Das Jahr 2021 begann für Großbritannien mit einer Scheidung: Nach 48 Jahren hat sich das Land von der EU getrennt, es ist die größte geopolitische Veränderung seit dem Ende des britischen Empire. Was sind die Folgen für das Vereinigte Königreich – und was bedeutet der Brexit für die deutsch-britischen Beziehungen?
Darüber sprachen wir diese Woche bei unserer digitalen Veranstaltungsreihe #KASkonkret mit der Historikerin Helene von Bismarck. Sie ist Expertin für neuzeitliche britische Geschichte und wurde gerade zur „Visiting Research Fellow“ am renommierten King’s College in London ernannt.
„Wie das Ganze abgelaufen ist, ist dann doch erschütternd“, sagte die 39-Jährige. Letztendlich gebe es nun einen „sehr viel härteren Brexit als den, für den Boris Johnson 20016 Werbung gemacht hat während der Kampagne.“ Denn Großbritannien habe sich entschieden, aus dem gemeinsamen Markt auszuscheiden – und die Möglichkeit einer Zollunion abgelehnt.
„Ab jetzt wird alles gut, ab jetzt wird alles anders“
Wie konnte es soweit kommen? Helene von Bismarck verweist auf den Einfluss einer Gruppe innerhalb der konservativen Partei: Sie nennt sich „European Research Group“. „Diese Abgeordnete waren für den totalen Bruch mit der EU und haben auch den Premierminister vor sich her getrieben“, analysierte die Historikerin. Der sei dann „auf dieser Welle mitgeschwommen, um selbst an die Macht zu gelangen. Und so sind wir da angekommen, wo wir jetzt sind.“
Der britische Premierminister Boris Johnson hat zum Start ins neue Jahr gesagt: „This is an amazing moment for this country. We have the freedom in our hands.“ Die Verbindung des Brexit mit Worten Freiheit und der Souveränität sei „ein Branding durch den Premierminister“, betonte von Bismarck. Nach dem Motto: „Ab jetzt wird alles gut, jetzt wird alles anders.“
Boris Johnson stelle es gerne so dar, dass alles, was schief liefe in Großbritannien – gesellschaftlich und wirtschaftlich – allein daran liege, dass die Briten an die EU gefesselt waren. „Das ist natürlich Unsinn“, sagte die Hamburgerin, weil die Konservativen schon seit über zehn Jahren an der Regierung seien. „Die Idee, dass jemand anders Schuld hat, hält einer näheren Überprüfung nicht stand.“
Die aktuelle Stimmung in Großbritannien beschrieb Helene von Bismarck als eine Mischung aus Erleichterung und Erschöpfung. Gleichzeitig habe jedoch die Corona-Krise in Großbritannien mittlerweile solch ein Ausmaß erreicht, „dass viele gar keine Zeit und keine Nerven haben, über den Brexit nachzudenken“.
„Der Brexit könnte schlimmstenfalls zur Auflösung des Vereinigten Königreichs führen“
Die promovierte Historikerin hält viele Vorträge über das Verhältnis von Großbritannien zu Europa und hört dort immer wieder die Vermutung, dass die Briten in all den Jahrzehnten nie wirklich in die EU gepasst hätten – aus historischen Gründen: weil ihre Geschichte mit dem britischen Empire angeblich so grundlegend anders wäre als bei den anderen europäischen Staaten. Helene von Bismarck verneinte das und betonte stattdessen die Rolle des Zweiten Weltkriegs als Ursache für den Unterschied:
„Wenn man sich das mal anschaut, sind die allermeisten EU-Mitgliedsstaaten entweder besetzt gewesen oder waren Besatzer. Die demokratischen Institutionen wurden zerschlagen. Und diese ganze Erfahrung von Besetzung, Auflösung alter Ordnung und dann auch später Vertreibung – das ist eine universaleuropäische Erfahrung. Die haben die Briten nicht gemacht.“ Ihr Fazit: „Der Zweite Weltkrieg ist für die britische Haltung gegenüber Europa viel wichtiger als das Empire.“
Christian Koecke, Referent für politische Grundsatzfragen im Bonner Büro der KAS, beobachtete das auf Facebook übertragene Live-Gespräch und wies auf die Gefahr einer erneuten Spaltung als Folge des Brexit hin:
„Wir auf dem Kontinent haben nicht so im Blick, dass nicht nur die EU, sondern auch das Vereinigte Königreich eine Union verschiedener Nationen ist.“ Der jetzt vollzogene harte Bruch mit der Europäischen Union löse eine Dynamik aus, die schlimmstenfalls zur Auflösung des Vereinigten Königreichs führen könne. Schließlich hat Schottlands Erste Ministerin Nicola Sturgeon zum Start ins neue Jahr auf Twitter verkündet, dass sie die Verbindung zur EU unbedingt halten will.
Helene von Bismarck glaubt, dass dies „die große Frage für die kommenden fünf Jahre sei“, stellte aber auch klar: „Wenn die Schotten jetzt für ein weiteres Referendum stimmen, bräuchten sie trotzdem die Zustimmung aus Westminster, damit es legitim ist. Und es ist sehr unwahrscheinlich, dass der Premierminister das macht. Ich glaube nicht, dass wir da demnächst katalanische Verhältnisse haben.“ Allerdings denke sie schon, dass der Druck bleiben werde.
Zum Abschluss gab es von der Historikerin noch eine Prognose für die Zukunft der deutsch-britischen Beziehungen: Beide Seiten hätten „ein sehr starkes Interesse an einer starken bilateralen Beziehung“, sagte von Bismarck. Das sehe man allein daran, dass die Briten in Deutschland und anderen EU-Staaten ihre Botschaften und Konsulate verstärkt haben. „Aber ich denke auch, dass es bei aller Sympathie gewisse Grenzen gibt durch diese neue Situation. Bei wirtschaftlichen Fragen ist wenig zu machen, solange dieses Abkommen so hart ist. Weil wir als Deutsche nun mal unsere Wirtschaftstätigkeit über den gemeinsamen Markt abwickeln. Das ist unsere Priorität und wird sie auch bleiben.“
Es war ein intensives Gespräch mit vielen neuen Perspektiven auf das historische Ereignis. Kommende Woche spricht Susanna Zrdzalek bei #KASkonkret mit dem Historiker Sönke Neitzel über militärische Werte und die Rolle der Bundeswehr – wie immer am Dienstag um 18 Uhr live auf dem Facebook-Kanal der Konrad-Adenauer-Stiftung. Wir freuen uns, wenn Sie wieder dabei sind.