Länderberichte
Allerdings ist es wenig wahrscheinlich, dass eine der Parteien sich dazu bereit finden wird. In diesem Fall löst der Präsident das Parlament auf und setzt eine Übergangsregierung ein, die Neuwahlen innerhalb von acht Wochen vorbereiten soll. Der Urnengang wäre dann voraussichtlich Ende April. Die Übergangsregierung soll dem Vernehmen nach eine überparteiliche Expertenregierung sein, die auch gesellschaftliche Kräfte einbindet. Insofern könnte es sein, dass die Demonstranten auf den Straßen sich in einer solchen Übergangsregierung vertreten sehen.
Die Proteste gehen derweil auch nach dem Rücktritt der Regierung weiter, zum Glück friedlicher. Die Forderungen richten sich nun vermehrt gegen die politische Klasse, gegen Nepotismus und Korruption, gegen alte kommunistische Kader in Politik und Verwaltung. Manche fordern eine neue Verfassung. Insofern ist es fraglich, ob Neuwahlen die Proteste beenden werden, denn das neue Kabinett wird, egal wie die Wahlen ausgehen, in den Augen der Demonstranten die alte politische Klasse widerspiegeln. Es ist aber fraglich, ob die „Straße“ einen so langen Atem haben wird, den Druck bis ins Frühjahr hinein aufrecht zu erhalten und ob sie einen Kopf finden wird, der als Sprecher die heterogenen Forderungen bündelt und ihnen ein Gesicht gibt. Momentan scheinen die Demonstranten zwar einig in dem, was sie nicht wollen, aber einen Konsens über das, was geändert werden soll, gibt es bislang nicht. Insofern werden die nächsten Tage, vielleicht auch Wochen, entscheiden, ob in Bulgarien eine kleine Revolution beginnt, oder ob die Proteste nur eine kurze Eruption von größter Unzufriedenheit waren.
Die Berichterstattung in ausländischen Medien vermittelt den Eindruck, dass die Situation in Bulgarien niemals schlechter war. Allerdings haben die Bulgaren schon bitterere Zeiten erlebt, als im Winter 1996/97 eine Hyperinflation und eine drohende Hungersnot viele Menschen an den Rand der Existenz brachten. Mit dieser Lage ist die heutige nicht vergleichbar. Aber das Wohlstandsversprechen vieler Regierungen wurde nicht erfüllt. Vor allem die Mittelklasse hat Angst vor einem Abrutschen in die Armut. Bulgarien hat unter der Regierung Borissov eine strikte Haushaltspolitik eingeführt, auch, weil das warnende Beispiel Griechenland vor der Haustür liegt und man aus „Europa“ viel Zuspruch bekam. So erfüllt Bulgarien spielend die Maastricht–Kriterien. Doch diese Finanzdisziplin ließ anscheinend keine sozialen Wohltaten zu. Sicher hat die Regierung die Folgen unterschätzt. Andererseits lag ihr Augenmerk auch eher auf der Erfüllung der Reformforderungen der EU nach dem beitritt im Jahr 2007. Der Überwachungsmechanismus der EU-Kommission und die Kritik in den halbjährlichen Berichten wurden von Borissov und Innenminister Zwetanov sehr ernst genommen. Bulgarien konnte sich daher 2012 auch erstmals von Rumänien, das denselben Kontrollen unterliegt, positiv absetzen. Das Land schien so, von außen betrachtet, ein Stabilitätsfaktor in der Region zu sein. Dabei geriet die soziale Lage im Land aus dem Blick oder die sprichwörtliche Geduld der Bulgaren wurde unterschätzt.