Paulo Coelho ist enttäuscht. Der bekannte brasilianische Bestseller-Autor, der aktiv Wahlwerbung für Lula betrieben hatte, bezeichnet die Regierungsführung der dritten Amtszeit des Präsidenten auf Twitter als „pathetisch“. Seinen Unmut begründet er mit den öffentlichen Angriffen auf die unabhängige brasilianische Zentralbank und den Senator Sérgio Moro (União Brasil), der als Richter gegen Lula ermittelt hatte und aktuell aufgrund von Morddrohungen um sein Leben fürchtet. Er bereue es daher sehr, sich für Lula eingesetzt zu haben.[1] Ähnlich wie Coelho sind auch viele andere Brasilianer nicht mehr so euphorisch, wie noch kurz nach der Wahl. Sie hatten sich erhofft, dass Lula mit mehr Tatendrang und Entschlossenheit seine Regierungsversprechen erfüllen würde. Stattdessen scheint er sich an politischen Auseinandersetzungen und mit polemischen Konflikten aufzuhalten. Auch seine Allianzpartner sind inzwischen unruhig, da sich die Benennung der rangniedrigeren Regierungsmitglieder unerwartet in die Länge zieht. Sie fühlen sich hingehalten. Die Euphorie nach Lulas Wahlsieg scheint folglich abzuklingen und stattdessen Ernüchterung einzutreten. Dabei hatte die neueingesetzte Regierung die Bewährungsprobe, die die extremistischen Ausschreitungen in der Hauptstadt Brasília am 8. Januar 2023 dargestellt hatten, erfolgreich gemeistert.
Rund eine Woche nach der friedlichen Amtseinführung von Präsident Lula, bei der sein Vorgänger Jair Bolsonaro (Partido Liberal, PL) durch Abwesenheit glänzte, hatten Rechtsextremisten aller sozialen Klassen die demokratischen Institutionen mit dem Ziel gestürmt, einen Militärputsch heraufzubeschwören. Dies hatte die Nation in Angst und Schrecken versetzt. Das entschiedene Durchgreifen der Regierung sowie die aktive Unterstützung der Justiz und eines Großteils der Zivilgesellschaft bereiteten den Vorkommnissen zunächst ein Ende. Doch auch wenn Brasiliens Institutionen durch die Ereignisse nicht zum Fall kamen, sondern im Gegenteil ihre Bestandsfähigkeit bewiesen, so offenbarte sich doch auch, dass der Rechtsextremismus inzwischen tief in der brasilianischen Gesellschaft verankert ist. So ist es nicht verwunderlich, dass es nach wie vor vereinzelt zu politisch motivierten Ausschreitungen kommt, die die Regierung schnell und mit der Härte des Gesetzes zu unterbinden versucht. Unklar ist, ob es Lula mit seinem politisierten Diskurs gelingen wird und er daran interessiert ist, das stark polarisierte brasilianische Volk wieder zu einen und mit den entsprechenden Sektoren eine sachliche politische Debatte über die Herausforderungen und Handlungsmaxime im Sinne des Gemeinwohls trotz der ideologischen Differenzen zu führen. Dies betrifft nicht nur die Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft, sondern auch mit Parlamentariern und öffentliche Bediensteten, die das Wahlergebnis nicht anerkennen bzw. sich zu dem Teil der politischen Opposition zählen, die den Erfolg einer Regierung Lula um jeden Preis verhindern will.
Zwischen Regierungsfähigkeit, Prinzipientreue und Ideologie
Eine der zentralen Herausforderungen der Regierung Lula ist es, die Regierungsfähigkeit zu gewährleisten. Angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Kongress[2] ist Lula auf das Wohlwollen seiner Verbündeten sowie das der ideologiefreien Parlamentariergruppe Centrão angewiesen. So ist es nicht verwunderlich, dass sich zum Beispiel sein Kommunikationsminister Juscelino Filho (União Brasil) im Amt halten konnte, obwohl ihm vorgeworfen wird, mit einem Flugzeug der Luftwaffe eine Versteigerung von Rennpferden besucht und Reisekosten staatlich abgerechnet, den Besitz von reinrassigen Pferden in seiner Vermögenserklärung beim Obersten Wahlgerichtshof verschwiegen und als Parlamentarier den Zugang zu seinem Anwesen mit Steuergeldern asphaltiert zu haben. Angesichts des öffentlichen Drucks erklärte sich Minister Filho inzwischen zwar dazu bereit, die Reisekosten zu erstatten, sah jedoch aufgrund der Rückendeckung von Präsident Lula von einem Rücktritt ab. Jüngsten Medienberichten zufolge soll er zudem als Abgeordneter seinen Privatpilot und den Geschäftsführer seines Gestüts angestellt haben. Dies verstößt gegen die parlamentarische Vorschrift, leitende oder Verwaltungsangestellte der Privatwirtschaft zu Kabinettsmitgliedern zu ernennen.[3] Die Nichtregierungsorganisation Transparency International berichtet zudem über weitere Fälle von Geldveruntreuung. So soll die Tourismusministerin Daniela Carneiro (União Brasil) öffentliche Mittel für ihre Wahlkampagne eingesetzt haben und zudem mit der Miliz in Rio de Janeiro verstrickt sein. Auch gegen den Minister für Integration und regionale Entwicklung Waldez Góes (Partido Democrático Trabalhista) wurde bereits wegen Betrugs bei öffentlichen Ausschreibungen und Unterschlagung ermittelt.[4] Das Priorisieren der Regierungsfähigkeit trotz der ethisch fragwürdigen Hintergründe einiger Kabinettsmitglieder könnte weitere Ausrutscher von Regierungsvertretern begünstigen. Folglich wird den Medien und der Zivilgesellschaft eine zentrale Rolle bei der Offenlegung von Unregelmäßigkeiten zukommen.
Mit Blick auf die versprochene Gleichstellung von Männern und Frauen ist festzuhalten, dass anlässlich des Weltfrauentags am 8. März ein Maßnahmenpaket bekanntgegeben wurde, demzufolge Unternehmen bestraft werden, sollten sie Angestellte aus geschlechterspezifischen Gründen ungleich vergüten. Derzeit verdienen Frauen durchschnittlich rund 78 Prozent weniger als Männer in Brasilien.[5] Weiterhin beabsichtigt die Regierung, härter gegen häusliche Gewalt vorzugehen und den Zugang der Frauen zur Wissenschaft und zu Krediten zu fördern. Trotz der lobenswerten Ankündigungen halten sich Lulas Bemühungen, ein ausgewogenes Kabinett anzuführen in Grenzen: Lediglich 11 der 37 Ministerien werden von Frauen geleitet. Von Parität kann folglich keine Rede sein. Auch der Umgang mit Lulas wichtigster politischen Verbündeter vor der Stichwahl, der ehemaligen Präsidentschaftskandidatin und Senatorin Simone Tebet (Movimento Democrático Brasileiro, MDB), war alles andere als fair. So hatte sie sich für den Posten der Bildungsministerin oder Ministerin für soziale Sicherheit interessiert. Stattdessen wurde hier den der PT ideologisch nahehestehenden Kandidaten der Vortritt gelassen und Tebet mit dem Planungsministerium abgespeist, In dieser Funktion ist ihre Gestaltungsmacht sehr eingeschränkt, da sie sich eng mit dem PT-geleiteten Finanzministerium abstimmen muss. Hinzu kommt, dass die Neuschaffung von 14 Ministerien im Vergleich zur Regierung Bolsonaro die öffentliche Verwaltung, die ohnehin mit großen Haushaltsdefiziten zu kämpfen hat, noch bürokratischer und kostspieliger gestaltet. Es ist daher fragwürdig, ob – abgesehen von den erforderlichen Mehrheitsverhältnissen im Kongress für Gesetzespakete – überhaupt genügend Ressourcen zur Verfügung stehen werden, um die ambitionierten Regierungsvorhaben in diversen Politikfeldern tatsächlich umzusetzen. Wohl in dem Wissen, dass eine weitere Amtszeit nicht ausreichend zum Meistern der dringenden Herausforderungen wie Armutsbekämpfung, einem besseren Zugang zu Bildung, Gesundheit und formeller Beschäftigung sein wird, stellte Lula bereits in Aussicht, nun doch bei der nächsten Präsidentschaftswahl 2026 zu kandidieren. Seine Partei PT bereitet sich derzeit darauf vor, bei den kommenden Kommunalwahlen 2024 wieder mehr Bürgermeister und Stadträte ins Amt zu befördern. Unterdessen engagiert sich Lulas Ehefrau, die Soziologin Rosângela Lula da Silva, kurz „Janja“, offiziell ehrenamtlich, aber mit großem Ehrgeiz, im Regierungspalast. Sie soll über die strategische Ausrichtung der Public Policies und deren Übereinstimmung mit den Regierungszielen berichten und dafür mit den verschiedenen Regierungsebenen und staatlichen Organen in Kontakt stehen, nicht jedoch Politikempfehlungen aussprechen oder ausführen dürfen. Bisher trat sie öffentlich bei Sitzungen zu Themen wie Kultur, Gewalt gegen Frauen und Ernährungssicherheit auf.[6] Vor dem Beginn der Regierungszeit hatte sie sich bereits aktiv in der Wahlkampagne sowie in der detaillierten Planung der Zeremonie zur Einführung von Präsident Lula eingebracht. Auch wenn ihr Auftreten in der Regierung und Partei umstritten ist, erfreut sich Janja Umfragen des Forschungsinstituts Quaest zufolge hohen Beliebtheitswerten. Es ist daher nicht auszuschließen, dass Janja selbst anstrebt, künftig für ein politisches Amt zu kandidieren.
Unklare Vorzeichen in der Wirtschaftspolitik
Entgegen der Erwartung, dass wirtschaftsliberale Regierungsmitglieder den Kurs der Lula-Administration auf einem freien und marktwirtschaftlichen Pfad halten würden, war eine von Lulas ersten Amtshandlungen die Verstaatlichung von Unternehmen. Dies hat einen bitteren Beigeschmack, da sich die Arbeiterpartei PT bereits in der Vergangenheit nachweislich an den Gewinnen des staatlichen Ölkonzerns Petrobras bereichert hatte. Aus diesem Grund wird befürchtet, dass es erneut zu Korruption in der Verwaltung der staatlichen Unternehmen kommen könnte. Darüber hinaus bereiten auch die Angriffe Lulas auf die Unabhängigkeit der Zentralbank, die sein Vorgänger durchgesetzt hatte, Sorge. Sollte die Exekutive mehr Einfluss auf die Zinspolitik der Zentralbank bekommen, könnte dies zu einer konjunkturbedingten Gefährdung der Preis- und Währungsstabilität wie in Brasiliens Nachbarland Argentinien führen. Das Vorhaben stößt unter wirtschaftsliberalen Ökonomen daher auf Widerstand, auch wenn der aktuelle Leitzins von einigen als zu hoch eingestuft wird. Mehr Konsens herrscht jedoch bezüglich der Notwendigkeit einer Steuerreform. Dem Senat liegt derzeit ein Vorschlag vor, demzufolge das aktuelle System vereinfacht werden soll. So soll durch die Einführung einer Güter- und Dienstleistungssteuer beispielsweise die Mehrfachbesteuerung von Wertschöpfungsketten und damit einhergehende künstliche Verteuerung von Konsumgütern verhindert werden. Zudem sollen die Zuständigkeiten und die Umverteilung der Steuereinnahmen auf den verschiedenen Regierungsebenen neugeregelt werden. Ebenso soll durch den Erlass einer selektiven Steuer der Konsum von Gütern und Dienstleistungen wie Tabak, Alkohol, aber auch Benzin, Strom und Motoren verringert werden.[7] Weiterhin beabsichtigt die Regierung, Brasilien zu „reindustrialisieren“ und internationale wettbewerbsfähiger zu werden. Dafür sind jedoch Investitionen in Infrastruktur, Bildung, Energieversorgung sowie Transport notwendig. Angesichts der mangelnden staatlichen Förderung sowie der hohen Risikoraten des Landes, herrschen in diesem Bereich große Defizite vor. Öffentlich-private Initiativen und Kredite von internationalen Entwicklungsbanken sollen hierbei Abhilfe schaffen. Dabei profilieren sich China und die Entwicklungsbank der BRICS als einer der wichtigsten Geldgeber, aber auch Lateinamerika und Europa werden bei der Finanzierungsfrage in Betracht gezogen. Um die strategische Partnerschaft mit Brasilien zu pflegen und auszubauen, sollte sich Europa nach wie vor auch finanziell in dem südamerikanischen Land engagieren, zum Beispiel im Bereich der erneuerbaren Energiegewinnung, aber auch beim Ausbau des Zugnetzes und der Häfen, bei gemeinsamen Forschungsprojekten und beim Fachkräfteaustausch.
Interessenskonflikte bei Umweltschutz und Klimapolitik
Lula gilt in der internationalen Politik als Hoffnungsträger, was die Bekämpfung der illegalen Abholzung des Regenwalds und Herstellung der Klimaneutralität anbelangt. Als Vertrauensvorschuss wurde der Amazonas-Schutz-Fond unmittelbar nach seinem Amtsantritt wieder ins Leben berufen und um Geldgeber erweitert. Dieser hat zum Ziel, die Wiederaufforstung des brasilianischen Regenwalds zu fördern und zukünftige Abholzung und Landraub zu vermeiden. Stattdessen soll die Biodiversität erhalten und die globale Erderwärmung bekämpft werden. Wie das geschehen soll, möchte die brasilianische Regierung unter Berufung auf die Souveränität im eigenen Land allerdings selbst bestimmen. Die illegale Abholzung hatte unter Lulas Vorgänger Bolsonaro aufgrund mangelnder Kontrollen bisher unbekannte Ausmaße angenommen. Zudem wurde unmittelbar nach Lulas Amtsantritt ein Korruptionsnetz bei der Gesundheitsversorgung indigener Völker wie den Yanomami aufgedeckt. In deren Territorium waren dringend erforderliche staatliche Medikamente und Impfstoffe niemals an ihrem Ziel angekommen, sondern stattdessen von illegalen Goldgräbern verbraucht worden. Deren ungebremste Tätigkeiten hatten zudem das Ökosystem im Regenwald in ein derartiges Ungleichgewicht gebracht, dass die Existenzgrundlage der Indigenen bedroht und sie unter Unterernährung und Krankheiten infolge der Umweltverschmutzung durch den unkontrollierten Abbau von Rohstoffen leiden. Die amtierende Regierung veranlasste inzwischen umfassende Hilfsmaßnahmen, um diesen Missstand zu bekämpfen. Angesichts des Einflusses der Agrarlobby im Kongress bleibt allerdings abzuwarten, ob es Lula wirklich gelingen wird und er bereit ist, die notwendige Kraft aufzubringen, um die Abholzung des Regenwalds und Umweltzerstörung anderer Ökosysteme mittel- und langfristig zu bekämpfen. Von dieser profitieren nämlich vor allem die einflussreichen Agroindustriellen, die Monokulturen wie Soja anbauen und exportieren bzw. die abgeholzten Flächen als Weideland für Vieh nutzen weswegen sie ein geringes Interesse an Umweltauflagen oder gar einer Neuorientierung ihrer Geschäftstätigkeiten haben werden. Auch die Absicht, die brasilianische Wirtschaft bis 2050 klimaneutral zu gestalten, ist sehr ambitioniert und steht im Kontrast zu dem Vorhaben, die Industrie im Land zu stärken und auszuweiten. Es bleibt zu hoffen, dass die neuen Wertschöpfungsketten wirklich unter der Berücksichtigung sozial-ökologischer Aspekte umgesetzt werden. Dass solche Versprechen mit Vorsicht genossen werden sollten, zeigt nicht zuletzt die Versenkung des asbestbelasteten Flugzeugträgers vor der brasilianischen Küste. Die Aktion erweckt den Anschein, dass – trotz der Bemühungen der engagierten Zivilgesellschaft und Umweltministerin Marina Silva (REDE) - weiterhin Pragmatismus und politisches Kalkül bei den Regierungsentscheidungen vorherrscht.
Ambivalente Außenpolitik
In der Außenpolitik begeht Lula eine Gratwanderung zwischen politischen Partnern, die unterschiedlicher nicht sein könnten. So will er es sich weder mit westlichen Demokratien wie den USA oder der EU, noch mit wichtigen Handelspartnern wie Russland, China oder dem Iran verscherzen. Infolgedessen schließt sich Brasilien weder Sanktionen gegen autoritäre Regime an, noch bezieht es Position in internationalen Konflikten. Stattdessen ruft das Land zu Friedensverhandlungen auf, setzt auf diplomatischen Dialog statt internationaler Abschottung und unterhält Handels- und Wirtschaftsbeziehungen unabhängig von der Menschenrechtslage oder politischen Ausrichtung der amtierenden Regierungen. So ist auch zu erklären, dass iranische Kriegsschiffe entgegen der Empfehlung der USA am Hafen von Rio de Janeiro anlegen durften, Vertreter des Außenministeriums Gespräche mit der Regierung des Diktators Nicolás Maduro in Venezuela führen und Staatspräsident Lula der Volksrepublik China und den Vereinten Arabischen Emiraten höchstpersönlich einen Besuch abstatten möchte. China ist Brasiliens wichtigster Handelspartner und einer der bedeutendsten Investoren. Auch wenn Brasilien unter Lula „wieder zurück“ auf dem internationalen Pakett ist und sich stärker in internationalen Foren wie den Vereinten Nationen, aber auch wieder in der Gemeinschaft Lateinamerikanischer und Karibischer Staaten (CELAC) engagiert, so stimmen die Zielvorstellungen des Landes nicht zwingend mit denen westlich-demokratischer Regierungen überein, sondern sind vor allem von nationalem, aber auch ideologischen Interessen wie dem Stärken der politischen Linken und des globalen Südens geleitet. Es bleibt folglich abzuwarten, welche Akzente Brasilien 2024 als Ausrichter des G20-Gipfeltreffens setzen wird, inwieweit sich die brasilianische Präsidentschaft der Entwicklungsbank der BRICS-Staaten (Staatenbündnis bestehend aus Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) New Development Bank (NDB), deren Vorsitz gerade Lulas Amtsvorgängerin und Vertraute, Dilma Rousseff übernommen hat, auf den außenpolitischen Diskurs und die transatlantischen Beziehungen auswirken wird, auch mit Blick auf die Erfolgsaussichten des strategischen Assoziierungsabkommens zwischen der EU und dem südamerikanischen Wirtschaftsblock Mercosul. Zwar zeigt sich Lula dem Vorhaben gegenüber inzwischen positiver gestimmt, obwohl er Zweifel an der Handhabung der staatlichen Auftragsvergabe und des geistlichen Eigentums geäußert hatte. Der Widerstand argentinischer Industrieller, Umweltschützer aus den Niederlanden und Landwirten aus Frankreich wirft jedoch einen Schatten über die Hoffnung auf eine baldige Umsetzung des 2019 unterzeichneten Abkommens. Mit Inkrafttreten des Vertrags würde die größte Freihandelszone der Welt geschaffen und ein Zeichen für multilaterale Zusammenarbeit gesetzt werden. Mehr als 780 Millionen Bürgerinnen und Bürgern würden von der schrittweisen Abschaffung von 91 Prozent der Zölle sowie Übereinkünfte in anderen Politikbereichen profitieren. Nicht zuletzt in den Bereichen Ernährungs-, Energie- und Rohstoffsicherheit, aber auch im Bereich des Wissens- und Fachkräfteaustauschs, Digitalisierung, Finanzdienstleistungen und Forschung herrschen enorme Kooperationspotentiale zwischen den beiden Regionen. Trotz des steigenden Interesses der Regierung an dem Abkommen ist ein baldiger Staatsbesuch Lulas in Europa nicht zu erwarten, da das Gebot der Nichteinmischung in den Ukraine-Krieg überwiegt und die Handelsbeziehungen zu den Russland wohlgesonnen Ländern und wichtigen Investoren in Brasilien nicht beeinträchtigt werden sollen.
Bilanz
In den ersten Wochen der Regierung Lula überschlugen sich die Ereignisse. Neben den Ausschreitungen von Rechtsextremisten am 8. Januar, die strafrechtlich geahndet und von der Mehrheit in Politik und Gesellschaft scharf verurteilt wurden, musste Lula gleich zu Beginn seiner dritten Amtszeit humanitäre Krisen meistern, bilaterale Beziehungen wiederaufbauen und folgenschwere Entscheidungen in verschiedenen Politikbereichen treffen, die wegweisend für den Erfolg und Misserfolg der neuen Regierung sein werden. Pragmatismus und Ideologie ziehen sich dabei wie ein roter Faden durch die ersten drei Monate seiner Administration. Auch das Gespenst der Korruption ließ nicht lange auf sich warten. Ob Lula tatsächlich seine ambitionierten Versprechen zur Zufriedenheit der Interessensgruppen erfüllen kann und möchte, bleibt abzuwarten. Klar ist, dass Brasilien auch unter Lula sich selbst das nächste Land ist und Partnerschaften unter den Gesichtspunkten von Souveränität und nationalen Interessen betrachtet werden. Das hat sich Lula durch die Wiederaufnahme der „präsidentiellen Diplomatie“, bei der sich das Staatsoberhaupt persönlich für die Außenbeziehungen engagiert, und durch die Vereinheitlichung des außenpolitischen Diskurses seiner Regierung zur Chefsache gemacht. Es bleibt zu hoffen, dass sich der amtierende Präsident auch der Einigung des brasilianischen Volkes annimmt und dadurch den Weg für strukturelle Verbesserungen ebnet. In diesem Zusammenhang ist die Bekämpfung von Extremismus, aber auch des organisierten Verbrechens und der Milizen unabdingbar und nicht zuletzt die Kooperations- und Dialogbereitschaft der Rechten sowie der Sicherheits-, Streitkräfte und der Justiz entscheidend. Die Kommunalwahlen 2024 werden Aufschluss darüber geben, inwieweit die Polarisierung in den kommenden Wochen und Monaten abgeschwächt, die innere Sicherheit verbessert und die Regierungsfähigkeit aufrechterhalten werden kann. Bis dahin gilt es, die aktuellen Entwicklungen zu beobachten, Tendenzen zu erkennen und die Wahlversprechen regelmäßig auf den Prüfstand zu stellen. Angesichts der Größe und Vielfalt der Regierungsallianz, den schwierigen Mehrheitsverhältnissen und Haushaltsbegrenzungen sind Kehrtwendungen und Konflikte nicht auszuschließen.
[4] cnnbrasil.com.br/economia/diferenca-salarial-entre-homens-e-mulheres-vai-a-22-diz-ibge/
[5] folha.uol.com.br/poder/2023/03/janja-tera-cargo-oficial-sem-remuneracao-no-governo-lula.shtml