Länderberichte
Eine anhaltende wirtschaftliche und soziale Krise
Kuba erlebte am 11. Juli 2021 (auch bekannt unter dem Kürzel „11J“), seine größten Proteste seit über 20 Jahren, als landesweit tausende Demonstranten wegen Waren- und Nahrungsmittelknappheit, wirtschaftlicher Schwierigkeiten, der Reaktion der Regierung auf Covid-19 und einem durchgehenden Mangel an Grundfreiheiten auf die Straße gingen. Handyaufnahmen hielten die ganze Bandbreite der Ereignisse fest: Demonstranten, die Polizeiautos umwarfen, Plünderungen staatlicher Geschäfte, aber auch massive, brutale Interventionen der Sicherheitskräfte und Festnahmen. Internationale Menschenrechtsorganisationen haben staatlich veranlasste Abschaltungen des Internets, willkürliche Festnahmen und exzessive Gewaltanwendung – darunter auch Schüsse der Polizei auf Demonstranten – dokumentiert und berichteten, dass es eine lange Liste von Vermissten gibt. Laut der Menschenrechtsgruppe Justicia wurden im Nachgang der Proteste mindestens 1.470 Kubaner[1] wegen ihrer Teilnahme an den Demonstrationen festgenommen. Die genaue Zahl der Vermissten bleibt weiter unbekannt. Bis Dato laufen zudem noch zahlreiche Gerichtsverfahren: Einige Demonstranten wurden wegen „Volksverhetzung“ zu bis zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt.
Die Covid-19-Pandemie hatte zudem verheerende Auswirkungen auf die kubanische Wirtschaft, da der Tourismus zum Erliegen kam und die aus dem Ausland stammenden Überweisungen stark zurückgingen. Infolgedessen sank das BIP im Jahr 2020 um knapp 11%[2]. Zwar erlebten in diesem Jahr die Tourismuszahlen wieder einen leichten Aufschwung, dennoch haben die Lebensbedingungen für die Einheimischen einen neuen Tiefpunkt erreicht, da Nahrungsmittel[3] und andere Grundgüter wie Medikamente extrem knapp sind bzw. komplett fehlen. Es ist zudem keine Überraschung, dass Kuba das einzige Land auf dem amerikanischen Kontinent ist, das die notwendigen Daten zur Erstellung des Armutsindex der Weltbank nicht zur Verfügung stellt. Vor der Pandemie gaben allerdings inoffizielle Quellen an, dass etwa ein Fünftel bis ein Drittel der Kubaner „gefährdet“ oder „von Armut bedroht“ waren, eine Situation, die sich im Nachgang der Pandemie zweifellos drastisch verschlechtert hat[4].
Zudem hatte die Regierung Ende 2020 unter dem Druck des dramatischen Wirtschaftseinbruchs eine historische Währungsreform angekündigt, die durch eine Abwertung der kubanischen Währung auf eine Reduzierung des Außenhandelsdefizits abzielte, aber auch mit einem massiven Subventionsabbau einherging, um zu verhindern, dass Kubas Haushaltsdefizit außer Kontrolle gerät. Dies bedeutet in der Praxis, dass die Dualität der Währungen abgeschafft wurde. Zuvor war der kubanische Peso (Peso Cubano, PC) für den inländischen Gebrauch bestimmt und der Wert des konvertierbaren Pesos (Peso Cubano Convertible, PCC) war an den des US-Dollars gebunden. Angesichts der aktuellen Inflationsrate von unglaublichen 73%[5] hat die im Januar 2021 umgesetzte Reform die Probleme der Kubaner nochmals verschärft. Der kubanische Peso hat zudem in den letzten zwei Monaten effektiv die Hälfte seines Wertes verloren.
Aktivismus und Menschenrechte: Gesellschaftliche Unterdrückung bleibt die Norm
In den letzten Jahrzehnten haben Menschenrechtsorganisationen wiederholt über die brutale Unterdrückung und Zensur der kubanischen Regierung in den Bereichen Meinungsfreiheit, Pressefreiheit und grundlegende Gewährleistung der Menschenrechte berichtet. Der diktatorische und autoritäre Charakter des kubanischen Regimes hat sich trotz eines Generationswechsels in der politischen Führung zwischen 2018 und 2021, der auch die Einführung einer neuen Verfassung beinhaltete, nicht geändert. Zum ersten Mal seit sechs Jahrzehnten ist zwar der Präsident von Kuba, Miguel Díaz Canel, kein direktes Mitglied der Castro-Familie. Trotzdem überraschte es nicht, dass mit seinem Amtsantritt keine wesentlichen Änderungen in der Herrschaft des Landes unter dem Castro-Regime der letzten 60 Jahre einhergingen. Zu eng waren und sind die Verflechtungen der Person Díaz-Canel mit der kommunistischen Partei und den Streitkräften.
Das autoritäre Einparteiensystem in Kuba schließt die Öffentlichkeit von jeder echten politischen Teilhabe aus. Der kubanische Geheimdienst (Dirección de Inteligencia, DI) spielt eine wichtige Rolle bei der Unterdrückung abweichender Meinungen und übt weiterhin großen Einfluss auf praktisch jeden Aspekt des Staates aus. Aktivisten, Mitglieder von Dissidentengruppen und sogar unabhängige Akteure in Kunst, Journalismus und anderen Bereichen werden systematisch überwacht und regelmäßig verhört, um sie zum Schweigen zu bringen oder zu erpressen. Oppositionsbewegungen wie die MUAD (Mesa de Unidad Democrática) waren und sind von daher konstanten Repressalien und Verhaftungen ihrer Mitglieder ausgesetzt. Der kubanische Machtapparat übt zudem nicht nur gezielten Druck auf einzelne Dissidenten aus, sondern auch auf deren Freunde und Angehörige mit dem Ziel, dass sie das Land endgültig verlassen und so zumindest im Land selbst nicht mehr aktiv sind.
Den Einschätzungen des Freedom House zufolge bleibt die Lage im Bereich der Meinungs- und Pressefreiheit in Kuba weiterhin besorgniserregend. Im August des vergangenen Jahres veröffentlichte die Regierung das Gesetzesdekret 35, das die Meinungsfreiheit der Kubaner im Internet erheblich einschränkt und die Privatsphäre der Nutzer bedroht. Das Dekret, das den langfristigen selbsterklärten Zweck der „Verteidigung“ der kubanischen Revolution hat, verpflichtet Telekommunikationsanbieter, ihre Dienste zu unterbrechen, auszusetzen oder zu beenden, wenn ein Benutzer Informationen veröffentlicht, die in den Augen der Diktatur gefälscht sind oder die „öffentliche Moral beeinträchtigt“.
Der seit Dezember 2018 deutlich erweiterte Zugang zum Internet in Kuba hat das Leben auf der Insel in den letzten Jahren stark beeinflusst. Kubaner sind immer weniger isoliert von dem, was auf der ganzen Welt passiert, haben die Möglichkeit auf Nachrichten zuzugreifen, unabhängige Inhalte zu erstellen (die nach wie vor illegal sind) und ihre politischen Meinungen online untereinander, aber auch außerhalb Kubas zu teilen. Im gleichen Maße verfügt die internationale Gemeinschaft über mehr Echtzeitinformationen und Einblicke in die politische, wirtschaftliche und soziale Lage des Landes. Dementsprechend konnten in den letzten Jahren immer intensiver auch die vom Regime angeordneten Inhaftierungen und Schikanierungen von Oppositionellen, die an Friedensdemonstrationen in Kuba beteiligt waren, dokumentiert und publiziert werden. Diese gestiegene Transparenz ist zweifelsohne eine Tatsache, die dem kubanischen Regime ein Dorn im Auge ist und mitunter die oben erwähnten Gegenmaßnahmen (Dekret 35) provoziert hat.
Kubanischer Exodus in vollem Gange
Schaut man sich die Migrationszahlen an, so zeigt sich, dass in diesem Jahr mehr Kubaner als je zuvor das Land verlassen. Die Insel erlebt den schlimmsten wirtschaftlichen Niedergang seit Jahrzehnten. Allein in den ersten beiden Monaten des Jahres 2022 versuchten fast 30.000 Kubaner, in die Vereinigten Staaten einzureisen, die meisten von ihnen über Mexiko. Daten aus früheren Monaten zeigen einen Durchschnitt zwischen ein- und zweitausend pro Monat. Für das Jahr 2022 werden rund 150.000 kubanische Migranten[6] von der US-Regierung prognostiziert.
Statistiken zeigen[7], dass das Bevölkerungswachstum in Kuba gegen Null tendiert, da die meisten Menschen, die die neue Exoduswelle ausmachen, junge Kubaner sind, die zur Zukunft des Landes beitragen könnten. Es ist vorhersehbar, dass das Land in nicht allzu ferner Zukunft ein negatives Bevölkerungswachstum verzeichnen wird. Die daraus resultierenden sozialen und wirtschaftlichen Folgen für die Zukunft Kubas werden erheblich sein.
Internationale Beziehungen
Kuba unterliegt seit Jahrzehnten einem umfassenden US-Embargo. Die Regierung von Joe Biden hat zwar einige Beschränkungen gelockert, die unter der Amtszeit von Donald Trump eingeführt wurden, aber die erneuten Proteste gegen das Regime im vergangenen Juli und eine sich stets verschlechternde humanitäre Situation auf der Insel haben die politischen Perspektiven weiter erschwert. Im Juli 2021 verurteilte die Regierung von US-Präsident Joe Biden das brutale Vorgehen der kubanischen Regierung gegen die Demonstranten und verhängte gezielte Sanktionen gegen mehrere Beamte, die glaubhaft mit der Unterdrückung von Demonstrationen in Verbindung stehen. Im Mai 2022 kündigte das Weiße Haus dennoch eine Reihe von Maßnahmen zur Lockerung der Beschränkungen auf der Insel an, darunter die Ausweitung von US-Flügen in das Land, die Wiedereinführung eines Programms zur Familienzusammenführung und die Aufhebung der Überweisungsobergrenze für Familien, um so auf die prekären sozialen Bedingungen zu reagieren.
Von Seiten der Europäische Union wurde im vergangenen März eine Erklärung des Hohen Vertreters der EU für Außen- und Sicherheitspolitik Josep Borrell im Namen der EU zu den Gerichtsverfahren und Verurteilungen im Zusammenhang mit den Demonstrationen vom 11. und 12. Juli 2021 veröffentlicht, in der die intransparente und willkürliche Art und Weise verurteilt wird, mit der die Regierung mit diesen Verfahrensprozessen umgegangen ist.[8]
Zudem kritisierte die Delegation des Europäischen Parlaments für die Beziehungen zu den Ländern Mittelamerikas die kubanische Regierung dafür, dass sie die Reise einiger Mütter von 11J-Gefangenen verhinderte, die sich mit Abgeordneten und Vertretern internationaler Menschenrechtsorganisationen treffen sollten. Vor dem Hintergrund forderten die Mitglieder des Europäischen Parlaments die Aufnahme eines konstruktiven Dialogs zwischen Kuba und der Europäischen Union, für welchen es unabdingbar sei, dass die kubanische Regierung die Meinungsfreiheit der kubanischen Bürger respektiert. Eine wesentlich deutlichere Position der EU zur Verurteilung der willkürlichen Verhaftungen und ständigen Missachtung der Menschrechte, wie sie zahleiche Oppositionsbewegungen in Kuba seit langem fordern, bleibt aber bisher aus.
Blickt man auf die bilaterale Beziehung zwischen Mexiko und Kuba, so hat der mexikanische Präsident Andres Manuel López Obrador (AMLO) in den vergangenen Monaten seine Beziehungen zum kubanischen Präsidenten weiterhin intensiviert und sich nicht davor gescheut, der internationalen Gemeinschaft diese Allianz deutlich vor Augen zu führen. Dies wurde einerseits bei der protokollarischen Sonderbehandlung anlässlich des mexikanischen Nationalfeiertags am 16.9.2021 deutlich, zu der Díaz-Canel als exklusiver ausländischer Ehrengast eingeladen war. Andererseits boykottierte AMLO den Amerika-Gipfel Anfang Juni in Los Angeles mit Hinweis auf den Ausschluss mehrerer Länder in der Region, nämlich Kuba, Venezuela und Nicaragua – alles Länder mit Regimen autoritärer Natur. Der damit vermittelte Eindruck seiner außenpolitischen Positionierung ist eindeutig: Ein Affront gegenüber den USA (immerhin der mit Abstand wichtigste Wirtschafts- und Handelspartner Mexikos) als Gastgeber des Amerika-Gipfels und ein Schulterschluss mit eindeutig undemokratischen und autoritären Regimen auf dem Kontinent.
Im sozioökonomischen Bereich kündigte Mexiko ein Sonderprogramm über 6 Millionen US-Dollar[9] für Entwicklungszusammenarbeit im Rahmen der Initiative “Sembrando Vida”[10] mit Kuba an. Das Abkommen wurde im Mai 2022 während des Besuchs des mexikanischen Präsidenten in Kuba abgeschlossen. Zusätzlich dazu wurde die Einstellung von 500 Ärzten und der Erwerb von kubanischen Covid-19-Impfstoffen für Kinder vereinbart. Dies führte vor allem in Mexiko zu einer Reihe von Gegenreaktionen, da die Impfstoffe noch nicht zugelassen sind und es mehr als 50.000 Ärzte ohne Arbeitsverhältnis gibt. Außerdem liegt das Durchschnittsgehalt von 20.000 Pesos für kubanische Ärzte deutlich unter den von AMLO versprochenen 140.000 Pesos pro Monat[11].
Ausblick
Die 11J-Proteste des vergangenen Jahres sind eine historische Zäsur: Zum ersten Mal in der modernen Geschichte Kubas konnten sich breite Teile der Bevölkerung schnell und effektiv auf der gesamten Insel organisieren, um auf die Straße zu gehen und gegen die prekären Lebensbedingungen zu protestieren, denen sie täglich ausgesetzt sind. Im Vergleich zu früheren Protesten erzielten die 11J-Proteste viel internationale Medienberichterstattung, was für kurze Zeit zu einem (vorsichtigen) Hoffnungsschimmer für prodemokratische Bewegungen in- und außerhalb Kubas führte, die seit Jahrzehnten unermüdlich für einen Regimewechsel hin zu einer friedlichen, demokratischen Transition kämpfen. In einer Welt des ununterbrochenen Informationsflusses und internationaler Krisen, die eng aufeinanderfolgen, blieb die Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft jedoch wie erwartet nur für begrenzte Zeit auf Kuba gerichtet. Die anhaltenden Menschenrechtsverletzungen, denen die Kubaner in ihrem Alltag ausgesetzt sind, müssen aber nicht nur kontinuierlich scharf verurteilt. Ihnen muss mit konkreten Aktionen der internationalen Gemeinschaft im Rahmen des Völkerrechts begegnet werden.
[2] datos.bancomundial.org/indicator/NY.GDP.MKTP.KD.ZG?locations=CU
[3] Laut inoffiziellen Quellen hatte ein kubanischer Haushalt im Juni 2022 Anspruch auf maximal 5 Eier pro Monat (!).
[4] diariodecuba.com/cuba/1604935788_26332.html
[5] radiotelevisionmarti.com/a/tasa-de-inflaci%C3%B3n-en-cuba-alcanza-un-impactante-73-31-/328189.html
[6] nytimes.com/2022/05/03/world/americas/cuban-migration-united-states.html
[7] worldpopulationreview.com/countries/cuba-population
[10] Nach Angaben der mexikanischen Regierung ist das “Sembrando Vida” ein Programm, dass durch die Förderung der Selbstversorgung mit Nahrungsmitteln zum sozialen Wohlergehen der ländlichen Bevölkerung beitragen soll.