Länderberichte
Angst vor Armutseinwanderung
Der freie Zugang zum Arbeitsmarkt weckt allerdings in Deutschland bei vielen die Befürchtung, dass das europäische Recht auf Freizügigkeit vor allem von armen Menschen genutzt wird - dass es also vornehmlich zu einer Einwanderung in das Sozialsystem kommen werde. Die neue Freizügigkeit ändert allerdings nichts an der Rechtssituation im Bereich der Sozialhilfegesetze. Insofern besteht die Hoffnung, dass die Freizügigkeit für Arbeitnehmer keine deutlich stärkere Armutseinwanderung nach sich ziehen wird, sondern mehrheitlich eine in den Arbeitsmarkt.
Prognosen hinsichtlich einer Welle von Armutsmigranten gab es bereits 2011, als sich der deutsche Arbeitsmarkt für acht mittel- und osteuropäischen Staaten öffnete. Die Horrorszenarien erfüllten sich damals glücklicher Weise nicht.
Migration in den Arbeitsmarkt
Migration aus Bulgarien und Rumänien findet schon seit Jahren statt - in der Regel in den Arbeitsmarkt. Die Freizügigkeit für Akademiker, Sonderregelungen für Fach- sowie Saisonarbeiter sowie die von vorn herein geltende Dienstleistungsfreiheit für Selbständige (Gewerbeanmeldung) machen es möglich. Vor sieben Jahren lag die Zahl der Nettozuwanderung bei etwa 32.000 Menschen, sie stieg 2012 auf etwa 70.000. Momentan leben etwa 119.000 Bulgaren und 205.000 Rumänen in Deutschland. 55 Prozent hatten 2010 einen Hochschul- oder einen FH-Abschluss. Die Arbeitslosenquote lag mit 7,5 Prozent deutlich unter der der sonstigen Ausländer in Deutschland. Die totale Freizügigkeit bietet nun deutschen Unternehmen die Chance, mehr Arbeitnehmer einzustellen, wovon vor allem die Regionen mit Fachkräftemangel profitieren dürften.
Sozialleistungsbezug
Nach Auskunft der BfA waren knapp zehn Prozent der Bulgaren und Rumänen 2010 auf Sozialleistungen angewiesen, also etwas mehr als 30.000 Menschen. Die Einwanderung in die Sozialhilfe ist noch nicht stark ausgeprägt, sie zeigt aber eine deutlich steigende Tendenz. Es haben sich regionale Schwerpunkte von Armutsmigration in einigen deutschen Großstädten wie Mannheim, Dortmund oder Duisburg gebildet. Diese Problematik veranlasste den Deutschen Städtetag 2013, auf das Problem mit großer medialer Resonanz hinzuweisen, denn die betroffenen Kommunen fühlen sich allein gelassen und überfordert.
Aufenthaltsrecht
Nach EU-Recht dürfen EU-Bürger nach Deutschland (und in jedes andere Land der EU) frei einreisen und sich ohne Angabe von Gründen drei Monate dort aufhalten. Dieses Recht besitzen Rumänen und Bulgaren bereits seit dem Beitritt ihrer Heimatländer 2007. Die Freizügigkeit gilt nach drei Monaten allerdings nicht mehr uneingeschränkt. Aufenthaltsberechtigt sind dann nur noch Arbeitnehmer, Auszubildende/Studenten, Arbeitssuchende, Selbständige, entsandte Arbeitnehmer und solche mit genügend Finanzmitteln zum Bestreiten des Lebensunterhalts. Allerdings begründet ein Aufenthaltsrecht nicht automatisch ein Recht auf Sozialleistungen! Häufig melden sich deshalb Eingewanderte als Selbständige an, ohne tatsächlich einer Beschäftigung nachzugehen, um dann nach 90 Tagen weiter aufenthaltsberechtigt zu sein und Sozialhilfe beziehen zu können (Scheinselbständigkeit).
Ein Daueraufenthaltsrecht kann nach fünf Jahren legalem Aufenthalt erworben werden. Es berechtigt zum vollen Sozialleistungsbezug.
Recht auf Sozialhilfe. Kompliziert und widersprüchlich ist die Rechtslage in der Frage des Bezugs von Sozialleistungen, weil deutsches Recht anscheinend EU-Recht widerspricht. Innerhalb der ersten drei Monate des Aufenthalts besteht nach deutschem Recht kein Anspruch auf Sozialhilfe. Danach haben Arbeitnehmer und Selbständige die Möglichkeit, Sozialleistungen zu beantragen, Arbeitsuchende hingegen nicht. Vor dem Hintergrund des Gleichheitsgrundsatzes sieht das EU-Recht dies anders. Daher hat ganz aktuell (10. Januar) die EU-Kommission zentrale Punkte des deutschen Sozialrechts als mit EU-Recht nicht kompatibel kritisiert, wie die Süddeutsche Zeitung berichtet.
Zahlreiche Gerichtsentscheidungen spiegeln diese widersprüchliche Rechtslage in jüngster Zeit vor dem Hintergrund einer kleinen Klagewelle: Bundesweite Beachtung fand 2013 die Entscheidung des Landessozialgerichts Essen, das arbeitsuchenden Bulgaren den Zugang zu Sozialleistungen schon nach kurzer Aufenthaltsdauer durch einen Eilentscheid ermöglichte, im Herbst auch einer rumänischen Familie. Die Richter kassierten damit die Entscheidungen der vorhergehenden Instanzen. Die Praxis, eingewanderten Arbeitsuchenden keine Sozialhilfe zu gewähren, ist damit in Frage gestellt. Eine bindende höchstrichterliche Entscheidung steht aber noch aus: Das Bundessozialgericht hat in der Frage des Bezugs von Sozialleistungen noch nicht entschieden und sich an den EuGH gewandt.
Sollte sich die Rechtsauffassung des Sozialgerichts durchsetzen, kann der „Missbrauch“ von Sozialleistungen (der dann ja keiner mehr ist!) nur über eine restriktive Handhabung des Aufenthaltsrechts unterbunden werden. Das deutsche Büro der EU-Kommission weist darauf hin, dass es EU-Recht (Freizügigkeitsrichtlinie) zulässt, eine Aufenthaltsgenehmigung innerhalb der ersten fünf Jahre aufzuheben, wenn der Betroffene zu einer unverhältnismäßigen Belastung geworden ist. Ausweisung und Wiedereinreisesperren seien zulässig.
Andere Rechtsauffassungen binden diese restriktive Maßnahme der Abschiebung und das Einreiseverbot an Fälle von Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Zudem würden Einreisesperren dem Recht auf Freizügigkeit widersprechen. Hier bahnt sich folglich der nächste Rechtskonflikt an.
Zukünftige Entwicklung
Prognosen über die zu erwartende Zuwanderung sind schwierig zu erstellen. Entsprechend variieren die Schätzungen zwischen 30.000 und
180.000 Personen für dieses Jahr. Die meisten der neuen Zuwanderer dürften allerdings in den Arbeitsmarkt einwandern, weil die letzten Restriktionen für qualifizierte Fachkräfte nun aufgehoben sind.
Die Zuwanderung von qualifizierten Fachkräften ist aus arbeitsmarktpolitischer und aus demographischer Sicht für Deutschland eine existenzielle Frage.