Die Konrad-Adenauer-Stiftung Bremen (KAS) lud zu einer Veranstaltung mit dem Titel: „Raus aus dem Niedergangsdiskurs in der Sozialstaatsdebatte“ ein.
Als Referent konnte Prof. Dr. Georg Cremer gewonnen werden. Prof. Dr. Cremer war bis 2017 Generalsekretär des Deutschen Caritasverbandes, ist seit 1999 außerplanmäßiger Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Freiburg und Autor der Bücher „Armut in Deutschland“ und „Deutschland ist gerechter als wir meinen. Eine Bestandsaufnahme“.
Moderiert wurde die Veranstaltung von Klaus Wolschner, bis 2017 Redakteur der tageszeitung und seit 2007 u. a. Lehrbeauftragter für Mediengeschichte an der Universität Bremen.
Er referierte vor rd. 100 Gästen, die in das Politische Bildungsforum Bremen gekommen waren, über den deutschen Sozialstaat, der oft kritisiert wird. Prof. Dr. Cremer vertrat dabei die Ansicht, dass das, was der Sozialstaat in Deutschland leistet, systematisch schlecht geredet wird und eine realistischere Bestandsaufnahme ein positiveres Bild zeichnen würde.
Ralf Altenhof, Leiter der KAS Bremen, führte in die Veranstaltung ein und stellte den Referenten sowie den Moderator kurz vor. Er erläuterte, dass es Deutschland so gut wie nie gehe und ein Drittel der Wirtschaftsleistung für Soziales verwendet werde. Trotzdem wird Kritik am Sozialstaat geübt. Er wird oft als wirkungslos bewertet oder es werden überhöhte Ansprüche an ihn gestellt.
Zum Einstieg in die Veranstaltung stellte der Moderator anhand eines Gleichnisses die Frage, „Was ist Gerechtigkeit?“. Der Referent gab zu, dass die Definition von Gerechtigkeit komplex ist, die Menschen aber in der Regel ein Gefühl dafür haben, was gerecht ist, und man unterscheiden muss zwischen Verteilungsgerechtigkeit und Leistungsgerechtigkeit.
In seinem Vortag führte Cremer aus, dass er im aktuellen Diskurs über den Sozialstaat ein wachsendes Unbehagen verspüre. Er wies auf einige Fakten zur Sozialpolitik hin, die kaum zur Kenntnis genommen würden. So wurde die Pflegeversicherung eingeführt, die Kinder- und Jugendhilfe intensiviert, das Elterngeld eingeführt, die Kitas ausgebaut, die Behindertenhilfe verbessert und den Langzeitarbeitslosen mit einem Vier-Milliarden-Euro-Programm für soziale Beschäftigung eine Perspektive gegeben. Außerdem wurden der Mindestlohn und die Mütterrente politisch durchgesetzt.
Trotzdem wird der deutsche Sozialstaat kritisiert wegen seiner vermeintlichen sozialen Kälte, der wachsenden Ungleichheit und dem zunehmenden Sozialabbau. So spricht etwa der Paritätische Wohlfahrtsverband von einem neoliberalen Sozialabbau. Christoph Butterwegge, Kandidat der Linkspartei für die Bundespräsidenten-Wahl 2017, behauptete, der Sozialversicherungsstaat werde mehr und mehr zu einem Fürsorge-, Almosen- und Suppenküchenstaat. Andere behaupten, es werde „kaputtgespart“, es herrsche ein „Spardiktat“.
Deshalb vertrat Cremer die Meinung, das, was der Sozialstaat in Deutschland leistet, wird systematisch schlecht geredet. Wenn weiterhin nur thematisiert wird, was alles sozial ungerecht ist, führt das in die falsche Richtung, denn der Niedergangsdiskurs in Deutschland lähmt und entmutigt. Nur darüber zu nörgeln, es werde alles immer schlimmer und desaströser, spiele nur den populistischen Kräften in die Hände. Diese Haltung verstärke die Ängste der Gesellschaft, hauptsächlich in der Mitte.
Zugleich wies Cremer darauf hin, dass der Sozialpolitik - selbst in einem reichen Land wie Deutschland - Grenzen gesetzt sind. Immerhin 950 Milliarden Euro, weit mehr als viele Menschen annehmen, zahlt der Staat insgesamt jedes Jahr für die Sozialpolitik. Davon entfallen 50 Milliarden Euro auf Transferleistungen. Das entspricht laut Cremer rd. 30 % der jährlichen Wirtschaftsleistung. Er betonte aber auch, dass die Finanzierungsfrage nicht banalisiert werden dürfe. Denn höhere Ausgaben kann der Staat nur leisten, wenn Arbeitnehmer und Arbeitgeber stärker belastet werden. Man kann nicht alles erhalten, was wünschenswert oder nützlich wäre, stellte er fest. Es müssen Prioritäten gesetzt werden, nicht alle können profitieren, denn die Mitte der Gesellschaft muss weiterhin bereit sein, sich solidarisch zu verhalten und den Sozialstaat zu tragen.
Abschließend bedankte sich Ralf Altenhof bei allen Beteiligten für ihr Interesse an der Sozialstaatsdebatte und stellt fest: Wenn wir den Sozialstaat erhalten wollen, müssen wir ihn mehr würdigen, dürfen ihn aber auch nicht überfordern.
Autor: Jochen Leinert