichung“ stellt der Papst in auffälliger Weise die Eigenständigkeit der Gesellschaft und der in ihr wirkenden Personen und Gemeinschaften gegenüber dem Staat heraus. Er tut dies auch durch eine originelle Wortschöpfung, indem er das Leitbild vom „Subjektcharakter“ oder von der „Subjekthaftigkeit“ (subiectivitas) der Gesellschaft entwickelt. Damit stellt er die unersetzliche Bedeutung der menschlichen Person für das Gelingen einer menschenwürdigen Gesellschaft heraus. Deshalb „wird die erste und wichtigste Arbeit im Herzen des Menschen vollbracht. Die Art und Weise, wie er sich um den Aufbau seiner Zukunft bemüht, hängt von der Auffassung ab, die er von sich selbst und seiner Zielbestimmung hat.“ Gerade hier liege auch „der spezifische und entscheidende Beitrag der Kirche für die wahre menschliche Kultur“ (CA 51).
Gemäß dem Leitbild vom „Subjektcharakter“ der Gesellschaft haben die Personen und die freien gesellschaftlichen Sozialgebilde im Sinne des immer wieder betonten Subsidiaritätsprinzips nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht zu entsprechender Aktivität, Selbstorganisation und Selbsthilfe (CA 11). Johannes Paul II. weist alle mechanistischen Gemeinwohltheorien zurück, wonach das gesellschaftlich Gute „unabhängig von freier Entscheidung und ohne eine ganz persönliche und unübertragbare Verantwortung“ der Personen verwirklicht werden könne. Bei dieser Sicht „verschwindet der Begriff der Person als autonomes Subjekt moralischer Entscheidung, das gerade dadurch die gesellschaftliche Ordnung aufbaut“ (CA 13). Damit wendet er sich nicht nur gegen den anthropologischen „Grundirrtum des Sozialismus“ (ebd.), sondern er weist faktisch auch jenen Ansatz einer reinen „Institutionenethik“ zurück, die glaubt, den „Ort der Moral“ jenseits eines persönlichen Tugendethos allein in die „eingebaute Moral“ der Institutionen verlagern zu können. Die „Subjekthaftigkeit der Gesellschaft“ - Johannes Paul II. sagt hier ausdrücklich: „wie ich sie nenne“ - ist Ausdruck der „Subjekthaftigkeit“ der Person und der ihr ursprünglich zukommenden unveräußerlichen Rechte und Pflichten (CA 13). Darauf beruhen die anthropologischen Grundlagen der „Zivil- oder Bürgergesellschaft“, wie wir sie heute gelegentlich nennen.
Die katholische Soziallehre kritisiert den Sozialismus ebenso wie den Liberalismus bzw. Kapitalismus. Welche Auffassung von einer gerechten Wirtschaft vertrat der polnische Papst?
Im Bereich der Wirtschaftsethik besteht dass wichtigstes Vermächtnis Johannes Paul II. darin, dass er dem marxistischen Vorurteil widerspricht, es gäbe nur zwei Typen der wirtschaftlichen Ordnung, die „sozialistische“ und das „kapitalistische“. Er tut dies in jenem Kapitel der Enzyklika „Centesimus annus“ (CA), das die Überschrift trägt „Das Jahr 1989“. Hier fragt der Papst: „Kann man etwa sagen, dass nach dem Scheitern des Kommunismus der ‚Kapitalismus' das siegreiche Gesellschaftssystem sei und dass er das Ziel der Anstrengungen der Länder ist, die ihre Wirtschaft und ihre Gesellschaft neu aufzubauen versuchen? (CA 42) Die Antwort Johannes Paul II. lautet: Das kommt ganz darauf an, was man unter „Kapitalismus“ versteht. Und er legt dann zwei grundverschiedene Konzepte von „Kapitalismus“ vor: Das erste lautet: „Wird mit ‚Kapitalismus‘ ein Wirtschaftssystem bezeichnet, dass die grundlegende positive Rolle des Unternehmens, des Marktes, des Privateigentums und der daraus folgenden Verantwortung für die Produktionsmittel, der freien Kreativität des Menschen im Bereich der Wirtschaft anerkennt, ist die Antwort sicher positiv“. Etwas später wird in Fortsetzung dieser Aussagen die „Aufgabe des Staates im Bereich der Wirtschaft“ präzise dargestellt: „Die Wirtschaft, insbesondere die Marktwirtschaft, kann sich nicht in einem institutionellen, rechtlichen und politischen Leerraum abspielen. Im Gegenteil, sie setzt die Sicherheit der individuellen Freiheit und des Eigentums sowie eine stabile Währung und leistungsfähige öffentliche Dienste voraus. Hauptaufgabe des Staates ist es darum, diese Sicherheit zu garantieren, so dass der, der arbeitet und produziert, die Fürchte seiner Arbeit genießen kann und sich angespornt fühlt, seine Arbeit effizient und redlich zu vollbringen“ (CA 48). Johannes Paul II. hat damit alle wesentliche Elemente genannt, die wir mit dem Begriff einer „Sozialen Marktwirtschaft“ verbinden. In diesem Zusammenhang entwickelt er auch eine Ethik des Gewinns (CA 35) und der Investition (CA 36).
Ferner weist er auch klar darauf hin, dass heute der Begriff „Kapitalismus“ von manchen nach wie vor in jener Variante vertreten wird, die von der kirchlichen Sozialverkündigung von Anfang an kritisiert wurde: „Wird aber unter ‚Kapitalismus‘ ein System verstanden, in dem die wirtschaftliche Freiheit nicht in eine feste Rechtsordnung eingebunden ist, die sie in den Dienst der vollen menschlichen Freiheit stellt und sie als eine besondere Dimension dieser Freiheit mit ihrem ethischen und religiösen Mittelpunkt ansieht, dann ist die Antwort ebenso entschieden negativ“, d. h. ein solcher „Kapitalismus“ ist abzulehnen (CA 42). Zusammenfassend lässt sich sagen: Das wichtigste Vermächtnis Johannes Paul II. im Bereich der Wirtschaftsethik besteht also darin, dass er den von Marx und Engels behaupteten Dualismus zwischen „Kapitalismus“ und „Sozialismus“ überwindet und in seiner Sozialverkündigung eingehend und genau die Theorie und Praxis einer Sozialen Marktwirtschaft von einer „radikalen kapitalistischen Ideologie“ unterscheidet, welche die Lösung der Probleme dem „blinden Glauben der freien Entfaltung der Marktkräfte überlässt.“ (CA 42).
Wieso äußeren sich Päpste überhaupt zu sozialpolitischen Fragen? Das ist doch eigentlich nicht ihr Metier, dafür haben sie doch keine besondere Fachkompetenz.
Zunächst ist festzustellen: Die Päpste äußern sich in den Sozialenzykliken überhaupt nicht zu „sozialpolitischen“ Fragen. Es geht ihnen vielmehr um das Menschenbild, auf dessen Grundlage bestimmte sozialpolitische Einzellösungen formuliert werden. Um Wahrheit über den Menschen zu finden, sind drei Erkenntniswege nötig: Zunächst bedarf es jenes Sachwissens, das mit der physischen und psychischen Natur des Menschen vorgegeben ist. Damit befassen sich die Human- und Sozialwissenschaften. Da aber das menschliche Verhalten im Unterschied zum Tier nicht durch Instinkte festgelegt ist, muss der Mensch aus einer Fülle verfügbarer Möglichkeiten jeweils auswählen, was ihm und seinen Mitmenschen dient oder schadet, er muss also Wertentscheidungen treffen. Schließlich muss er sich darüber klar werden, wie aus der Verbindung von Sachwissen und Wertwissen eine Lebens- bzw. Gesellschaftsordnung hervorgeht, die er letztlich als sinnvoll betrachtet. Eine der Würde des Menschen würdige Ordnung des Zusammenlebens ist nur möglich in der Verbindung von Sachwissen, Wertwissen und Sinnwissen. Wert- und Sinnfragen lassen sich aber nur aus Überzeugungen beantworten, die philosophisch oder theologisch gefunden werden müssen. Ein einfaches Beispiel für die untrennbare Zusammengehörigkeit von Sache, Wert und Sinn zeigt ein Blick auf die menschliche Arbeit: Dass wir arbeiten müssen, um zu überleben, ist sachlich vorgegeben; wie viel Lebensenergie wir für die Erwerbsarbeit im Vergleich zur Familienarbeit und freien Sozialarbeit aufwenden, ist eine Frage der Rangordnung der Werte. Ob wir bei all dem auch noch genügend Kraft und Muße finden, um uns z.B. der Kunst oder gar der Anbetung Gottes zu widmen, darin offenbart sich die Frage nach dem letzten Sinn des Lebens
Die Aufgabe der kirchlichen Sozialverkündigung besteht vor diesem Hintergrund darin, auf der Grundlage des christlichen Gottes- und Menschenbildes Sache, Wert und Sinn innerlich so miteinander zu verbinden, dass eine der Würde des Menschen möglichst gut dienende Ordnung des menschlichen Zusammenlebens gefunden und bewahrt wird. In diesem Sinn sagt das Zweite Vatikanische Konzil: „Die Kirche, die in keiner Weise hinsichtlich ihrer Aufgabe und Zuständigkeit mit der politischen Gemeinschaft verwechselst werden darf, noch auch an irgendein politisches System gebunden ist, ist zugleich Zeichen und Schutz der Transzendenz der menschlichen Person. Immer und überall aber nimmt sie das Recht in Anspruch, in wahrer Freiheit den Glauben zu verkünden, ihre Soziallehre kundzumachen, ihren Auftrag unter den Menschen unbehindert zu erfüllen und auch politische Angelegenheiten einer sittlichen Beurteilung zu unterstellen, wenn die Grundrechte der menschlichen Person oder das Heil der Seelen es verlangen“ (GS 76).
Gerade in den 1980er Jahren gab es unter Johannes Paul II. eine sehr kritische Auseinandersetzung mit der sogenannten „Theologie der Befreiung", die vor allem in Südamerika betrieben wurde und eine „vorrangige Option für die Armen" vertrat. Worum ging es bei diesem Streit?
Zu diesem Streit habe ich Mitte der 1980er Jahre drei Aufsätze verfasst, in denen viele Einzelheiten dieses Streits nachgelesen werden können.[1] Die moderne kirchliche Sozialverkündigung, wie sie mit der Enzyklika Rerum Novarum Papst Leo XIII. 1891 begann, entstand als Antwort der Kirche auf die Ungerechtigkeiten der damals in Europa sich ausbreitenden frühkapitalistischen Klassengesellschaft. Aus ganz ähnlichen Motiven wandte sich erstmals der Rat der Lateinamerikanischen Bischofskonferenzen (CELAM) 1968 auf der Konferenz von Medellín (Kolumbien) gegen die in vielen Ländern Lateinamerikas herrschenden politischen und wirtschaftlichen Zustände und forderte eine „Theologie der Befreiung“ auf der Basis einer „Option für die Armen“. Wenige Jahre danach 1972 erschien das erste größere Werk zu dieser Theologie von Gustavo Gutiérrez in Lima (Peru), das unter dem Titel „Theologie der Befreiung“ (in deutscher Übersetzung mit einem Vorwort von Johann Baptist Metz).
Zum Streit über bestimmte Ausformungen der „Befreiungstheologie“ kam es aus zwei Gründen: Zum einen, weil einzelne „Befreiungstheologen“ als Ziel der Befreiung eine Art „Reich Gottes auf Erden“ anstrebten, so etwa die Brüder Leonardo und Clodovis Boff aus Brasilien, die von einer „sozialen Schlacht“ sprachen, bei der „das Gottesvolk … ein neues System anstrebt, das dem Muster des (Gottes)-Reiches entspricht“. Es entbehrt nicht der Komik, dass einige Jahrzehnte später der venezolanische Präsident Hugo Chávez seine Politik mit dem Satz begründete: „Wir tun nichts anderes, als was Jesus wollte: Das Reich Gottes auf Erden“. Dies führte unter seinem Nachfolger Nicolás Maduro dazu, dass inzwischen Millionen aus Venezuela fliehen und aus dem ölreichsten Land Südamerikas dessen „Armenhaus“ geworden ist. Zum anderen empfahlen nicht wenige „Befreiungstheologen“ den Weg der „marxistischen Analyse“, um zu einer gerechten Gesellschaft zu gelangen. In diesem Sinne schrieb Gustavo Gutiérrez, der später auch als „Vater der Befreiungs-Theologie“ bezeichnet wurde, unter Hinweis auf Giulio Girardi, einen Mitbegründer der "Christen für den Sozialismus" in Europa: „Jedes Bemühen um eine gerechte Gesellschaft hat heute notwendigerweise den Weg über die bewusste und tätige Mitwirkung am Klassenkampf zu nehmen, der sich vor unseren Augen abspielt“.
Da es unter diesen Umständen nicht nur in Lateinamerika, sondern in der gesamten Weltkirche über diese Thesen zu kontroversen Diskussionen kommen musste, haben sich auf höchster kirchlichen Ebene Papst Johannes Paul II. bzw. der Präfekt der Glaubenskongregation Kardinal Joseph Ratzinger mit diesem Komplex befassen müssen. Zunächst erschienen dazu unter der Federführung der Glaubenskongregation die Instruktionen „Libertatis nuntius“ vom 6. August 1984 und „Libertatis conscientia“ vom 21. März 1986 und schließlich am 9. April 1986 ein Brief Johannes Paul II. an die Brasilianische Bischofskonferenz.
Kurz zusammengefasst stellt der Papst in seinem Brief in einem berühmt gewordenen Konditionalsatz fest: Eine bestimmte Befreiungstheologie sei dann „korrekt“ und damit „notwendig“, wenn sie „in enger Verbindung mit den vorausgegangenen“ theologischen Reflexionen steht, die „mit der Apostolischen Überlieferung“ begannen und die „in neuerer Zeit“ in „dem reichen Schatz der Soziallehre der Kirche“ zum Ausdruck kommen. Mit diesen drei, von Papst Johannes Paul II. autorisierten bzw. von ihm selbst verfassten Stellungnahmen wurde der Streit um „Befreiungstheologien“ lehramtlich geklärt: Maßstab aller kirchlichen Äußerungen zu gesellschaftlichen Fragen ist und bleibt die klassische Sozialverkündigung der Päpste.
Dazu möchte ich auf ein persönliches Erlebnis beim 89. Deutschen Katholikentag in Aachen 1986 hinweisen: Gustavo Gutiérrez und ich hatten dabei den Auftrag, in Kurzvorträgen über „Katholische Soziallehre und Theologie der Befreiung“ zu sprechen. Unter den circa 5.000 Teilnehmern in der Aachener Reithalle waren die zahlreich vertretenen „Christen für den Sozialismus“ bitter darüber enttäuscht, dass sich Gustavo Gutiérrez im Unterschied zu Leonardo Boff und anderen „Befreiungstheologen“ inzwischen von der früher von ihm vertretenen „marxistischen Analyse“ verabschiedet hatte.[2] Wie mir später aus dem Priesterseminar aus Aachen, wo Gutiérrez übernachtete, mitgeteilt wurde, erklärte er dort in einem Gespräch, zwischen seinen und meinen Darlegungen habe es nur unbedeutende Differenzen gegeben. Inzwischen ist von der damaligen Befreiungstheologie nicht mehr viel zu hören, während die Sozialkirche der Kirche gerade in vielen sich entwickelnden Ländern heute durchaus aktuell ist.[3]
Für Johannes Paul II. war die Sozialordnung nur ein Teilaspekt einer umfassenderen „Zivilisation der Liebe“. Was ist damit gemeint?
In seinen verschiedenen Aussagen zur „Zivilisation der Liebe“ geht es Johannes Paul II. nicht um Einzelaspekte des gesellschaftlichen Zusammenlebens, sondern um deren Verankerung im biblisch-christlichen Menschenbild. Das theologische Fundament einer „Zivilisation der Liebe“ ist die biblisch-christliche Schöpfungs- und Erlösungslehre. Sie beinhaltet den Glauben, dass die Welt nicht gottverlassen ist, weil Gott sie geschaffen und den Menschen als sein „Ebenbild“ mit der Fähigkeit ausgestattet hat, das Gute zu erkennen und zu wollen.
Das ist der eine Pfeiler einer „Weltanschauung“, mit der Johannes Paul II. die Vorstellung zurückweist, die menschliche Geschichte als einen zum Untergang tendierenden Determinismus zu betrachten, aus dem es keinen Ausweg gibt. Der andere Pfeiler ist „Christus, der neue Mensch“. Über Christus sagt das Zweite Vatikanische Konzil, angeregt auch durch eine Intervention des Konzilsvaters Bischof Karol Wojtyła: „Christus der neue Adam, macht eben in der Offenbarung des Geheimnisses des Vaters und seiner Liebe dem Menschen den Menschen selbst voll kund und erschließt ihm seine höchste Berufung“ (GS 22). Deshalb ist „der Mensch der Weg der Kirche“, wie Johannes Paul II. in seiner ersten Enzyklika Redemptor Hominis (RH, Nr. 14) am 4. März 1979 erklärt und hinzufügt: Nicht der Mensch allgemein, sondern „jeder einzelne von vier Milliarden Menschen“ (RH 13), die damals auf der Welt lebten. Inzwischen sind es fast mit 7,8 Milliarden fast doppelt so viele geworden.
Eine zentrale neutestamentliche Aussage zur Begründung einer „Zivilisation der Liebe“ lautet: „Darin offenbarte sich die Liebe Gottes unter uns, dass Gott seinen einzigen Sohn in die Welt gesandt hat, damit wir durch ihn leben. Darin besteht die Liebe: Nicht dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt und seinen Sohn als Sühne für unsere Sünden gesandt hat. Geliebte, wenn Gott uns so geliebt hat, müssen auch wir einander lieben. “(Joh 4,9-11). Wie viel Versagen und Bosheit es unter den Menschen auch geben mag: Die Kirche „darf den Menschen nicht verlassen“, sondern muss „treu den Weg des Menschen zu ihrem eigenen machen“(CA 62). – Das ist auch die theologische Präambel des weltweiten praktischen Bemühens von Johannes Paul II. um die Einhaltung der Menschenrechte, die Wahrung des Friedens, die Festigung der Völkergemeinschaft und die Entwicklung aller Kulturen.
Gibt es so etwas wie eine Kernbotschaft Johannes Paul II. für die Welt im 21. Jahrhundert?
Das philosophisch-theologische Fundament aller Einzelantworten, die uns Johannes Paul II. hinterlassen hat, lautet: Eine humane Gesellschaft lässt sich nur auf der Basis eines verbindlichen Ethos errichten. Die sicherste Verankerung eines solchen Ethos liegt in der „transzendenten“ Begründung der Menschenwürde. Inhaltlich besteht der Kern der „transzendenten Würde des Menschen“ darin, „sichtbares Abbild des unsichtbaren Gottes“ (CA 44) zu sein. Die „Soziallehre der Kirche“ gehöre deshalb „in den Bereich der Theologie“ (CA 55 vgl. SRS 41), weil sie untrennbar mit der christlichen Anthropologie zusammenhängt, von der gilt, dass sie „den ‚Sinn des Menschen‘ von der göttlichen Offenbarung“ (CA 55) empfängt. Insofern erweise sich die „theologische Dimension ... für die Interpretation wie für die Lösung der heutigen Probleme des menschlichen Zusammenlebens als unabdingbar“ (CA 55,).
Es wäre freilich ein Missverständnis, daraus abzuleiten, dass allein mit Hilfe des christlichen Glaubens die Bedingungen einer menschenwürdigen Gesellschaft gefunden werden könnten. Ausdrücklich hebt Johannes Paul II. die Aufgabe der „Humanwissenschaften“ und der „Philosophie“ hervor, um „die zentrale Stellung des Menschen in der Gesellschaft zu deuten und ihn in die Lage zu versetzen, sich selbst als ‚soziales Wesen‘ besser zu begreifen“. Zwar gilt: „Allein der Glaube enthüllt ihm voll seine wahre Identität. Von dieser Identität geht die Soziallehre der Kirche aus“ (CA 54). Die theologische Anthropologie vermag aber keine sozialpolitischen Einzelprogramme vorzulegen, wohl aber den „Raum der Wahrheit“ aufzutun, in dem die Würde des Menschen ihre letzte Begründung findet. Deshalb können und sollen auch Nicht-Christen oder sogar nicht an Gott glaubende Menschen an der Verwirklichung einer der Soziallehre der Kirche entsprechenden Kultur mitwirken. Eine letzte Begründung sittlicher Werte ist dabei jedoch unverzichtbar; deshalb spricht der Papst „die begründete Hoffnung“ aus, „dass auch jene große Gruppe, die sich zu keiner Religion bekennt, dazu beitragen kann, der sozialen Frage das notwendige sittliche Fundament zu geben“ (CA 60).
Lieber Lothar, herzlichen Dank für Deine Ausführungen zur Soziallehre Johannes Paul II.
Die Fragen wurden schriftlich gestellt und an Pfingsten beantwortet.
Zum Gesprächspartner/Autor:
Lothar Roos, geb. 1935 in Karlsruhe, 1955 – 1960 Studium der Philosophie und Theologie in Freiburg und Luzern, am 12. Juni 1960 – also vor 60 Jahren – in Freiburg zum Priester geweiht, danach als Kaplan in Wiesloch bei Heidelberg, 1962 Studium der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften in Freiburg, 1964 Wissenschaftlicher Assistent am Seminar für Christliche Gesellschaftslehre der Universität Freiburg, 1969 Promotion ebd. mit einer Arbeit über "Demokratie als Lebensform", Dozent und Subregens am Priesterseminar St. Peter in Freiburg. 1974 Habilitation für die Fächer Christliche Gesellschaftslehre und Pastoraltheologie ebd., 1975 Prof. für Christliche Anthropologie und Sozialethik an der Universität Mainz, 1979 bis zur Emeritierung 2000 Lehrstuhl für Christliche Gesellschaftslehre und Pastoralsoziologie an der Universität Bonn, dem zweitältesten im deutschsprachigen Gebiet, anschließend weitere Lehrtätigkeit an der Privathochschule Gustav-Siewerth-Akademie in Weilheim-Bierbronnen bis 2008 und von 2001 - 2005 an der Theologischen Fakultät der Schlesischen Universität Kattowitz. 1975 - 2003 Redaktionsleiter der Zeitschrift Lebendige Seelsorge. Von 1984 - 2014 geistlicher Berater des Bundes Katholischer Unternehmer (BKU). Als Gründungsvorsitzender leitete er die Joseph Höffner-Gesellschaft von 2002 – 2016, deren Ehrenvorsitzender er heute ist. 1995 Ernennung zum Päpstlichen Ehrenprälaten. 2010 Ehrendoktor der Katholischen Universität Lublin. 2011 Wilhelm-Weber-Preis für Verdienste um die Christliche Gesellschaftslehre. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Katholischen Soziallehre und zu den sozialethischen Grundlagen der politischen und wirtschaftlichen Ordnung. 1997/2002 Hrsg. der bearbeiteten und ergänzten Neuausgabe des Standardwerkes von Joseph Höffner: Christliche Gesellschaftslehre.
Zur Soziallehre Johannes Paul II. vgl. auch folgende Beiträge von Lothar Roos:
In der Reihe: Kirche und Gesellschaft, hrsg. von der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle Mönchengladbach:
Nr. 86/1982: Laborem exercens – Sinn und Sozialgestalt der menschlichen Arbeit.
Nr. 149/1988: Freiheit und Solidarität. Zur Ordnungsethik in Sollicitudo rei socialis.
Nr. 182/1991: Centesimus annus. Botschaft und Echo.
„Die von Prof. Roos verfassten Kommentare der Sozialenzykliken Johannes Paul II. und der früheren Päpste haben an ihrer Aktualität nichts eingebüßt und sind bis in den heutigen Tag eine zuverlässige Quelle für diejenigen, die nach Informationen zur Genese, Auslegung und Auswertung dieser Enzykliken suchen.“ Prof. Dr. Janusz Mariański, Gutachten anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Katholischen Universität Lublin, Lublin im Mai 2010.
Nr. 266/2000: Eine verantwortungsbereite Bürgergesellschaft:
https://www.ksz.de/fileadmin/user_upload/Gruene_Reihe_PDFs/KSZ_266.pdf
Nr. 305/2003: Der neue Streit um den Menschen:
https://www.ksz.de/fileadmin/user_upload/Gruene_Reihe_PDFs/KSZ_305.pdf
Nr. 321/2005: Es geht um die Würde des Menschen. Zum sozialethischen Vermächtnis von Johannes Paul II.: https://www.ksz.de/fileadmin/user_upload/Gruene_Reihe_PDFs/KSZ_321.pdf
Die Grundwerte der Demokratie und die Verantwortung des Christen. Dresdener Kathedralvorträge, Paderborn 1991: https://www.ordosocialis.de/pdf/lroos/DemouVerant/demoveranta4neu.pdf
Das Vermächtnis Johannes Paul II. für die Zukunft Europas, in: Europa christlich gestalten. Hoffnung und Angst der Menschen in Europa als Herausforderung für die Soziallehre der Kirche. Festschrift für Prof. Dr. Lothar Roos zum Abschluss seines Wirkens an der Schlesischen Universität, hrsg. mit Unterstützung der Konrad-Adenauer-Stiftung von Henryk Krzysteczko, Kattowitz 2005, S. 11-24.
Freiheit und Wahrheit. Der Streit um die Grundwerte politischer Ethik, in: Christoph Böhr, Stephan Raabe (Hg. in Zusammenarbeit mit der Konrad-Adenauer-Stiftung), Eine neue Ordnung der Freiheit. Die Sozialethik Johannes Paul II. – eine Vision für das vereinte Europa, Osnabrück 2007, S. 45 – 57.
Der Mensch inmitten der Gesellschaft. Hrsg. von Jürgen Aretz und Lothar Roos, Erkelenz 2016, darin:
Katholische Soziallehre in Lateinamerika, S. 33 – 40;
Der Weg der Kirche ist der Mensch, S. 143 – 150.
Von Heinrich Pesch damals bis nach Nigeria heute, S. 221 – 226.
[1]Vgl. die Reihe: Kirche und Gesellschaft, Nr. 119, 120, 133, hrsg. von der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle Mönchengladbach, Köln 1985/1986; siehe die Literaturhinweis am Ende.
[2] Vgl. Dein Reich komme. 89. Deutsche Katholikentag, Aachen, 10.-14. September 1986, Dokumentation II., Aachen 1986, S. 905-913.
[3] Vgl. z.B. Obiora F. Ike (editor), Catholic Social Teachings En-Route in Africa, Enugu 1991 sowie Peter Hünermann, Juan Carlos Scannone (Hrsg.), América Latina y la Doctrina Social de la Iglesia, Bd. 1-5, Buenos Aires 1991; deutsche Ausgabe: Peter Hünermann, Juan Carlos Scannone (Hrsg.), Lateinamerika und die Katholische Soziallehre. Ein lateinamerikanisch-deutsches Dialogprogramm, 3 Teile, Mainz 1993.