„Sie spielen in der gleichen Liga wie die Mafia“: So begründet Innenminister Herbert Reul, warum die Polizei in NRW den Kampf gegen kriminelle Familienclans zu einem strategischen Schwerpunkt gemacht hat. Mehr als 6.000 Straftaten von Mitgliedern aus über 100 kriminellen Großfamilien erfassten die Behörden im Jahr 2019 – und dabei geht es häufig um schwere Verbrechen wie Körperverletzung, Raub, Betrug oder den Handel mit Drogen.
Was tun die Behörden, um die Bevölkerung zu schützen – und das Problem, das viel zu lange viel zu wenig beachtet wurde, endlich zu lösen? Wie genau funktionieren die Strukturen in kriminellen Familienclans und welche Ermittlungserfolge konnte die Polizei gegen diese Form der organisierten Kriminalität erzielen?
Darüber sprachen wir in Folge 40 unserer digitalen Veranstaltungsreihe #KASkonkret mit Ingo Wünsch, dem Leiter des Landeskriminalamtes NRW. Als Erstes erklärte er die große Gefahr, die von dieser Tätergruppe ausgeht:
„Man ist da in einem sehr extremen Vertrauensverhältnis miteinander unterwegs“, sagte er. „Man kennt sich sehr intensiv, man hat große Abhängigkeiten zueinander.“ Als junger Mensch wachse man in eine solche Struktur hinein, weil es einem so vorgelebt werde. „Das macht diese Struktur aus unserer Sicht so gefährlich. Und das müssen wir unbedingt durchbrechen.“
Wie immer haben wir das Gespräch live auf unserem Facebook-Kanal übertragen, um möglichst vielen Menschen die Möglichkeit zu geben, mitzudiskutieren. Eine der ersten Fragen kam von Sven Hanses, der von dem LKA-Chef wissen wollte, ob der Begriff Clankriminaliät nicht ein rassistisches Konstrukt sei – und Sippenhaftung legitimiere. (siehe Screenshot oben)
Ingo Wünsch entgegnete: „Wenn Sie sich einem Problem annähern wollen, müssen Sie es bezeichnen, um es begreifen zu können. Wir sprechen ja auch von Rockerkriminalität. Aber nicht jeder Rocker ist kriminell.“ Grundsätzlich sei „eine der ganz großen Herausforderungen, die wir als Polizei haben: dass wir immer darauf bedacht sein müssen, dass wir uns um die kümmern, die kriminell sind. Und die Nicht-Kriminellen davor zu schützen, in die Kriminalität abzurutschen“. Wer drumherum rede und das Problem nicht greifbar bezeichne, werde keinen Erfolg haben.
Libanonkrieg 1982 als Ursache für Clankriminalität
Dass die Polizei den Druck gegen kriminelle Großfamilien erhöht, ist eine relativ neue Entwicklung. Die Ursache des Problems dagegen liegt schon lange zurück – und zeigt, dass es nicht nur ein polizeiliches, sondern auch ein gesellschaftliches Thema ist. „Der eigentliche Hintergrund ist, dass der Krieg im Libanon im jahr 1982 eine Flüchtlingswelle ausgelöst hat“, analysierte Ingo Wünsch. Viele der Flüchtlinge habe Deutschland damals aufgenommen, „was absolut richtig war“. Man müsse ich im Nachhinein aber die Frage stellen: Wie ist Integration gelungen? Wie ist Orientierung gelungen? Und wurden Perspektiven aufgezeigt?
Seine Antwort: „Das ist in der Zeit nicht gut gelungen. Deswegen haben sich Dinge verselbstständigt. Man hat in diesen abgeschotteten ethnischen Subkulturen in Teilen kriminelle Machenschaften entwickelt und diese verfestigt. Und das lösen Sie nicht einfach mit einem Schnipp innerhalb von ein oder zwei Jahren auf. Das ist ein langer Prozess. Da geht es darum, auch Menschen wieder zurück auf den richtigen Weg zu führen.“
„Wir müssen die Narrative der kriminellen Clans mithilfe von Vorbildern umkehren“
Diese Strukturen aufzubrechen ist eine riesige Herausforderung, weil man Menschen ja nicht so einfach aus einer Familie herausholen und in ein anderes soziales Umfeld versetzen kann. Deswegen setzt die Polizei NRW auf Vorbilder, die besonders glaubwürdig sind. Ingo Wünsch: „Wie können wir deutlich machen, dass der Spruch ,Nur ein richtiger Mann war schon mal im Knast‘ der falsche ist? Der Spruche müsste lauten: ,Wer im Knast ist, hat verloren!‘“
Man werde es nicht nur von außen schaffen, diese Narrative umzukehren. Es braucht auch „Protagonisten von innen“, die das begleiten. Konkret meint er Menschen, die sich bewusst aus ihrer Familie verabschiedet habem. „Die sagen: Ich war drin, habe mich gelöst und bin nicht mehr dabei.“ Der LKA-Chef zog Parallelen zum Rechtsextremismus und zum Salafismus. Auch da gebe es Menschen, „die gefangen waren, dann rauskamen und den anderen erklärt haben: Lass dir keinen Unsinn erzählen! Das ist Wahnsinn, was du vorhast. Das macht dein Leben nur kaputt! Du wirst nie eine Familie oder Kinder irgendwo sicher großziehen können. Du wirst deine Träume eigentlich nie leben können.“
Die Ermittlungsarbeit gegen kriminelle Familienclans läuft unter dem Schlagwort „Strategie der 1000 Nadelstiche“. Warum Razzien ein Teil davon sind und wie damit das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung erhöht wird, erklärte Ingo Wünsch so: Es gehe darum, den Clans „immer wieder zeigen, dass wir präsent sind. Und zwar in verschiedensten Rechtsbereichen: zum Beispiel Baurecht, Feuerrecht oder Schankrecht“. Außerdem erzielten die Behörden daraus sehr viele Erkenntnisse, „um darüber dann auch Hintermänner mit schwersten Straftaten zu erkennen, zu identifizieren, zu überführen und zu inhaftieren“.
„Mein Ehrenkodex ist das Grundgesetz“
Cedric Bierganns, Referent für Sicherheitspolitik im Bonner Büro der Konrad-Adenauer-Stiftung, bestärkt die Behörden in ihrem Vorgehen – denn am Ende gehe es dabei um die Grundwerte der Demokratie: „Dem allzu selbstgerechten Gehabe von Clanmitgliedern halte ich entgegen: Es gibt keine rechtsfreien Räume in Deutschland! Unsere unabhängige Justiz ist der einzige Schiedsrichter. Mein Ehrenkodex heißt Grundgesetz.“
Um die Clankriminalität langfristig in den Griff zu bekommen, seien drei Dinge wichtig:
„Erstens – eine stigmatisierungsfreie Diskussion. Zweitens – Präventionsprogramme, die das Hineinwachsen von besonders jungen Menschen in kriminelle Strukturen verhindern. Und drittens – am wichtigsten: konstanter Druck. Mit dem unsere Polizeien den Aktionsraum der Clans stetig verringern.“
Zum Ende des rund 40-minütigen Live-Gesprächs wurde Ingo Wünsch noch gefragt, was die in seinen Augen größte Herausforderung für die Zukunft ist, um das Problem der Clankriminalität endlich lösen zu können. Er betonte das Durchhaltevermögen: „Das ist kein Sprint, was wir hier machen. Das ist ein Marathon. Und damit meine ich nicht nur uns als Polizei. Auch die Gesellschaft braucht einen langen Atem um das, was über Jahre hinweg entstanden ist, wieder zurückzufahren. Das müssen wir politisch durchhalten. Das müssen wir kriminalpolizeifachlich durchhalten. Und das muss die Gesellschaft mittragen.“
Wir danken Herrn Wünsch für seine Zeit und wünschen ihm und seinen Kolleginnen und Kollegen weiterhin viel Erfolg. Am Dienstag um 18 Uhr begrüßt Sie Susanna Zdrzalek bei #KASkonkret, zu Gast hat sie dann Ronja Kemmer. Die CDU-Bundestagsabgeordnete ist Expertin für „Künstliche Intelligenz“ und wird über die Chancen und Risiken dieser neuen Technologie sprechen. Wir freuen uns sehr, wenn Sie wieder live dabei sind. Bis dann, wir sehen uns!