Bulgarien und Rumänien blieben infolge des Einspruches der Niederlande und Österreichs im Europäischen Rat für Justiz und Inneres am 8. Dezember 2022 vorerst weiter außerhalb des Schengen-Raumes. Beide Länder bemühen sich seit ihrem Beitritt zur EU im Jahre 2007 um eine Aufnahme in die Schengen-Zone, die Bürgern weitgehende Reisefreiheit ohne Formalitäten ermöglicht. Nach Ansicht der EU-Kommission erfüllen sie seit Jahren die technischen Anforderungen für eine Mitgliedschaft.
Die Niederlande hatten keine Einwände gegen die Aufnahme Rumäniens, während Österreich sein Veto sowohl gegen den Beitritt Bulgariens als auch Rumäniens einlegte. Da jedoch über beide Länder nur im Paket abgestimmt wurde, lehnten die Niederlande auch einen rumänischen Beitritt ab. Die Niederlande führen als Hauptargument rechtsstaatliche Defizite in Bulgarien an, Österreich hingegen bemängelt die angeblich schwache Kontrolle an den EU-Außengrenzen, weswegen die meisten illegalen Migranten über Bulgarien und Rumänien nach Österreich gelangen würden.
Die führenden bulgarischen Politiker zeigten sich enttäuscht über diese Entscheidung und übten Kritik an den niederländischen und österreichischen Argumenten, hielten sich aber mit scharfen Äußerungen zurück. Auch die bulgarische Öffentlichkeit reagierte relativ beherrscht. In Internet-Foren wurde z.B. vielfach die Meinung vertreten, dass die Kritik an Bulgarien gerechtfertigt sei, weil der Zustand des Rechtsstaates tatsächlich zu wünschen übrig lasse. Nur vereinzelt wurden „Gegenmaßnahmen“ gegen die Niederlande und Österreich gefordert.
Der bulgarische Staatspräsident Rumen Radew sagte in einer ersten Reaktion im Rahmen einer Videokonferenzschaltung mit dem Präsidenten des Europäischen Rates Charles Michel am 12. Dezember, dass die Entscheidung, Bulgarien und Rumänien einen Schengen-Beitritt zu verweigern ungerecht sei und die europäischen Prinzipien der Solidarität und Einheit untergrabe. Es sei inakzeptabel, dass die Mitgliedschaft an Bedingungen wie das Funktionieren des Rechtsstaats geknüpft werde, die außerhalb der objektiven Kriterien für einen Beitritt stünden.
Der bulgarische Übergangs-Ministerpräsident Galab Donew hatte im Vorfeld der Sitzung des Europäischen Rates allgemein von eventuellen bulgarischen Gegenmaßnahmen im Falle der Nichtaufnahme gesprochen, dies aber später nicht mehr aufgegriffen. Er erklärte bei einer Anhörung am 9. Dezember im Parlament, dass der Aufschub der bulgarischen Mitgliedschaft unverdient und die Bedenken der Niederlande „gelinde gesagt, nicht überzeugend“ seien. Bulgarien erfülle die technischen Kriterien für Schengen seit 2011 und das sei den Ländern, die Bulgarien blockierten, bekannt. Sowohl die Regierung als Staatspräsident Rumen Radew hätten sich nachdrücklich um internationale Unterstützung bemüht, die Haltung der Niederlande und Österreichs sei aber unverändert ablehnend geblieben.
Die Eurokommissarin für Inneres Ilva Johanssen sprach vor dem Europäischen Parlament ihre tiefe Enttäuschung über die Nichtaufnahme Bulgariens und Rumäniens in Schengen aus. Es gebe in dieser Situation nur einen Gewinner und das sei der Kreml. Obwohl Dezember der Monat der Geschenke sei, sollte man Putin keine Geschenke machen.
Der Journalist Alexander Andreew schrieb in einem Kommentar für die bulgarische Redaktion der Deutschen Welle, dass hinter dem Veto der Niederlande und Österreichs vor allem innenpolitische Motive der jeweiligen Regierungen stünden. Allerdings habe Bulgarien zweifellos Schwächen: kaum Fortschritte bei der Justizreform, ein unzulänglich funktionierender Rechtsstaat, ein hohes Korruptionsniveau und ein unzureichender Schutz der europäischen Außengrenze.
Die Leiterin des Sofioter Büros der Europäischen Rates für Außenpolitik Wessela Tschernewa meinte in einem Interview, dass die bulgarische Öffentlichkeit Verständnis für die Haltung der Niederlande und Österreichs habe, weil der Kampf gegen die Korruption und die Ungerechtigkeiten auch für sie Priorität besitze. Die bulgarischen Politiker müssten deshalb die Entwicklung des Rechtsstaates zur vordringlichen Aufgabe machen, um das Vertrauensdefizit in das Land zu überwinden.
Der Experte für Innere Sicherheit Philip Gunew schrieb in einem Kommentar für die vielgelesene, seriöse Internet-Zeitung „Mediapool“, dass die Weigerung der Niederlande und Österreichs, Bulgarien in Schengen aufzunehmen, kaum etwas mit der Sorge um einen unzulänglichen Schutz der Grenze oder rechtsstaatlichen Defiziten zu tun habe. Es gebe in diesen Bereichen zwar Probleme in Bulgarien, sie seien aber nicht ausschlaggebend. Vielmehr gebe es in den Niederlanden und Österreich seit langem Vorurteile gegenüber Migranten aus Osteuropa und insbesondere dem Balkan und ein „Ja“ zur Mitgliedschaft Bulgariens und Rumäniens würde den Opponenten der jeweiligen Regierungen innenpolitische Munition liefern. Da man dies jedoch nicht direkt sagen könne, würden andere Gründe für die Blockadehaltung angeführt.
Österreich hat zumindest bisher keine konkreten Bedingungen für seine Zustimmung für den Beitritt Bulgariens und Rumäniens formuliert. Nach Worten des österreichischen Außenministers Alexander Schallenberg sei dies allerdings kein endgültiges Veto. Man wolle Aktionen sehen, dass sein Land mit der Migrationssituation nicht alleine sei.
Der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte hat in Aussicht gestellt, dass im Falle der Verbesserung der Rechtsstaatlichkeit in Bulgarien im kommenden Jahr erneut über den Beitritt des Landes abgestimmt werden könnte.
Der bulgarische Übergangs-Justizminister Krum Sarkow gab am 21. Dezember bekannt, dass es inzwischen eine klare Frist zur Aufnahme Bulgariens in Schengen bis Oktober 2023 gebe. Jetzt hänge alles von der Verabschiedung einiger Gesetze und Reformen in Zusammenhang mit der Rechtsstaatlichkeit ab.
Es gibt ansonsten keine Fristen für eine erneute Abstimmung und das Thema kann prinzipiell von der EU-Kommission und/oder der EU-Ratspräsidentschaft jederzeit wieder auf die Tagesordnung gesetzt werden.