Historisch befindet sich Bulgarien in einer geografischen und kulturellen Übergangszone zwischen Abend- und Morgenland mit einer für die Balkanhalbinsel typischen Polarisierung der öffentlichen Meinung. Eine wichtige Trennlinie ist seit jeher der Gegensetz zwischen „Russophilen“ und „Russophoben“. Aus geschichtlichen Gründen sind in Bulgarien prorussische Einstellungen verbreitet. Im Jahr 2022 fand dies seinen Ausdruck in den unterschiedlichen politischen und öffentlichen Reaktionen auf den am 24. Februar 2022 gestarteten Krieg Russlands auf die Ukraine.
Nach Beginn des Krieges waren in Bulgarien Diskussionen über die Entsendung von Rüstungsgütern in die Ukraine, die Bereitstellung von Unterkünften für Zehntausende ukrainischer Flüchtlinge sowie die allgemeine Klärung der politischen Position Bulgariens zu den Ereignissen in der Ukraine relevant.
In den ersten Tagen des Krieges kündigte Präsident Rumen Radew an, dass „Solidaritätsbemühungen erforderlich sind, um die Sicherheit der Bürger der Ukraine und insbesondere unserer historischen Diaspora zu gewährleisten“. Er meinte, dass Russland diesen Krieg gewinnen werde, es aber sehr schwierig für die russische Regierung sein würde, Frieden zu erreichen. Am 1. Mai, als russische Rückschläge offensichtlich wurden, gab es im bulgarischen Parlament eine intensive Debatte darüber, ob und welche militärtechnische Hilfe den ukrainischen Streitkräften gewährt werden sollte. Präsident Radew betonte, dass es „unsere patriotische Pflicht ist, die Beteiligung des Heimatlandes am Krieg nicht zuzulassen und den militaristischen Appellen nicht zu erliegen.“ Damit bestätigte er seine Position gegen Waffenlieferungen zur Unterstützung der Ukraine und gegen die Haltung des damaligen Ministerpräsidenten Kiryl Petkow, der Hilfe für die Ukraine befürwortete. Trotzdem genehmigte das Parlament im Dezember militärische Lieferungen an die Ukraine und das Staatsoberhaupt legte kein Veto dagegen ein. Er meinte, dass „die Kriegstreiber in der Volksversammlung die Entscheidung über die Militärhilfe der Ukraine mit überwältigender Mehrheit getroffen haben und das Übergangskabinett verpflichteten, ein entsprechendes Abkommen mit der Ukraine abzuschließen.“
Die Position Radews zu diesen Themen fand Unterstützung bei einigen Parteien im bulgarischen Parlament. Die Fraktion der Bulgarischen Sozialistischen Partei (BSP) ging sogar so weit, den Abgeordneten Jawor Boschankow auszuschließen, weil er für den Vorschlag, der Ukraine militärisch-technische Hilfe zu gewähren, gestimmt und geäußert hatte, dass Russland den Krieg nicht gewinnen würde.
Die andere politische Fraktion, die sich gegen Lieferungen von Rüstungsgütern in die Ukraine aussprach, war die nationalistische Wasraschdane (“Wiedergeburt”). Ihr Vorsitzender Kostadin Kostadinow erklärte, dass keine Patrone die ukrainische Frontlinie erreichen dürfe. Mitglieder von Wasraschdane waren seit Beginn der Invasion prorussisch aktiv: Sie schwenkten am bulgarischen Nationalfeiertag 3. März russische Flaggen und protestierten gegen Ministerpräsident Kiryl Petkow bei den Feierlichkeiten auf dem Schipka-Gipfel im Balkangebirge zum Andenken an den Befreiungskrieg 1877-78.
Auf der anderen Seite stehen Parteien wie GERB, „Demokratisches Bulgarien" (DB) und „Wir setzen den Wandel fort“ (PP), die das Vorgehen des Kremls verurteilen und sich mit der Ukraine solidarisieren. GERB-Vorsitzender Bojko Borissow sagte bei einem Treffen mit dem ukrainischen Botschafter am 16.3.2022: „Es ist unangenehm für mich, dass der Staatspräsident sich ambivalent äußert. Wir als Partei sind stark genug, um im Parlament Unterstützung für die Ukraine zu geben, damit eine Mehrheit dafür zustande kommt. Die EU und die demokratische Weltöffentlichkeit verurteilen absolut diesen Krieg.“ Atanas Atanassow, Vorsitzender der Partei „Demokraten für ein starkes Bulgarien“ (DSB), die Teil der Koalition DB ist, war bei einem Besuch einer bulgarischen Delegation am 28.4.2022 in Kiew entsetzt über das russische Vorgehen in der Ukraine. Er sei 100% sicher, dass das bulgarische Parlament, trotz aller Kontroversen, alles für die Unterstützung der Ukraine unternehmen werde.
Der renommierte bulgarische Politikwissenschaftler und Leiter des IRIS-Instituts Ognjan Mintschew kommentierte, dass die Ukraine gegen die Aggression des Kremls unterstützt werden müsse, andernfalls würden Moldawien, das Baltikum und Bulgarien die nächsten Opfer des wiederauferstandenen russischen Imperialismus sein.
Weitere prominente Personen, die Unterstützung für die Ukraine bekundeten, waren Ex-Staatspräsident Petar Stojanow und der ehemalige Ministerpräsident Iwan Kostow. Stojanow sagte, dass das nationale Interesse Bulgariens gerade darin liege, dass kein größeres Land mit seinen Panzern unter dem Vorwand des Schutzes einer nationalen Minderheit in ein kleineres Land einmarschieren dürfe - zu diesem Zweck gebe es völkerrechtliche Instrumente wie Konventionen und Verträge sowie internationale Organisationen wie die UNO. Iwan Kostow fügte hinzu, dass das Wichtigste für Bulgarien jetzt sei, die NATO-Integration zu vertiefen, die Armee zu modernisieren, dem Schengen-Raum beizutreten und die Euro-Währung einzuführen.
Laut einer Veröffentlichung in der „Welt” habe die Regierung von Kiryl Petkow (PP) zu Beginn der russischen Invasion massiv die ukrainische Armee mit Treibstoff und Waffen versorgt, was geradezu lebensrettend für die Ukraine gewesen sein soll. Dies soll stillschweigend über Drittländer erfolgt sein. Bulgarische Medien, Experten und Politiker interpretierten diese Publikation vor dem Hintergrund des aufkommenden Wahlkampfes. Experten wie der Politologe Rumen Kantschew und der Journalist Assen Genow lobten das Vorgehen der Regierung. Aus ihrer Sicht sei es noch nicht einmal erforderlich gewesen, die Lieferungen geheim zu halten. Hingegen fragte der sozialistische Abgeordnete Borislaw Gutzanow warum Kiryl Petkow noch nicht verhaftet worden sei, da er Waffenlieferungen ohne Billigung des Parlaments angeordnet habe.
Einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts „Trend” vom März 2022 zufolge waren über 60% der befragten Bulgaren der Ansicht, dass Russlands Angriff ungerechtfertigt ist und Bulgarien ukrainische Flüchtlinge aufnehmen sollte. Darüber hinaus haben 40% der Bulgaren ihre Position bezüglich der Russischen Föderation infolge der Invasion in eine negative Richtung geändert. Andererseits hielten jedoch fast 80% eine direkte Intervention der NATO auf Seiten der Ukraine für keine gute Idee.
Bemerkenswert ist, dass in den zuletzt häufigen Wahlkämpfen in Bulgarien der Ukraine-Krieg nicht direkt beherrschendes Thema war, wohl aber die Folgen für das Land, z.B. die gestiegenen Energiekosten und die explodierende Inflation. Die politischen Mehrheitsverhältnisse sind heute ganz klar auf der ukrainischen Seite und das Vorgehen Putins und des Kremls wird zunehmend kritischer betrachtet.
Äußerungen des Staatspräsidenten und des Verteidigungsministers in letzter Zeit haben allerdings gewisse Zweifel am konsequenten euroatlantischen Kurs Bulgariens aufkommen lassen. Radew sagte am 9. Februar in Brüssel: „Die Übergangsregierung hat die vom Parlament gestellte Aufgabe erfüllt, der Ukraine Waffen aus den Reserven der bulgarischen Armee zu überlassen. Ich hoffe, dass die Regierung in Zukunft Vernunft an den Tag legt, damit das nicht mehr zugelassen wird.“ Er drohte auch mit einem Veto auf europäischer Ebene, falls der Versuch gemacht werden sollte, Sanktionen gegen die russische Atomenergiewirtschaft zu verhängen.
Der Verteidigungsminister in der von Radew eingesetzten Übergangsregierung Dimitar Stojanow äußerte am 15. Februar, dass die Liste der Rüstungsgüter für die Ukraine „erfüllt ist“. Im Parlamentsbeschluss stehe, dass Bulgarien weiterhin der Ukraine Hilfe im Rahmen seiner Möglichkeiten erweisen solle. Im Moment seien die bulgarischen Möglichkeiten, wie sie seien, d.h. mehr sei nicht möglich.
DB, PP und der Vorsitzende von GERB Bojko Borissow kritisierten die Äußerungen von Radew, weil sie nicht im Einklang mit der gesamteuropäischen Politik gegenüber Russland stünden. DB sprach sogar von der Initiierung eines Amtsenthebungsverfahrens gegen Radew. Aufgebrachte Bürger protestierten am 10. Februar vor dem Präsidialamt in Sofia gegen den Staatspräsidenten unter der Losung „Wir sind Bulgarien, EU und NATO. Radew - raus!“.