Veranstaltungsberichte
Ralf Altenhof, Leiter des Politischen Bildungsforums Bremen, verschaffte den Gästen einen Überblick über das Leben Karl Carstens´ (1914-1992). Der Sohn eines im Ersten Weltkrieg gefallenen Studienrates studierte Jura in Frankfurt, Dijon, München, Königsberg und Hamburg. Lange Jahre war er unter Bürgermeister Wilhelm Kaisen in Bremen, im Auswärtigen Amt, Verteidigungsministerium und Bundeskanzleramt tätig, ehe er 1972 als Abgeordneter für die CDU-Fraktion in den Bundestag gewählt wurde. Ab 1973 war Carstens Fraktionsvorsitzender der CDU im Bundestag. Von 1976 bis 1979 bekleidete er das Amt des Bundestagspräsidenten. 1979 wurde Karl Carstens schließlich zum fünften Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland gewählt. „Dieser bedeutende Repräsentant der Christdemokratie“ erführe trotz seiner herausragenden Ämter kaum Würdigung in seiner Heimatstadt, konstatierte Altenhof. Bezeichnendes Beispiel hierfür sei die Eröffnung der „Karl-Carstens-Brücke“ im Jahr 1999, bei der im Beisein seiner Witwe Carstens´ Name falsch geschrieben worden war. Die „Karl-Carstens-Brücke“, im Volksmund auch „Erdbeerbrücke“ genannt, komme in der medialen Berichterstattung kaum vor. So wurde der Name „Erdbeerbrücke“ in den Jahren 2014 bis 2017 deutlich häufiger im Weser Kurier und den Bremer Nachrichten erwähnt als der offizielle Name der Brücke. Dieser Umstand sei dem Andenken Karl Carstens´, dem „großen Sohn der Stadt“, nicht würdig, so Altenhof. Als Gemeinsamkeit zwischen Karl Carstens und Norbert Lammert hob er hervor, dass beide die einzigen Bundestagspräsidenten in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland waren, die ihr Amt freiwillig niederlegten.
Gerne sei er nach Bremen gekommen, schließlich wäre der Plenarsaal der Bremischen Bürgerschaft einer der wenigen Deutschlands, in denen er noch nicht gesprochen habe, erklärte Norbert Lammert. Es sei verwunderlich, dass die eigene Heimatstadt Karl Carstens nicht als den „Modellhanseaten“ ehre, wie der Rest der Bundesrepublik. Er selbst habe Karl Carstens leider nicht mehr als Bundestagspräsident erleben können. Dem Leitthema „Die Bedeutung der repräsentativen Demokratie“ folgend, verwies der Bundestagspräsident a.D. auf die aktuelle Legitimationskrise parlamentarischer Entscheidungen. Die Repräsentativität von Parlamenten werde zunehmend hinterfragt und der Wunsch nach „Modernisierung“ durch plebiszitäre Strukturen präge sich mehr und mehr innerhalb der Gesellschaft aus. Doch seien Plebiszite nicht die Lösung des Repräsentativitätsproblems von Parlamentsentscheidungen, erklärte Lammert. Während auf der Länderebene durchgehend direktdemokratische Strukturen vorhanden seien, die dem wachsenden Partizipationsbedürfnis der Bürgerinnen und Bürger Ausdruck verliehen, herrsche auf Bundesebene „plebiszitäre Abstinenz“. Für Lammert selbst sei dies unproblematisch, denn die Befürworter direktdemokratischer Instrumente auf Bundesebene hätten zwar „gutgemeinte, aber nicht hinreichend durchdachte“ Argumente. Der Grundsatz parlamentarischer Verfassungen, „Alle Macht geht vom Volke aus“, bedeute nicht, dass Durchsetzen eines Volkswillen, denn diesen gäbe es nicht. Ein einheitlicher Wille des Volkes sei in keinem politischen Sachverhalt identifizierbar, konstatierte der ehemalige Bundestagspräsident. Dies verdeutlichte er am Beispiel der Steuerpolitik: Wenn das Volk entscheide, ob Steuern gezahlt werden und wer wie viele zahlen solle, so sei ein einheitlicher Volkswille utopisch. „Wer sich Volksvertreter nennt und den vermeintlichen Volkswillen gegen die demokratischen Strukturen ausspielt, hat das System nicht verstanden“, erklärte Lammert. Die meisten aller Volksinitiativen auf kommunaler Ebene seien aufgrund von mangelnder Beteiligung nicht zustande gekommen. Der Partizipationswunsch der Bürgerinnen und Bürger sei zwar zunehmend ausgeprägter, allerdings beschränke sich die Beteiligungsbereitschaft auf ein Minimum. Dies seien zumeist diejenigen, die ein bestimmtes Interesse an dem abzustimmenden Sachverhalt verfolgen. „Parlamente gewährleisten, dass alle über alles abstimmen“, betonte der ehemals „zweite Mann im Staate“. So sei sichergestellt, dass legitimierte Repräsentanten „nach bestem Wissen und Gewissen“ Sachverhalte verhandelten und nicht etwa bestimmte Interessengruppen. Mit Blick auf den Brexit nannte Lammert einen zentralen Vorteil der repräsentativen Demokratie: „Parlamentarische Entscheidungen können in vergleichsweise relativ geringer Zeit umgekehrt werden. Plebiszite nicht.“ Zudem sei bei Volksentscheiden niemand verantwortlich für die teils schwerwiegenden Folgen. Im Parlament hingegen sind die Verursacher von Entscheidungen identifizierbar. Direktdemokratische Instrumente seien „mit Vorsicht zu genießen“ und stellten nicht den „erhofften Befreiungsschlag“ von vermeintlich überholten politischen Strukturen dar. Mit einem Zitat des deutschen Philosophen Karl Jaspers verwies Lammert abschließend auf das Dilemma demokratischer Systeme: „Die Demokratie setzt die Vernunft des Volkes voraus, die sie erst hervorbringen soll.“
Im anschließenden Gespräch mit der Moderatorin Martina Fietz erklärte Norbert Lammert, dass es der deutschen Demokratie so gut gehe wie noch nie. Aufgrund eines „gemeinsamen Bewusstseins“ müsse man keine Grundsatzdiskussionen mehr führen. Dies jedoch bedeute gleichzeitig eine sinkende Vitalität des demokratischen Prozesses. Diese Entwicklung bestärke innerhalb der Bevölkerung das Gefühl mangelnder politischer Debatten und exklusive Entscheidungsfindung hinter verschlossenen Türen. Hieraus entwickle sich eine zunehmende Skepsis gegenüber der Repräsentativität unseres Parlamentes sowie ein stetig anwachsender Partizipationswunsch.
Zum Abschluss der 2. „Karl-Carstens-Rede“ bedankte sich Ralf Altenhof bei dem ehemaligen Bundestagspräsidenten und den Gästen. Er kündigte an, dass die 3. „Karl-Carstens-Rede“ 2018 mit Friedrich Merz zum Thema „Die transatlantischen Beziehungen heute“ stattfinden wird. Anschließend lud er die Anwesenden zum Empfang in den Festsaal der Bremischen Bürgerschaft ein.